Die Seele Chinas. Richard Wilhelm

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Die Seele Chinas - Richard Wilhelm


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sei, ohne dass es nötig würde, die altüberlieferte Kultur zu beschränken oder aufzugeben. Das musste natürlich ein Versuch bleiben, der notwendig zum Scheitern verurteilt war. Denn die Beherrschung der altchinesischen Schrift, des alten Stils, der alten Philosophie, der alten Geschichte war eine Aufgabe gewesen, die bisher die Kräfte eines normalen Studierenden vollkommen ausgefüllt hatte. Wollte man nun noch fremde Sprachen, Mathematik oder Realien hinzufügen, so musste eine Halbheit entstehen, die je nach der Orientierung entweder auf die »neuen« Fächer oder auf die »alten« Fächer besonders drückte. In Wirklichkeit waren die bisherigen Versuche ein Übergang von der einen Art zur anderen gewesen.

      Die erste Einführung der westlichen Wissenschaften unter den Jesuiten bleibt außer Betracht, insofern als die von ihnen gebrachten westlichen Kenntnisse nicht als Bestandteil der Allgemeinbildung eingeführt wurden, die ruhig in ihren alten Bahnen blieb, sondern nur von einem Teil der damaligen Gelehrten aufgenommen und verarbeitet wurden. Die damaligen Einwirkungen auf die chinesischen Wissenschaften hätten noch fruchtbarer sein können, wenn die Jesuiten die damals neueste Wissenschaft von Europa importiert hätten. Allein sie schleppten sich – aus religiösen Gründen – noch immer mit der Astronomie Tycho de Brahes herum, so dass sie zwar leichter in der chinesischen Weltanschauung Eingang fanden – denn der Standpunkt, auf dem sie standen, war nicht prinzipiell von dem antik chinesischen verschieden – aber sie revolutionierten die chinesische Wissenschaft nicht. Die chinesischen Arbeiten, die auf der Grundlage des von ihnen Gebrachten standen, waren notwendig dazu verurteilt, veraltet zu sein, schon als sie entstanden.

      Die Aufnahme der modernen europäischen Wissenschaft geschah, wie schon gezeigt, äußerst zögernd. Nur für die praktische Anwendung schienen die westlichen Kenntnisse, in denen man mehr bloße Technik als Wissenschaft sah, geeignet. Noch Tschang Tschi Tung stand mit seinem bekannten Manifest, das die Reform der Bildung fordert, auf dem Standpunkt, dass der Kern der Bildung altchinesisch und nur die Praxis europäisch sein sollte. Diese Unterscheidung beherrschte jahrzehntelang die Diskussion, sie löste die Schwierigkeit mit einer eleganten Phrase. In Wirklichkeit sah man sich natürlich genötigt, den Kern immer mehr zusammenschrumpfen zu lassen, da die praktische »Schale« immer mehr an Ausdehnung gewann. Dadurch bildete sich ein Zustand der Wurzellosigkeit bei der Jugend heraus, der wirklich bedauerlich war. Namentlich in Missionsschulen konnte man es erleben, dass die Zöglinge zwar ganz leidlich in Englisch sich ausdrücken konnten, aber ihre eigene Muttersprache nicht mehr so weit beherrschten, dass sie auch nur einen einfachen Brief hätten schreiben können. Damit sank natürlich der Wert ihrer fremden Ausbildung innerhalb des chinesischen Kulturgebietes auf die Bedeutung der Sprachenkenntnis eines Oberkellners herab. Die Absolventen solcher christlichen Universitäten brachten es daher auch vielfach nicht weiter als zu Dolmetschern, Schreibern oder Büroangestellten in fremden Diensten, was andere Leute mit ein wenig Mutterwitz in weit kürzerer Zeit ohne »Universitätsstudium« auch erreichten.

      Auf der anderen Seite zeigte sich der Missstand, dass gerade die Vertreter des Neuen, die Reformatoren wie K’ang Yu We oder Liang K’i Tsch’ao keine fremde Sprache verstanden und deshalb für ihre Kenntnis des Westens im wesentlichen auf Übersetzungen angewiesen waren. Diese Übersetzungen waren teils oberflächlich und ungenau, wie die meisten der in älterer Zeit von Missionaren angefertigten, teils waren sie in elegantem Chinesisch geschrieben, wie die berühmten Übersetzungen von Yän Fu. Aber diese Werke waren so glatt übersetzt oder eigentlich umgeschrieben, dass sie sich lasen wie alte chinesische Schriften und das Neue der Gedanken sozusagen eingewickelt und zugedeckt war durch den alten literarischen Stil. Es war, wie wenn wir etwa die Darwinschen Werke durch eine Aneinanderreihung von Bibelstellen übersetzen wollten. Daneben kam auch in Betracht, dass die übersetzten Werke keineswegs die wichtigsten waren, sondern Werke zweiten Ranges, Sachen von Huxley, Spencer, St. Mill, Montesquieu. Diese Dinge bildeten nun eine Zeitlang in China die Quintessenz der modernen Wissenschaft.

      Diesen unvollkommenen Versuchen, Ost und West einander nahezubringen und eine einheitliche Volksbildung wieder zu gewinnen, konnte nur durch einen kühnen Entschluss ein Ende gemacht werden. Man musste den Ballast des Alten, der nur beschwerte, ohne zu bereichern, energisch beseitigen, um Zeit zu gewinnen für eine Ausbildung in der chinesischen Schriftsprache und den Realien. Bisher hatten die klassischen Werke der alten Philosophen zugleich dem Unterricht im Lesen und Schreiben gedient. Ein Kompendium der konfuzianischen Moral, Philosophie und Geschichte diente als erste Fibel, es war das sogenannte Dreizeichenbuch, das seinen Namen davon hat, dass es in dreifüßigen Versen geschrieben ist. Es begann mit den tiefen Worten:

      »Der Menschen Anfang

      Ist in der Wurzel ihrer Natur gut.

      Von Natur sind sie einander nahe,

      Durch Gewöhnung kommen sie einander fern.«

      Diese Schriften wurden Wort für Wort auswendig gelernt – nur dem Ton nach, ohne dass der Schüler zunächst verstand, was er las. Erst wenn er die ganzen Werke memoriert hatte, wurden sie in einem zweiten Kurs, oft recht oberflächlich, ihrem Sinne nach erklärt. Man kann sich denken, dass die tiefen Weisheitslehren der größten Denker der alten Zeit für kleine Abc-Schützen nicht eben die am leichtesten verdauliche Kost waren und dass sie – namentlich bei dem veräußerlichten Lehrbetrieb der letztvergangenen Zeit – nicht eben viel zur lebendigen moralischen Erziehung der mit ihnen überfütterten Knaben dienten.

      Ts’ai Yüan P’e tat nun, als er Unterrichtsminister war, den entscheidenden Schritt, der durch seine Vorgänger in mancher Hinsicht vorbereitet war, er beseitigte die alten klassischen Schriften aus dem Elementarunterricht und wies ihnen den Platz zu, der ihnen gebührte: die Universität. Hier sollten die alten Schriften philologisch, historisch und philosophisch bearbeitet und für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. In den Schulen aber wurden Lesebücher eingeführt, die nicht mehr in der hieroglyphisch schweren Sprache vergangener Jahrtausende geschrieben waren, sondern die, dem Gedankenkreis der Gegenwart entnommen, die Schüler bekanntmachen sollten mit dem Gebrauch ihrer Muttersprache in Wort und Schrift.

      Man kann die Bedeutung dieser Reform kaum überschätzen. Denn nicht nur wurde der ganze Bildungsgang, die ganze Art des Lernens von Grund aus nach den Prinzipien der Pädagogik umgestaltet; auch der Konfuzianismus hörte damit auf, die religiöse Grundlage der Bildung zu sein. Literarische Bildung hatte man im alten China in der Schulgemeinschaft erlangt, die letzten Endes auf den Meister der zehntausend Generationen, Konfuzius, zurückging. Wenn diese Schulgemeinschaft auch nicht die straffe Organisation einer Kirche hatte, so bildete sie doch einen festen Lebens- und Weltanschauungshintergrund. Der »Meister« schwebte unsichtbar über allen Schulen. Wissenschaft war zugleich Religion und Moral. Die Schrift war heilig. Beschriebene Papiere wegzuwerfen, galt als Frevel. Man hatte in den Schulen Kasten aufgehängt, in denen sie gesammelt wurden, um von Zeit zu Zeit feierlich verbrannt zu werden. Mit dem Lernen ging praktischer Dienst im Hause des Lehrers häufig Hand in Hand. Der Schüler wuchs hinein in die große, die Jahrhunderte umspannende Kulturgemeinschaft. Damit dass die konfuzianischen klassischen Schriften Gegenstand des Universitätsstudiums geworden sind und ihre Grundsätze – zum Teil stark modifiziert – nur noch im Unterrichtsfach der Ethik gelehrt werden, ist eine neue Einstellung von selbst gegeben. Konfuzius wird zwar noch mit Achtung und Verehrung genannt als Weiser des Altertums, aber die lebendige Beziehung ist unterbrochen. Die Schule ist entkirchlicht.

      Als Ts’ai Yüan P’e dann die Leitung der Pekinger Reichsuniversität übernahm, schuf er sie um zu einer umfassenden Bildungs- und Forschungsanstalt. Er gliederte sie in Fakultäten und Abteilungen. Der Lehrkörper bekam dadurch, dass er die Dekane und den Prorektor wählte, selbstständigen Anteil an der Leitung des Ganzen. Es gelang Ts’ai Yüan P’e, die bedeutendsten jüngeren Kräfte heranzuziehen. Ein unglaublich produktives wissenschaftliches Leben begann. Trotz geringer Bezahlung, die infolge der trostlosen Finanzverhältnisse oft monatelang im Rückstand bleibt, herrschte eine beispiellose Schaffensfreudigkeit unter den Professoren und ein enger Kontakt zwischen Lehrern und Studenten. Ts’ai Yüan P’e hat die unbedingte Freiheit der Wissenschaft zum Prinzip gemacht. Auch die kühnste, revolutionärste Weltansicht kam zu Wort, aber auch stark konservativ gerichtete Lehrkräfte konnten sich unbehindert beteiligen. Selbst der Reaktionär Ku Hung Ming war eine Zeitlang Dozent an der Universität.

      Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Pekinger


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