Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.des Försters Sixtus im Dorfe Werden, von denen die Rede ist. Von dem Papst Sixtus dem Fünften stammte der alte Herr in Grün nicht ab; aber der Zufall hatte ein altes Buch in seinen Besitz gebracht: Leben des berühmten Papsts Sixti V., beschrieben durch Gregorio Leti. Aus dem Italienischen übersetzt. Frankfurt, bei Thomas Fritschen, 1720; und darauf hat oft seine brave schwere Hand, zur Faust geballt, gelegen, und heute klingt mir noch der Brummseufzer in den Ohren:
»Das war ein Kerl, Fritze! Alle Hagel, der ist ja gerade so mit seiner Satansbande umgesprungen wie der Doktor Luther hier bei uns mit uns, mit seiner, und wie ich mit euch umgehen werde, ihr Raubzeug und Teufelskinder, wenn ihr es mir zu bunt macht. Fritze, da sieht man’s wieder, dass der Herrgott mehr von einer Sorte im Sacke hat und nur hereinzugreifen braucht, um einen ’rauszulangen und hinzustellen, wo er zu brauchen ist. Aus dem Buch hat mir mein Junge vorlesen müssen und nachher mein Mädchen, und bei Gelegenheit kannst du auch an die Reihe kommen, aber die Hauptstellen lese ich doch lieber für mich allein, die passen für euch naseweises Geziefer jetzt noch nicht. So ’nen Papst lass ich mir gefallen, und es ist mir eine Ehre, dass er meinen Familiennamen sich angenommen hat.«
Ich habe später über manchem anderen, in der Menschen Kunde abschmeckend gewordenen Tröster mit beiden Armen aufgestützt gelegen, aber nie wieder über einem so wie über diesem. Das langweilige Buch in dem edlen Deutsch von siebenzehnhundertzwanzig ist gottlob in meinen Besitz übergegangen und nimmt einen griffgerechten Ehrenplatz in meiner Bibliothek hier in Berlin ein. Ich brauche es nur wie ein richtiges Zauberbuch aufzuschlagen, um über seine vergilbten Blätter hinweg alles vor mir lebendig zu haben, was damals mein Leben nicht bloß bedeutete, sondern war. Treffe ich auf eine Daumenspur des Alten am Rande der Blattseite, so ist es noch besser und gibt die wärmere Farbe. Freilich eine wärmere Farbe! Ich ergreife hier mit beiden Händen die Gelegenheit, zu versichern, dass hier nichts, gar nichts allzu reinlich, zierlich und frisch lackiert aus dem Putz- und Schmuckkästchen der Romantik entnommen ist. Wir rochen um uns her alle Gerüche und sahen alle Dinge, wie sie die Menschen und die Natur im ewigen Hervorbringen vergänglich hinstellen. Alles war seit lange im Gebrauch gewesen und wurde weiter abgenutzt; und wenn ich vorhin von den Livreen des Schlosses Werden gesprochen habe, so stelle der Leser sich dieselben ja nicht zu farbenfrisch und tressenglitzernd, sondern ganz im Gegenteil vor. Wir trugen sämtlich unsere Kleider so lange als möglich und schämten uns eines Flickens an der rechten Stelle wenig. Wir trugen den Frühjahrsregenschmutz, jegliche Gewitterspur und alles, was Herbst und Winter da geben, überallhin, wo eine Tür offen war. Wir hatten alle Wünsche, die nur durch mehr irdische Güter, als wir besaßen, befriedigt werden konnten, und der Herr Graf war da durchaus nicht ausgenommen, sondern auch im Gegenteil. Das Schloss war kein pomphaft Epos und die Försterei keine geleckte Idylle. Sie trugen inwendig und auswendig gleichfalls ihr Flickwerk und ihre Erdgerüche an sich und um sich, und was die letzteren anbetraf, so hatten der Wald mit seinen Buchen- und Tannendüften und die Wiesen mit ihrem Heugeruch recht häufig das Beste dazuzutun, um die Atmosphäre für fremde heikle Nasen zu verbessern.
Da ist so eine Daumenspur – hier auf Seite 595:
»Wer unter dem itzigen Papste dem galgen entgehen will, der muss kein bedencken tragen, sich in ein kloster einzusperren, solte es auch das allerunglückseligste sein.«,
und ein süßer Duft weht über die Stelle, aber ein ganz eigentümlicher. Es war ein braver Tabak, den der Alte bei seiner absonderlichen Lektüre verqualmte, und ich erkenne die Sorte heute noch mit innigstem Behagen wieder auf Spaziergängen und im Eisenbahnwagen dritter Klasse. Rauchte ich selber, so würde ich nur diese rauchen! Und nun, um es kurz zu machen und es mit dem treffendsten Idiotismus zu nennen: wir waren allesamt und auf Meilen in die Runde ein schmuddeliges Volk, ausgenommen vielleicht der Herr Graf, meine Mutter und Evchen Sixtus; Komtesse Irene Everstein dagegen nicht ausgenommen. – Wir waren ein ganz unromantisches Völklein; aber zu seinem Recht soll das hübsche Wort »romantisch« doch auch hier gelangen, und wir hängen es wie gewöhnlich an ein Haar. Ach, es gibt sich leider nichts leichter, als in irgendein Handwerk hineinzupfuschen!
Irene war eine Goldblondine, die die Leute ansahen und für sanft hielten; Eva war dunkel und sanft, und Ewald hielt allen seinen Schulmeistern einen braunen Lockenkopf zum Dreingreifen und Zerzausen hin. Von dem, was der Herrgott auf meinem Schädel wachsen ließ, rede ich lieber nicht; aber stimmungsvoll war’s! Es stimmte merkwürdig gut zu allem übrigen, und die gütige Vorsehung erhalte es mir so lange als möglich, wenn nicht der Schönheit, so doch der Nützlichkeit wegen.
Es kam aber keinem von uns darauf an, wie er eigentlich aussah. Auch was die Mädchen angeht, so macht es mir heute den Eindruck in der Erinnerung, als ob sie sich wenig darum gekümmert hätten; wenn ich dieses auch nicht als feste Behauptung hinstellen darf.
Die Sonne lag uns auf den Köpfen bei jeglicher Witterung, und so trieben wir uns um in den Wäldern, auf den Wiesen und Feldern, in der Schulstube und in den Gängen und Sälen von Schloss Werden. Was jenseits der Berge war, davon wussten wir gar nichts; und wie das so häufig geht, haben wir alle später viel davon erfahren – mehr jedenfalls, als zu unserem Glücke nötig war. Andere freilich haben das vielleicht dann und wann unser Glück genannt; da ist eben mit der »anderen« Anschauungen und Einbildungen nicht zu rechnen.
Das rechte Licht! War es das rechte Licht, das damals über unsere Köpfe und Tage fiel?
Darüber ließe sich viel sagen; und am Ende ist es gar nicht der einzelne Mensch mit seinen zwei Augen, der etwas darüber zu sagen hat. Nur die auserwähltesten Geister sind es, die hier und da in höchst seltenen Fällen ihre Meinung ausdrücken dürfen. Sie können dann wie der Maler der Heiligen Nacht den Schein vom neugeborenen Erlöser in der Krippe ausgehen lassen oder wie auf der Rubensschen Heuernte, die der alte Goethe seinem Eckermann entzückt vorweist, die Sonne von den Dingen zwei Schatten geradeweg einander entgegenwerfen lassen.
Auch die allerniedrigsten oder einfachsten Geister reden da oft das Richtige. Aber alle zwischen der Höhe und der Tiefe liegende Verständigkeit der Erde hält einfach am besten den Mund und lässt sich bescheinen – schwitzt und ärgert sich, wenn es ihr zu heiß wird, und kriecht in die Sonne und lobt sie im Vorfrühling und Spätherbst oder im Winter, wenn die Knochen dürr werden, die Zähne wackeln oder ganz mangeln und die romantischen Locken verwehen »gleich den Blättern der Bäume«, wie Vater Homer davon sang, nicht in einem seiner schläfrigen Augenblicke, sondern an einem der hellsten ionischen Sonnentage, wo er nicht schlief.
Bin ich von der