Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Und jeder Augenblick brachte uns tiefer in die uns so bekannte und so sehr aus dem Gedächtnis geratene Jugendwelt hinein. Bei jeder Biegung des Flusses verflüchtigte sich der Schleier, den die Jahre uns über die Augen gelegt hatten, mehr und mehr. Gewinn und Verlust des Lebens wurden von Minute zu Minute deutlicher, aber stiller und friedlicher wurde es leider nicht darum in uns.
»Ich wollte, ich hieße von Münchhausen oder liefe schon gedruckt in der Welt herum wie der Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode!« brummte der jetzige Herr von Schloss Werden. »Aber bis nach Bodenwerder bleiben wir nicht auf diesem verdammten Teekesselkahn, Fritz Langreuter. Das wäre die Höhe, wenn ich daselbst zuerst auf meinen Rechtsmandatar stieße und an seiner Hand in das alte, brave Vaterhaus zurückzuwandeln hätte. Bei der nächsten Haltestelle steigen wir aus und schlagen uns zu Fuße über die Berge und durch den Wald. Uh, hätte ich mir doch dies heutige Einschleichen hinter den Büschen weg vor drei Jahren schon so deutlich ausgemalt wie jetzt, so wäre es mir sicherlich besser zumute. Säße das Mädchen – ich meine die gnädige Frau – o Gott, säße die Irene nicht bei dem Vetter Just – – – bei den unsterblichen Göttern, ich schliche mich zuerst zu dem Vetter Just Everstein und ließe ihn einen Boten mit der Meldung nach Werden schicken, dass – ich – wieder da – sei! Der Peter in der Fremde mit seinen Dachkammer- und Taubenschlaggefühlen ist in diesem Moment ein wahrer Weltumsegler gegen mich! Deine Gefühle sind aber natürlich ja ganz andere, also geniere dich nur nicht meinetwegen, Bruder. Fahre du dreist weiter nach Bodenwerder, grüße daselbst, nimm einen Wagen und komm ruhig und behaglich nach Werden. Ich aber gehe.«
Ich ging auch.
Es war ein eigentümliches Gefühl, wieder den Kies des Flussufers unter den Füßen zu spüren. Das Dampfschiff drehte sich ab, und wir nahmen unseren Weg rechts in die Berge hinein. Zwei gute Stunden hatten wir vor uns, ehe wir Schloss Werden erreichen konnten; aber niemals sind mir zwei ziemlich beschwerliche Wegestunden so kurz vorgekommen wie diese. Und wir redeten wenig miteinander auf dieser Wanderung.
»Das ist eine kuriose Melodie, welche du da pfeifst, Ewald.«
»Rocky Road to Dublin! Jeder illegante blinde Fiedler greift sie im Schlaf bei uns, und sie passt mir ganz für diesen Marsch, Fritz. Melancholisch und spaßhaft! Was? Wer zuerst von uns die alten Türme aus dem Busch aufragen sieht, hält das Maul, aber stößt dem Gevatter den Ellenbogen in die Rippen… Und sie sitzt also heute bei dem Vetter Just auf dem Steinhofe. Hoffentlich im kühlen Schatten! Und wir – wir schwitzen hier!… O Fritz, ich will es nur gestehen, ich habe an mehr als einem heißen Tage in der Fremde an das böse liebe Mädchen gedacht und mir dies Nach-Hause-Kommen zur Kühlung ausgemalt. Der Teufel hole alle solche Malereien! Der ist selber ein Pinsel, der da meint, nur guter Wille gehöre dazu, den rechten Ton zu treffen.«
»Die arme Frau!« murmelte ich, und der Herr von Schloss Werden sagte grimmig vor sich hin:
»Jawohl, die arme Frau! Und ich wollte noch mal, dass es erst heute übers Jahr wäre und wir alle möglichst in Ruhe!«
Ich will von dem Wege nichts weiter sagen. Wir erlebten alle Abenteuer darauf in unserer Seele. Gegen Abend, als jedoch die Sonne immer noch ziemlich hoch über den Hügeln im Westen, dem Steinhofe zu, stand, sahen wir die grauen Ecktürme unseres verzauberten, d. h. uns angezauberten Schlosses über die Linden und Kastanien aufragen. Und zehn Minuten oder eine Viertelstunde später standen wir – vor einer Mauer, die wir nicht kannten; vor einer hohen, nüchternen Mauer, die zu unserer Zeit noch nicht vorhanden gewesen war.
»Bin ich im Traum, oder haben wir uns verlaufen, und sind das dort gar nicht unser Dach und unsere Giebel?« murmelte der Ingenieur, mich ansehend.
»Schloss Werden ist es wohl noch«, seufzte ich, »aber, Ewald, andere Leute sind doch recht lange Herren hier gewesen und haben sich nach ihrem Gefallen eingerichtet. Wer hätte es überhaupt vorausgesehen, dass wir noch einmal wiederkommen würden?«
»Alle Wetter, und die verdammte Landstraße!« rief der Irländer erbost. »O die Schufte! Hier lief ja der Graben an der grünen Hecke! Und dort hingen unsere Nester in der blauen Luft und in den grünen Zweigen! Alles ruiniert! Alles glattgestampft!… Und wie wird es erst jenseits dieser Mauer aussehen? O Fritz, Fritz, wäre es nicht wiederum zu dumm, so täte ich noch mal, als ginge mich die ganze Geschichte nicht das geringste an. O meine – arme Irene! Das ist mehr als ein Symbol, diese gottverfluchte, nichtswürdige Mauer! Das ist die Wirklichkeit! Das ist, wie es ist, und ich habe es mir in meiner Albernheit und in der Fremde nur etwas anders zurechtfantasiert. So ist es, wie es ist, und ich wollte – ich säße in diesem angenehmen Moment auf Bloody Foreland Point und spuckte in den Atlantischen Ozean, statt hier an dieser Mauer mit dir zu stehen und Maulaffen feilzuhaben!«
Das war so herausgestoßen und für jeden anderen Menschen als für mich und vielleicht Irene von Everstein völlig unverständlich; ich aber verstand diesen, in diesem Augenblick des vollkommensten Gelingens seiner hartnäckigen Lebensarbeit über sich so zornigen Mann und die energische Falte zwischen seinen Brauen vollkommen. Zu sagen wusste ich jedoch jetzt auch weiter nichts als mit einem Stoßseufzer:
»O Sixtus, weshalb sind wir nicht in Korrespondenz miteinander geblieben?«
»Ich habe mein Leben auf die Lust am Leben gestellt – auf den Spaß –, du weißt es ja, Fritz. Hätte ich mich auch schriftlich oder gar durch den Druck als ein Esel manifestieren können, so gebe ich dir hiermit mein Wort darauf, dass ich es sicherlich getan hätte. Wie viel Ernst hinter dem Narrentum im Versteck lag, das magst du dir nunmehr selber zusammenkalkulieren. Und – Irene ist auch schuld daran gewesen. Fritz Langreuter, wir, das heißt sie und ich, haben vielleicht nur zu gut zueinander gepasst! Ein wenig weniger gut wäre wahrscheinlich besser gewesen, und ich stände dann nicht so da vor – dieser gottverdammten Mauer und – hätte so große Angst vor ihr, nämlich vor ihr – der Frau auf dem Steinhofe unter der Obhut des Vetters Just Everstein! Alle Wetter, wenn es dem Burschen so ausgezeichnet gut drüben in Amerika erging, so hätte er meinetwegen ruhig dort bleiben können. Du meinst, dass ihm dazu zu viel an seinem Steinhofe gelegen gewesen sei? O Fritz, ich weiß es – mir ist an diesem vertrackten Schloss Werden hinter dieser heillosen Mauer doch noch mehr gelegen gewesen, und ich habe auch darum gearbeitet und – der Kerl imponiert mir gar nicht, und ich wollte, Irene – die Frau Baronin säße im Pfefferlande, aber nicht bei ihm! Und jetzt, alter Freund, lass uns versuchen, um diese Mauer herum ein Loch zum Durchschlüpfen nach Schloss Werden zu gewinnen. Ich ziehe nicht ein in das alte Nest wie der liebe Vetter Just auf dem Steinhofe.