Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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zum Fenster hinaus, in den Garten. Georg zeigte eine gelinde Entrüstung über ihre kühle Sachlichkeit, die sie auch in einer solchen Stunde nicht verließe. »Ja wahrhaftig!« sagte er, »wenn man so bedenkt – was das bedeutet, daß du hier bleibst und ich…«

      Sie sah ihn an. »Ich weiß, was es bedeutet«, sagte sie.

      Unwillkürlich wich er ihrem Blick aus, nahm ihre Hände, küßte sie, war innerlich aufgewühlt. Als er wieder aufblickte, sah er ihre Augen mütterlich auf sich ruhen. Und wie eine Mutter sprach sie ihm zu. Sie erklärte ihm, daß er gerade in Hinsicht auf die Zukunft – und es schwebte um dieses Wort kaum wie ein linder Hauch eigener Hoffnung – eine solche Gelegenheit nicht versäumen dürfe. In zwei oder drei Wochen konnte er ja von Detmold aus auf ein paar Tage wieder nach Wien zurückkommen. Denn das würden die Leute dort gewiß einsehen, daß er seine Angelegenheiten hier in Ordnung bringen müßte. Aber vor allem wäre es notwendig, ihnen einen Beweis seines ernsten Willens zu geben. Und wenn er auf ihren Rat etwas halte, so gäbe es nur eins: noch heute abends abzureisen. Um sie brauche er keine Sorge zu hegen, sie fühlte, daß sie außer jeder Gefahr sei, ganz untrüglich fühle sie das. Natürlich werde er täglich Nachricht haben, zweimal, wenn er wollte, früh und abends. Er gab nicht gleich nach, kam nochmals darauf zurück, daß das Unerwartete dieser Trennung ihn geradezu niederdrücken würde. Sie erwiderte, daß ihr ein solcher rascher Abschied viel lieber sei, als die Aussicht auf weitere vier Wochen in Bangen, Rührung und Abschiedsangst. Und das wesentliche bleibe doch immer: daß es sich um nicht viel mehr handle als ein halbes Jahr. Dann hatte man wieder ein halbes für sich, und wenn alles gut ginge, so standen vielleicht nicht mehr viele solcher Trennungszeiten bevor.

      Nun fing er wieder an: »Und was wirst du in diesem halben Jahr tun, während ich fort bin? Es ist doch…«

      Sie unterbrach ihn: »Vorläufig wird es schon so weitergehen, wie es eben jahrelang gegangen ist. Aber ich hab heute früh über vielerlei nachgedacht.«

      »Die Gesangschule?«

      »Auch das. Obzwar das natürlich nicht so leicht ist und nicht so einfach – und überdies«, setzte sie mit ihrem verschmitzten Gesicht hinzu, »es wäre doch schade, wenn man sie gar zu bald wieder zusperren müßte. Aber über all das werden wir nachher reden. Jetzt geh einmal telegraphieren.«

      »Ja was?« rief er so verzweifelt aus, daß sie lachen mußte. Dann sagte sie: »Sehr einfach. Werde morgen mittag die Ehre haben, mich in Ihrer Kanzlei einzufinden. Aller-, alleruntertänigst, oder ergebenst… oder allerhochmütigst…«

      Er sah sie an. Dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du bist entschieden die Gescheitere von uns zweien.« Sein Ton deutete an: auch die Kühlere, aber ein Blick von ihr, mild, zärtlich und etwas spöttisch, lehnte diesen Nebensinn ab.

      »Also in zehn Minuten bin ich wieder da.« Er verließ sie mit heiterer Stirn, trat ins Nebenzimmer und schloß die Türe. Gegenüber, hinter jener andern, jetzt fiel es ihm mit Macht wieder ein, – lag sein totes Kind im Sarg… denn das »Nötige«, wie gestern Doktor Stauber sich ausgedrückt hatte, war ja wohl schon besorgt worden. In einer wehen Sehnsucht krampfte sich sein Herz. Frau Golowski kam aus dem Vorzimmer. Sie trat auf ihn zu, sprach bewundernd von der Ergebenheit und der Gefaßtheit Annas. Georg hörte etwas zerstreut zu. Seine Blicke glitten immerfort über jene Türe hin, und endlich sagte er leise: »Ich möcht es doch noch einmal sehen.«

      Sie schaute ihn an, leicht erschrocken zuerst und dann mitleidig.

      »Schon zugenagelt?« fragte er angstvoll.

      »Schon fortgeschafft«, erwiderte Frau Golowski langsam.

      »Fortgeschafft?!« Sein Gesicht verzerrte sich mit einmal so peinvoll, daß die alte Frau wie beruhigend die Hände auf seinen Arm legte. »Ich war in aller Früh die Anmeldung machen«, sagte sie, »und das andre ist dann sehr schnell gegangen. Vor einer Stunde hat man’s abgeholt in die Totenkammer.«

      In die Totenkammer… Georg erbebte. Und er schwieg lange, verstört, wie wenn er eine völlig unerwartete grauenhafte Neuigkeit erfahren hatte. Als er wieder zu sich kam, fühlte er noch immer die freundliche Hand Frau Golowskis auf seinem Arm und sah ihren Blick aus übernächtigen, gütigen Augen auf seinem Antlitz ruhen.

      »Also erledigt«, sagte er, mit einem empörten Blick nach oben, als wär ihm jetzt erst die letzte Hoffnung tückisch geraubt. Dann reichte er Frau Golowski die Hand. »Und Sie haben alles das auf sich genommen, liebe gnädige Frau… Wahrhaftig ich weiß nicht… wie ich Ihnen das je…«

      Eine Bewegung der alten Frau wehrte jeden weitern Dank ab. Georg verließ das Haus, warf auf den kleinen, blauen Engel, der wie ängstlich zu den verblühten Beeten niederschaute, einen verächtlichen Blick und trat auf die Straße. Auf dem Weg zum Amt überlegte er angestrengt die Fassung des Telegramms, das seine Ankunft in dem Ort des neuen Berufs und der neuen Verheißung ankündigen sollte.

      Neuntes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Der alte Doktor Stauber und sein Sohn saßen beim schwarzen Kaffee. Der Alte hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und schien darin etwas zu suchen. »Der Termin für den Prozeß«, sagte er, »ist noch nicht festgesetzt.«

      »So«, erwiderte Berthold, »Leo Golowski glaubt, daß er Mitte November, also in etwa drei Wochen stattfinden wird. Therese hat ihren Bruder nämlich vor ein paar Tagen in der Haft besucht. Er soll vollkommen ruhig sein, geradezu gut aufgelegt.«

      »Nun wer weiß, vielleicht wird er freigesprochen«, sagte der Alte.

      »Das ist recht unwahrscheinlich, Vater. Er muß eher froh sein, daß er nicht wegen gemeinen Mords unter Anklage gestellt worden ist. Der Versuch dazu ist ja für alle Fälle gemacht worden.«

      »Das kann man doch keinen ernsthaften Versuch nennen, Berthold. Du siehst, daß sich die Staatsanwaltschaft um die alberne Verleumdung, auf die du anspielst, gar nicht gekümmert hat.«

      »Wenn sie es aber als Verleumdung erkannt hat«, entgegnete Berthold scharf, »so wäre sie verpflichtet gewesen, die Verleumder vor Gericht zu stellen. Im übrigen leben wir bekanntlich in einem Staat, wo ein Jude nicht davor sicher ist, wegen Ritualmords zum Tode verurteilt zu werden; warum sollten also die Behörden vor der offiziösen Annahme zurückscheuen, daß Juden sich bei Pistolenduellen gegen Christen – vielleicht aus religiösen Gründen – einen verbrecherischen Vorteil zu sichern wissen? Daß es der Behörde an dem guten Willen nicht gefehlt hat, auch diesmal der herrschenden Partei einen Dienst zu erweisen, das ist am besten daraus zu ersehen, daß die Untersuchungshaft nicht aufgehoben wurde, trotz der angebotenen hohen Kaution.«

      »Die Geschichte mit der Kaution glaub ich nicht«, sagte der alte Doktor. »Woher sollte Leo Golowski fünfzigtausend Gulden nehmen?«

      »Es waren nicht fünfzig-sondern hunderttausend, und Leo Golowski weiß bis heute überhaupt nichts davon. Im Vertrauen kann ich dir sagen, Vater, daß Salomon Ehrenberg das Geld zur Verfügung gestellt hat.«

      »So? Also da werd ich dir auch was im Vertrauen sagen, Berthold.«

      »Nun?«

      »Es ist möglich, daß es gar nicht zu dem Prozeß kommt. Golowskis Advokat hat ein Abolitionsgesuch eingebracht.«

      Berthold lachte auf. »Deswegen! Und du glaubst, daß das nur die geringste Aussicht auf günstige Erledigung haben könnte, Vater? Ja, wenn Leo gefallen und der Oberleutnant am Leben geblieben wär… dann vielleicht.«

      Der Alte schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du mußt um jeden Preis oppositionelle Reden halten, mein Sohn.«

      »Verzeih, Vater«, sagte Berthold mit zuckenden Brauen, »es hat nicht jeder die beneidenswerte Gabe, von gewissen Erscheinungen im öffentlichen Leben, wenn sie ihn persönlich nicht angehen, einfach den Blick abzuwenden.«

      »Ist das vielleicht meine Gewohnheit?« entgegnete der Alte heftig, und unter der hohen Stirn taten


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