Die Seele Chinas. Richard Wilhelm

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Die Seele Chinas - Richard Wilhelm


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sozialen Fragen auftaucht, findet Interesse, und eine Menge freier Vereinigungen bildeten sich, in denen Dozenten und Studenten sich an die Bearbeitung neu auftauchender Fragen machen. So hat denn die Pekinger Universität, wie sie durch Ts’ai Yüan P’e und seine Mitarbeiter geschaffen wurde, einen überaus wichtigen Platz im geistigen Leben des neuen China.

      Eine der bedeutendsten Taten dieses Kreises um die Pekinger Reichsuniversität ist die Schöpfung einer neuen chinesischen Umgangssprache. Die alte chinesische Schriftsprache geht im Wesentlichen zurück auf die Sprache der letzten vorchristlichen Jahrhunderte. Damals hatte sich aus der manchmal noch etwas unbeholfenen vorklassischen Sprache und Schrift eine äußerst elegante, biegsame und doch klare Schriftsprache herausgebildet, die in den bekannteren Werken jener Zeit niedergelegt ist. Diese Schriftsprache hatte sich im Wesentlichen durch die Jahrhunderte hindurch erhalten und wurde immer wieder bei neuen Kompositionen nachgebildet, auch dann noch, als die gesprochene Sprache längst eigene Wege gegangen war, und zwar so weit von der Schriftsprache abweichende, dass diese nicht mehr verstanden wurde, wenn man sie gelesen hörte, vielmehr das Schriftbild zum Verständnis unbedingt notwendig war. Schon seit der Zeit der Auseinanderentwicklung von Wort und Schrift gab es neben der Schriftsprache auch eine Literatur in der jeweils gesprochenen Sprache. Der berühmte Gelehrte Tschu Hsi in der Sungzeit hat z. B. seine Gespräche mit seinen Jüngern in der Umgangssprache herausgegeben. Außerdem kam eine volkstümliche Literatur von Dramen, Novellen und Romanen auf, die alle mehr oder weniger der Umgangssprache sich näherten. Aber diese ganze Literatur führte nur ein Dasein zweiten Ranges und galt nie als vollwertig.

      Nun kamen mit der neuen Zeit auch neue Bedürfnisse. Eine literarische Revolution fand statt, die mit den großen Bewegungen der Renaissance zu vergleichen ist, durch die die europäischen Nationalsprachen zu Schriftsprachen wurden. Man wollte eine Sprache, die wirklich den neuen Gedanken sich anpassen konnte und die leicht und allgemein verständlich war. Diese literarische Revolution fand ihren ersten Ausdruck in der Zeitschrift »Die neue Jugend«, die von dem Dekan der literarischen Fakultät an der Pekinger Reichsuniversität, Tsch’en Tu Hsiu, begründet worden war. Diese Zeitschrift vertrat politisch und sozial einen sehr weit links stehenden Standpunkt und in der Literatur den Standpunkt des Naturalismus. Ein hochbegabter junger Professor, Hu Schi, der von einem längeren Studienaufenthalt aus Amerika zurückgekehrt war und nicht nur geläufig Englisch sprach und schrieb, sondern auch die pragmatische Philosophie Amerikas in sich aufgenommen hatte, entwarf in der Zeitschrift sein neues Programm und machte auch in einer ganzen Reihe von Publikationen wirklich Ernst mit dem Gebrauch dieser neuen Volkssprache. Eine Menge anderer Zeitschriften schloss sich an. Vorübergehend gab es über 400 Zeitschriften und Zeitungen, die in der Volkssprache geschrieben waren und die ihren Stoff hauptsächlich durch Übersetzungen aus fremden Sprachen bezogen. Selbstverständlich konnte sich eine so große Zahl auf die Dauer nicht halten. Ein großer Teil ging später wieder ein. Hu Schi veröffentlichte eine Aufsehen erregende Geschichte der chinesischen Philosophie, von der zunächst der erste Teil in der neuen Sprache erschien und so den Beweis erbrachte, dass diese Sprache auch für wissenschaftliche Werke ein biegsames und brauchbares Verständigungsmittel war.

      Ein Sturm des Widerspruchs erhob sich gegen diese Revolution. Man fühlte sich im Lager der Alten verletzt durch die rücksichtslose Volkstümlichkeit der neuen Sprache – wo war die Feinheit, wo der abgewogene Rhythmus, wo der versteckte Schillerglanz der zitatenreichen Sprache der Vergangenheit? Es war alles so klar, so unmittelbar, so offen, so gemein. Natürlich spielte bei dieser Opposition auch der Umstand eine Rolle, dass die literarische Revolution, ganz ähnlich wie die literarische Revolution in Europa am Ende des vorigen Jahrhunderts, mit großen sozialen und politischen Strömungen verbunden war. Tsch’en Tu Hsiu musste aus Peking fliehen. Er begab sich in die Fremdenniederlassung von Schanghai, wo er eine Anzahl ziemlich radikaler Oppositionsblätter herausgab.

      Das literarische Haupt der Gegner der neuen Bewegung war eine Zeitlang Lin Schu, der durch seine Übersetzungstätigkeit eine gute Stellung gehabt hatte, die durch die neue Sprache in Frage gestellt war. Zudem war er auch in politischer Verbindung mit der Anfupartei, die er gegen die radikale Jugend zu verteidigen suchte.

      Inzwischen hat die neue Bewegung sich abgeklärt und ist zur festbegründeten Tatsache geworden. Nicht nur die aufstrebende Jugend wie Hu Schi und Liang Schu Ming oder der moderne Dichter Hsu Tschi Mou und viele andere haben wertvolle Werke in der neuen Sprache geschaffen; auch Liang K’i Tsch’ao und Ts’ai Yüan P’e haben sich der Bewegung angeschlossen und haben sie dadurch auf eine unbestreitbare Ebene emporgehoben.

      Mit dieser literarischen Bewegung hängt eine große Lebendigkeit des ganzen geistigen Lebens zusammen. Die Schranken gegen das Ausland sind gefallen. Offene und rückhaltslose Auseinandersetzung mit allen Gedanken des Westens hat begonnen. Man hat kein sonderchinesisches Reservat mehr, an das man sich zu klammern sucht, wie Tschang Tschi Tung das noch getan hatte. Eine philosophische Gesellschaft wurde begründet unter dem Vorsitz von Liang K’i Tsch’ao, Tsiang Po Li und dem besonders auch in Deutschland bekannten Dr. Carsun Chang, die fremde Professoren nach China einlud.

      Bertrand Russell von England, Dewey von Amerika, Hans Driesch von Deutschland und Rabindranath Tagore aus Indien haben dem Ruf bis jetzt Folge geleistet. Andere werden folgen.

      Eine Zeitlang schien es, als ob die kulturelle Selbstständigkeit Chinas im Zustrom der neuen Gedanken rettungslos verloren sein wurde. Der Krieg hat da Wandel geschaffen. Die westlichen, europäisch-amerikanischen Staaten zeigten doch zu deutlich in diesem Krieg die furchtbar gefährlichen Seiten ihrer Kultur. China erwachte aus dem Kosmopolitismus, in den es schwärmend eingetreten war und der sich in den Schriften K’ang Yu We’s und anderer Zeitgenossen zeigte, zu einem bewussten Nationalgefühl. In dieser Richtung wirkten dann auch ganz besonders die neu sich zeigenden russischen Einflüsse. Das neue Russland, das von Europa vielfach mit dem gedankenlosen Schlagwort »Bolschewismus« erledigt werden möchte, ist eine viel mehr zusammengesetzte Erscheinung, als wir hier sehen. Außer dem Prinzip des Kommunismus ist der Sowjetgedanke sehr mächtig, der die freie Zusammenarbeit vollkommen selbstständiger, gesellschaftlicher oder nationaler Bildungen bedeutet. Dieser Sowjetgedanke stärkt in Asien überall das nationale Element. So auch in China. Keine »gelbe Gefahr«, das inhaltsleere Gespensterphantom des europäischen schlechten Gewissens, kein blutiger Agrar-Kommunismus, kein »Bolschewismus« in diesem Sinne ist von China zu erwarten, wohl aber die feste Entschlossenheit, Herr im eigenen Hause zu werden, die jahrhundertelange Knechtung durch europäische Anmaßung zurückzuweisen, eine gleichberechtigte Nation unter anderen zu sein und gemeinsam mit ihnen an der großen Menschheitssache mitzuarbeiten. Das sind die Ziele von Jung-China. Deutschland und Russland haben China dieses Recht freiwillig zugestanden. Die anderen Nationen, die von den Chinesen als Unterdrücker empfunden werden, sehen sich einem sehr starken passiven Widerstand gegenüber, der die ganze chinesische Nation einigt. Sie kämpfen mit Tanks und Maschinengewehren und reden in ihrer Presse von chinesischen Aufständen, wenn sie wieder einige hundert Chinesen niedergeschossen haben – ohne dass ein einziger Europäer getötet worden wäre.16 China hat demgegenüber nur die neue Waffe der Entschlossenheit. So spielen sich dort vor unseren Augen entscheidende Kämpfe einer neuen Weltgestaltung ab.

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