Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.ist zwar schauderhaft«, seufzte der Herr Graf, »aber ich habe das meinige doch auch nur in Wien gelernt, und sie hat es wenigstens aus Büchern und ist mit der Grammatik in ihrem Geburtsort in die Schule gegangen. In Nizza hat meine selige Frau sie gefunden, und sie hat treu bei uns ausgehalten durch Gut und durch Böse. Durch das letztere meistens mehr als durch das erstere. Ihre Eltern hatten sie zur sœur ignorantine bestimmt; aber sie fand in sich keinen Beruf dazu, und mir ist es lieb, dass wir sie gefunden haben. Sie hat sehr treu bei mir ausgehalten, Madam Langreuter, und, wie gesagt, durch gute und durch böse Zeiten, und durch die letzteren mehr als durch die ersteren.«
Auch mein Französisch stammt in seinen Elementen aus der Schule der Mamsell Martin, und es ist danach geblieben. Irene und Ewald hatten Gelegenheit, das ihrige sehr zu verbessern, und Ewald spricht und schreibt es heute fast ebenso gut wie das Englische, das er mit einer spaßhaften Neigung ins Irische zu seiner zweiten Muttersprache gemacht hat.
Wir gingen ab nach dem Gymnasium und kamen von da an nur in den Ferien nach Schloss Werden zurück. Wenn ich anfangen wollte, davon zu reden und zu schildern, so würde wohl nicht an ein Aufhören zu denken sein. So ist es aber hundert und aber hundert Autobiografen und Biografen ergangen, und sie sollen für mich mit gesprochen und geschrieben haben. Es wiederholt sich und bleibt sich vieles gleich in der Welt, was an und für sich den Eindruck der individuellsten Originalität macht.
Aber die großen italienischen Nussbüsche an der letzten Hecke des äußersten Gemüsegartens derer von Everstein und den Vetter Just hat nicht jedermann erlebt, und so machen wir die beiden zu unserer Spezialität, und den letzteren durch alle Blätter dieser Aufzeichnungen hindurch.
Sie haben eigentlich nichts miteinander zu schaffen; der Vetter hat nie in ihnen gesessen, in den Nussbüschen nämlich; aber doch kann ich nie an den einen ohne die anderen denken. Sie gehören in der grünsten, lichtesten, lachendsten und doch zugleich ernsthaftesten Weise zusammen in meiner Seele. Wie hundertmal in der Wirklichkeit besuche ich heute in der Erinnerung den einen von dem anderen aus, den Vetter Just auf seinem Hofe jenseits des Flusses von dem Gezweige unseres alten Wunderbaums herunter.
Es war eigentlich gar kein einzelner Baum, sondern ein Bündel dick- und hochstämmigen Gebüsches, das der liebe Gott aus einem halben Dutzend Kernen zu unserem Vergnügen auf einer Bodenerhöhung an der Hecke zu außergewöhnlicher Höhe und Pracht hatte aufschießen und sich ineinander weitästig verwirren lassen. In weit entlegene, uns ganz und gar vorgeschichtliche Zeit war das Aufsprießen gefallen, aber der Gipfel der Verwirrung nur allein für uns, wie wir glaubten, in die unserige, und das war das Schöne. Die Vorsehung hatte es auch in diesem Falle gewusst, was alles in dem Keime lag, den sie hier in seiner Hülse auf den Boden fallen ließ, den sie erst mit gelben Blättern, dann mit trefflicher Gartenerde bedeckte und ungestört Wurzeln nach unten in die Dunkelheit und zwei zarte grüne Blättchen nach oben in das Licht, in die Sonne treiben ließ! Der Mensch denkt nie daran, wenn er im großen Walde geht, was alles in zwei solchen grünen Keimblättchen zu seinen Füßen für ihn und seine Art auseinanderklappt. Wo bliebe aber auch das Spazierengehen, wenn dem so wäre? Es würden manche dafür danken und unter diesen ich zuerst. Zu Hause, innerhalb seiner vier Wände, unter alledem, was man sich selber allgemach zusammengetragen hat, würde es bei weitem behaglicher sein als draußen im Freien.
Es war natürlich Ewald Sixtus gewesen, der zuerst herausgefunden hatte, wozu dieses Baumgebüsch gut sei. Er hatte die Leiterstufen gezimmert, die an dem knorrigen Hauptstamm in die Höhe führten bis zu der ersten Gabelung, von wo dann Irenes Ruhe, Evas Höhe, Friedrichs Lust und Ewalds Heim mit mehr oder weniger Beschwerlichkeit und Gefahr des Hals-, Arm- und Beinbrechens zu erreichen waren. Die »Ruhe« und das »Heim« hingen selbstverständlich im schwanksten und luftigsten Gezweig; Evas Höhe saß ebenso selbstverständlich am tiefsten und sichersten, und ich – ich wäre mit und zu meiner Lust am liebsten unten am Baum auf festem Erdboden geblieben; aber hinauf musste ich wie die anderen, und wenn ich einmal oben saß, so gab es freilich auch für mich keinen besseren Platz im Himmel und auf Erden als diesen zwischen Himmel und Erde.
Da waren es einzig und allein die Vögel, die es noch besser hatten als wir und die wir dann und wann immer noch beneiden durften.
»Wer es wie die könnte!« seufzte Irene im äußersten Gezweig, schon jenseits der Hecke des Schloss-Küchengartens in ihrer gefahrvollen Ruhe, zwanzig Fuß hoch über der Wiese hängend. Und das war wieder einmal an einem Sommermorgen, gerade als die Sonne aufging und alle Frische und aller Tau und alle Erwartungen vom Tage und sämtliche Pläne für die angenehmste Verwendung desselben noch vorhanden waren.
Es ist kaum zu glauben, aber es war doch so: wir, Ewald und ich, wir schmauchten frech hinein in die heilige Frühe, und noch dazu Zigarren, von denen der Herr Pastor nie begreifen konnte (während unserer Ferien), wie sie ihm so rasch zu Ende gingen.
Der Herr Graf rauchte leider nicht; er würde sich sonst gewiss an eine bessere Sorte gehalten haben. Den Knaster, den Vater Sixtus aus seiner kurzen Jägerpfeife verdampfte, hatten sich die beiden Herrinnen von Evenshöhe und Irenensruhe in »ihrem Baum und so früh in der Natur« ganz ernsthaft verbeten. Ich habe es schon gesagt, ich rauche heute auch nicht mehr; aber ich weiß das Blatt aus jener Zeit her noch zu würdigen und zöge es jetzt jedem anderen vor. Ewald hatte gewöhnlich alle Taschen voll davon und meinte: »Das nenne ich gar nicht einem was ausführen, sondern nur gerechte Sühne! Es ist einfach scheußlich, wie billig der Alte den himmlischen Äther (nicht wahr, so heißt’s, Fritz?) verstänkert. Es ist aber ganz sicher ganz dasselbe Kraut, was sich sein lieber Papst Sixtus der Fünfte hier im Walde verstattet haben würde; nicht wahr, Fritzchen? Du musst es wissen.«
Weshalb musste ich das wissen?… Weil ich den »Schlingel aus dem Försterhause« um drei Eselsohrenlängen in der Gymnasialbildung hinter mir zurückgelassen hatte? Es hat sich nachher ausgewiesen, dass das ziemlich wenig zu bedeuten hatte.
Da sitzt Eva im Zweig und sagt vorwurfsvoll: »Aber Ewald, sprich doch nicht so vom Vater!«
»Wozu hat man denn sein Taschengeld von ihm?« klingt es zurück; und – es ist immer noch der Sommer und der Sommermorgen, die Jugend und die Frage: was fangen wir heute mit dem unendlichen Tage bis Sonnenuntergang an? auf der Tagesordnung!
»Heute gehen wir ihnen einmal recht ordentlich durch. Nachher kriegen wir dann alles auf einmal über die Köpfe und sind für ein Vierteljahr hübsch reuig. Übermorgen geht ihr ja doch wieder ab, und wir haben Zeit für alle guten Ermahnungen und Weisheit und Tugend,