Reisen in Westafrika. Mary Henrietta Kingsley

Читать онлайн книгу.

Reisen in Westafrika - Mary Henrietta  Kingsley


Скачать книгу
Zusammenbrüchen und Depressionen, die durch seine abenteuergetränkten Briefe noch verstärkt wurden. Entweder hatte er gerade ein Segelunglück überlebt, war in einen Waldbrand geraten oder stand so nah vor einem Grizzlybären, dass er »genauestens seine rosa Zunge betrachten konnte, mit der er sich die Lippen leckte«. Mary Kingsley schrieb später zu dieser ständigen Aufschneiderei: »Ich war oft irritiert darüber, wie mein Vater seine Aufgabe, sich um Frau und Kinder zu kümmern, mit seiner fürchterlichen Gewohnheit vereinbarte, Grizzlybären in irgendwelchen Indianergebieten zu schießen.«

      Während seiner langen Abwesenheiten klappte Mary Bailey alle Fensterläden zu, schloss sich und die Kinder buchstäblich im Haus ein, stets ängstlich um die Rückkehr ihres Mannes besorgt. »Ich war Mutters erster Offizier von dem Tag an, als ich ein Staubtuch halten konnte«, erinnerte sich Mary Kingsley. Sie war auch der »handyman« in der Familie, musste sich um alles kümmern, was schief lief oder kaputtging. Das Buch »The English mechanic« stets in der Hand, machte sie sich daran, einen Rohrbruch zu reparieren, versuchte sich allerdings auch mit ein wenig Schießpulver an einer Landmine, mit der sie dann den Garten verwüstete. In den langen schlaflosen Nächten der Mutter saß sie neben ihr und las alles, was sie in die Finger bekam, beschäftigte sich mit orientalischen Sprachen genauso wie mit Elektrotechnik und Physik. Ihr Bruder Charles war ihr keine Hilfe, im Gegenteil. Auch er war von fragiler Gesundheit und ahmte zeitlebens den Lebensstil seiner Onkel nach. »Ich sah wenig von der Außenwelt und achtete auch nicht drauf«, schreibt Mary Jahre später. »Ich wusste als Kind nicht, wie und was man spielt, aber ich hatte eine große unterhaltsame Welt für mich allein. Das waren die Bücher in Vaters Bibliothek.« So hat sich Mary Kingsley weitgehend selbst gebildet, nur ein Deutschkurs wurde einmal für sie bezahlt. Und das hatte Gründe: George Kingsley beschäftigte sich zeitlebens mit Opferriten einzelner Völker, und sehr viel Forschungsmaterial lag nur auf Deutsch vor – seine Tochter war ihm beim Ordnen und Übersetzen »ein wertvoller Gehilfe«.

      Der gut aussehende, vitale und so häufig abwesende Vater wurde von ihr gleichermaßen angehimmelt wie gefürchtet. Wie sie später erzählte, besaß er ein sehr aufbrausendes Temperament, und so manches Mal sei ihr bei seinen Besuchen ein Buch an den Kopf geflogen. Aber sie lässt sich nicht alles gefallen, tritt ihm entgegen, wenn er sie anschreit, nur weil sie seine Hemden noch nicht gestärkt hat oder sein Arbeitszimmer saubermachen will. Dann flucht sie zurück, wie er es ihr vorgemacht hat. Er läuft tobend durchs Haus – »wo hat dieses Kind nur diese Sprache her?« – und schubst sie die Treppe herunter.

      Erst ab 1888 zwangen rheumatische Fieberschübe und Herzprobleme George Kingsley zu mehr Sesshaftigkeit. Mary Bailey litt inzwischen unter vielfältigen körperlichen Erkrankungen. Noch einmal musste die Tochter alle eigenen Interessen zurückstellen und beide Eltern pflegen. Im Februar 1892 fand sie ihren Vater tot im Sessel sitzend. Er wurde 66 Jahre alt. Sechs Wochen später folgte ihm seine Frau, deren Alter nicht bekannt ist. In einem Buch mit Aufzeichnungen George Kingsleys, welches Mary Kingsley später herausgab, schrieb sie: »Die Krankheit, an der meine Mutter letztlich starb, ist auf seine Art, das Leben zu sehen, zurückzuführen.«

      Dennoch wird Mary Kingsley ihren Vater später immer wieder verteidigen, vor allem, nachdem sie selbst ihre »Reiselust« über Jahre in Afrika ausgelebt hat. Sein Verhalten sei sicher nicht immer in Ordnung gewesen, »aber er liebte nun mal die leuchtenden Augen der Gefahr«. Ihrem Verleger gestand sie später, sie verabscheue »den Humbug und die Scheinheiligkeit« ihrer Onkel, aber dann verklärte sie ihre Verwandten auch wieder als geborene Abenteurer.

      Nach der Bestattung der Eltern flüchtete Mary vor den »Schatten des Todes«, die über ihrem Zuhause lagen, und erholte sich auf den Kanarischen Inseln. Ihre Bilanz war ernüchternd. Sie war dreißig Jahre alt und hatte sich bisher nur um andere Menschen gekümmert. Ihre Bildung erschien ihr lückenhaft, ihre Freundschaften mager und über die Liebe hatte sie nur gelesen. Vielleicht gingen ihr auch die Worte ihrer Landsmännin, der Krankenpflege-Reformerin Florence Nightingale über das Schicksal tatenloser junger Frauen durch den Kopf: »Mit 17 voller Ambitionen und Träume, mit 30 verdorrt, gelähmt und ausgelöscht.«

      Mary Kingsley aber war frei, nachdem sogar ihr lethargischer Bruder zu Buddhismus-Studien nach Asien aufgebrochen war. Nun wollte auch sie reisen. »›Geh und lerne die Tropen kennen‹, ging es mir durch den Kopf«, erinnerte sie sich später. Ein genauer Blick in den Atlas machte ihr klar: Leisten konnte sie sich am ehesten eine Passage nach Westafrika. Außerdem hieß es in dem Buch »Die geographische Verbreitung der Tiere« (Alfred R. Wallace: The Geographical Distribution of Animals), dort treffe man besonders viele Arten an. Und was vor allem dafür sprach: An der »Westküste« war bisher niemand aus ihrer Familie gewesen. Sie ließ sich auch nicht von konservativen Meinungsmachern aufhalten, die aufmüpfige Frauen mit stets neuen Sprüchen an den heimischen Herd fesseln wollten.

      »Eine Lady als Forscher, ein Reisender in Röcken? Lasst sie die Babys hüten und unsere zerschlissenen Hemden säumen, aber sie können und sollen niemals Geografen sein.« Die »Times« setzte noch eins drauf und kolportierte, weibliche Globetrotter seien die »Plage des 19. Jahrhunderts«.

      Gerade mal dreihundert Pfund standen Mary Kingsley für ihre Reise zur Verfügung (zum Vergleich: Der Afrikaforscher David Livingstone war ein paar Jahrzehnte vor ihr mit 50 000 Pfund unterwegs, der Autor Henry Morton Stanley bekam für seine Suche nach dem verschollenen David Livingstone allein 12 000 Pfund Vorschuss von einem Zeitungsverbund).

      Als Mary Kingsley im August 1893 an Bord des Frachters Lagos kletterte, ging ein Raunen durch die Besatzung und Passagiere. Eigentlich war Mary Kingsley eine hübsche junge Frau, die von einer Zeitzeugin als sehr zierlicher Typ, mit hellen zusammengesteckten Haaren, hoher Stirn und strahlend blauen Augen beschrieben wird. Aber sie war der Meinung: »Du hast kein Recht, in Afrika in Kleidern herumzulaufen, für die du dich zu Hause schämen würdest«, und so zog sie monatelang klaglos in einem langen wollenen Rock durch den Busch, so schwarz wie die meisten ihrer Blusen, die kleine Handtasche und das alberne Hütchen auf dem Kopf.

      Das Beste an ihrer bescheidenen Ausstattung war der neu erstandene wasserdichte Seesack mit festem Griff, in dem die Reisende Bettlaken, Wäsche, Stiefel, Bücher und einen Revolver (den sie allerdings nie benutzen würde) aufbewahrte. Später stopfte sie noch so manches Handelsgut dazu – wollte Mary Kingsley mit der Bevölkerung doch unbedingt ins Tauschgeschäft kommen. Sie mochte den Einheimischen nicht ohne jeden Grund gegenübertreten und deren Misstrauen schüren. Wenn sie jedoch mit Angelhaken oder Blusen handele, würde ihr das sicher die Türen öffnen. Später beschreibt sie den Blusenverkauf an einige Häuptlinge so: »Sie trugen sie mit nichts anderem als ein wenig roter Farbe und ein paar Leopardenschwänzen«.

      Noch wichtiger als der Handel waren ihr jedoch der Auftrag und die Spezialbehälter des Britischen Museums zum Sammeln und zur sicheren Aufbewahrung von Fischen und diversem Getier. Auf diese Aufgabe war sie stolz. Denn nichts sorgte sie so sehr, wie als »frivole Frau« à la Mary French Sheldon angesehen zu werden, die »ohne wichtige Aufgabe herumreiste«.

      Sheldon war einige Jahre vor ihr durch Ostafrika gereist, auch ganz allein, aber mit insgesamt 138 einheimischen Trägern, Köchen und Übersetzern. Allein 70 Männer wurden von ihr mit Gewehren ausgestattet. Das Auftreten der jungen, reichen Amerikanerin, die sich reichlich versnobt mit einer Sänfte durch den Urwald tragen ließ (um sich durch diesen Showeffekt aber auch Respekt zu verschaffen), hatte für einen Aufruhr in der englischen Presse gesorgt. Sehr viel verbundener fühlte sich Mary Kingsley da ihrer Landsmännin Isabella Bird, die zeitgleich mit ihrer Abreise als erste Frau in die »Royal Geographical Society« aufgenommen worden war. Ein Novum, das natürlich auch für Diskussionen sorgte. Bird hatte damals bereits jahrelang Feldstudien in Süd- und Ostasien betrieben, und – wie im 19. Jahrhundert nicht unüblich – die Köpfe japanischer Inselbewohner vermessen.

      Das kleine Budget und die Begabung Kingsleys, auf jeden Dorfbewohner zuzugehen und sich von jeder Stammesfrau die Welt erklären zu lassen, trugen wesentlich dazu bei, dass die Engländerin einen weitaus besseren Einblick in die afrikanische Lebenswelt bekam als so mancher Anthropologe. Sie hatte sich schon zu Hause intensiv mit Afrika und seinen Einwohnern beschäftigt, Kontakte zu europäischen Anthropologen aufgenommen und war wild entschlossen, alles über die einheimische Bevölkerung herauszufinden. Sie reiste auf einfachste Art,


Скачать книгу