Das große Jagen. Ludwig Ganghofer

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Das große Jagen - Ludwig  Ganghofer


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den Schuppen, kletterten über den Zaun, wateten durch den schlammigen Ackerschnee und verschwanden hinter den Hecken.

      Simeon Lewitter blieb. Nicht gerne. Er nahm das Käppchen von seinem weißen Haar und täppelte zögernd dem ersten Schlitten entgegen. Sorge wühlte in ihm. Was er in dem kleinen Haus getan, das hatte er tun müssen aus Barmherzigkeit für den verstörten, von Grauen und Verzweiflung zerbrochenen Christl. Aber er fühlte: was er tun hatte müssen, konnte sich für ihn selbst in eine Gefahr verwandeln. »Wär ich nur schon daheim in meiner Kinderstub!« Da hielt der Schlitten des Fürsten. Der zweite Schlitten fuhr dicht an den ersten heran, weil Aurore de Neuenstein hören wollte und der Kanzler von Amtswegen hören mußte. Aus den zwei andern Schlitten sprangen die Domizellaren heraus und wateten lachend durch den Schnee. Lewitter verbeugte sich tief.

      »Simeon? Du?« Der Fürstbischof schmunzelte ein bißchen. »Ist das wahr? Daß die Haynacherin ein Kind geboren hat, halb weiß, halb schwarz?«

      Der kleine Mann schüttelte kummervoll den Kopf. »Es ist noch ärger, gnädigster Herr! Nur mit den Farben stimmt es. Das eine Kind ist weiß wie ein Rösl. Das andere ist schwarz – vom Brand.«

      Das letzte Wort überhörend, fragte der Fürst verwundert. »Zwei Kinder?«

      Lewitter nickte. Dann sagte er's in kurzen Worten: daß es mit der Haynacherin drei Wochen über die Zeit gewesen wäre. Seit vier Nächten hatte sie unter furchtbaren Wehen gelitten. Und vor einer Stunde gebar sie zwei Mädelchen, ganz natürlich entwickelt, mit allen Gliedmaßen, doch von der Schulter bis zur Hüfte aneinander gewachsen – das eine tot, schon erloschen unter dem Herzen der Mutter, während das andere nach der Geburt noch Spuren von Leben gezeigt, noch offene Augen und ein schlagendes Herz besessen hatte – Leben, unlösbar mit dem Tod verwachsen.

      »Quelle chose effroyable!« lispelte Aurore de Neuenstein erblassend und vergaß ihrer pariserischen Bildung. »Dees ischt ja doch nit zum glaube!« Und der Fürstpropst fragte erschrocken: »Gibt es das?«

      »Ein seltenes Ding!« sagte Lewitter mit schwankender Stimme. »Ich weiß nur noch von einem einzigen Fall. Er hat sich zu Regensburg ereignet, vor vierhundert Jahren. Ganz der gleiche Vorgang war es. Auch damals mußten Kinder und Mutter sterben.«

      Der Fürstpropst beugte sich vor. »Sterben? Auch die Mutter?«

      »Als ich das Haus verließ, begann sie zu erlöschen. Keine Hilfe mehr. Ich habe den Schmerz des Mannes nimmer sehen können. Drum bin ich gegangen. Der Mensch, wenn er hilflos ist, hat feige Stunden. Und was ich getan habe, das hat den Mann nicht getröstet.« Lewitters Blick war ängstlich. »Ich meinte, daß es ihn aufrichten würde in seinem Schmerz, wenn sein weißes Kindlein christlich würde, solange noch Leben in ihm war. Drum hab ich ihm die Nottaufe gegeben.«

      »Lewitter!« murrte Herr von Grusdorf erschrocken. »Wie konnte er sich verleiten lassen zu einer solchen Inkompetenz? Die causa des Leupolt Raurisser hätte ihn vorsichtiger machen sollen.« Auch der Fürstpropst schien unbehaglich berührt: »Simeon! Das hättest du besser unterlassen!«

      »Herr!« Immer ruhiger wurde Lewitter. »Das Erbarmen kann ein Riese werden, der uns zwingt.«

      »Mag sein! Aber –« Herr Anton Cajetan stieg aus dem Schlitten, und der Kanzler tat rasch das gleiche. »Warum hat nicht der Kindsvater das Kind getauft?«

      »Weil er die schwarzweiße Mißform seiner verlorenen Kinder nicht mehr ansehen konnte, ohne daß ihn der Kummer halb erwürgte. Und weil er immer wieder in die Kammer sprang zu seinem erlöschenden Weib.« Der Körper des kleinen Mannes streckte sich, und etwas Schönes war in seinem Blick. »Schon vielen Menschen hab ich beigestanden in ihrer letzten Stunde. Aber nie noch hab ich ein Menschenkind so voll Gottvertrauen versinken sehen, wie dieses arme, leidende Weib.«

      »Mais donc –« Herr Anton Cajetan wurde ungeduldig. »Warum hat nicht die Hebmutter die Nottaufe an der noch lebenden Hälfte exekutiert?«

      Den Grund – daß Christl sein Kind durch eine Unsichtbare nicht taufen ließ – wollte Lewitter nicht bekennen. Er sagte: »Die Frau war um das sterbende Weib beschäftigt.«

      Im Kanzler erwachte ein Verdacht. »War es, um methodisch vorzugehen, die Hebmutter des Marktes?«

      Jetzt gab es kein Verschweigen mehr. »Es war die Hasenknopfin von Unterstein.«

      Der Fürst und Herr von Grusdorf tauschten einen Blick. Anton Cajetan machte einen Schritt gegen das Haus hin, wandte das ernste Gesicht und sagte zu dem hübschen hechtgrauen Junker: »Mon cher Tigue! La Neuenstein désire fort d'être chez soi!« Bei der Vermutung, daß seine Freundin en titre sich einem nervenquälenden Anblick zu entziehen wünsche, hatte er nicht mit der Gruselsucht der holden Dame gerechnet. »Non, non, non,« sie schlüpfte hastig aus dem Schlitten, »je veux voir ça, moi! So ebbes Seltsames versäumt me doch nit.« Die Schultern zuckend, ging der Fürst auf die Haustür zu. Die anderen hinter ihm her. Simeon Lewitter blieb bei den leeren Schlitten stehen. Weil sich niemand um ihn kümmerte, wurde ihm die Entscheidung leicht. Nur erst daheim sein! Keuchend zappelte er durch den Schnee davon.

      Der Kanzler mußte mehrmals an der Haustür des Christl Haynacher pochen. Aus dem Innern des Hauses klang ein verzweiflungsvoller Laut, nicht wie menschliche Stimme, wie der Schrei eines Tieres. Den hatte der junge Bauer ausgestoßen, als er im Gesicht seiner Martle das blasse Sterben erkannte. Immer ungeduldiger pochte Herr von Grusdorf, und mehrmals beteuerte Aurore de Neuenstein, daß jeder Nerv in ihr vor Spannung und Erbarmen fiebere. Endlich öffnete die Hasenknopfin. Zitternd stand sie im Dunkel des Flurs. »Gelobt sei –« Weiter kam sie nicht, weil die hechtgraue Diana gleich die Frage zwitscherte: wo die unglaubliche Sache zu sehen wäre? Schweigend wies die Hasenknopfin zur Stube, neben deren Ofen das kleine Bübchen in seiner Wiege weinte, und deutete auf den Tisch, auf das weiße, dunkelgefleckte Leilach, das den neugeborenen Jammer des Christl Haynacher barmherzig verhüllte.

      In der kleinen Stube begann es grau zu werden. Draußen flimmerte wohl die Sonne noch auf dem schwindenden Schnee, doch über den Fenstern lag schon der Schatten des vorspringenden Daches.

      Mit beiden Händchen die steife Glocke ihres Dianenkleides zusammenpressend, schmiegte sich Aurore de Neuenstein durch die schmale Stubentür, den ovalen Rocktrichter flink voranschiebend. Das weinende Bübchen, als es diese seltsame Glocke mit den zwei weißen Spitzenschwengeln erscheinen sah, wurde stumm vor Schreck. Und während aus der Kammer das erwürgte Schluchzen des jungen Bauern zu hören war, trippelte die Neuenstein in der schaukelnden Kleidglocke dem Tisch entgegen, faßte mit den Fingerspitzen zu und hob einen Zipfel des Leilachs. Jähes Grauen rüttelte ihre feinen Schultern. »Mon dieu! Quelle chose affreuse!« Als hätte sie sich die behandschuhten Finger verbrannt, so hastig ließ sie den Leilachzipfel fallen, stieß einen zarten Schrei aus und bot den Anblick einer Dame, die in Ohnmacht zu fallen wünscht. »Eh bien, la voilà!« sagte Herr Anton Cajetan halb nachsichtig, halb ärgerlich. Er deutete auf die mit beiden Händchen Rudernde, die das Niederfallen auf den grauen Bretterboden noch verzögerte, und sagte zum Grafen Tige: »Remplissez donc votre devoir d'un bon camarade!« Der hübsche Junker mit den winzigen Bäffchen umschlang die pelzverbrämte Diana, wobei sie die Augen schloß und schlaffe Arme bekam.

      Unter Mithilfe des Domizellaren von Stutzing, der im Türschacht die Kleidglocke ovalisieren mußte, beförderte Graf Tige das edle Fräulein auf seinen Armen aus der Stube, aus dem Haus und über das Gehöft zum Schlitten. Eine zornscharfe Mädchenstimme – jene gleiche Stimme, die im Stall der Unsichtbaren geschrien hatte: »Schauet mein junges Brüstl an, so haben die Soldaten Gottes mich zugerichtet!« – diese zornscharfe Mädchenstimme schrillte hinter einer nahen Hecke: »Leut! Das bablische Laster zappelt drieköpfig in der Sonn umeinander! Tät's ein Wunder sein, wenn der Ewige dreinschlagt mit Zeichen und Ruten!« Stutzing und Tige waren so fürsorglich um die in der frischen Luft sehr rasch erwachende Diana beschäftigt, daß sie anderer Dinge nicht zu achten vermochten. Sie überhörten die schrillende Mädchenstimme. Und als sie das zierliche Persönchen im Schlitten und die winzigen Füßchen im Fußsack hatten, schwang Graf Tige sich opferfreudig an die Seite der Neuenstein und befahl dem Kutscher: »Schnell! Nach Haus!«

      Munter


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