Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.eingetroffen; ohne alle Fährlichkeiten hatte dann auch Lucie von Rippgen die heitere Stadt am blauen Neckar erreicht und das zärtlichste Wiedersehen hatte stattgefunden. Dasselbe Hotel nahm natürlich die beiden Freundinnen auf; nach überwundenen Tränen und Küssen speisten sie zusammen auf dem Zimmer, und am Spätnachmittag unternahmen sie, begleitet von ihren Kammerjungfern, Charlotte und Virginy, einen Spazierritt zu Esel auf das Schloss, um daselbst den Kaffee einzunehmen.
Außer dem Kaffee genossen sie auf dem Schlosse auch noch den Sonnenuntergang und blickten still und verklärt in die Holdseligkeit der Natur hinein, bis die letztere ihnen zu kühl wurde. Trunken von Freundschaft und Naturgenuss ritten sie auf ihren Eseln wieder bergab, allen ihnen begegnenden lustigen Studenten gleichfalls ein Naturgenuss. Dass Miss Virginys Reittier gerade an der Ecke des Karlsplatzes bockte und die lautaufkreischende Reiterin sanft über Bug, Hals und Kopf zur Erde gleiten ließ, wurde von den beiden Herrinnen ohne alle Aufregung erlebt und von Christabel nur als ein bemerkenswertes Intermezzo für das Tagebuch notiert:
Virginy cast off by the donkey – shocking accident; – dreadful conduct of the Heidelberghian mob – shrieking and screaming – Lucy’s sublime and unaffected behaviour – went on to the hotel and supped. Sublimity of mind – true greatness of soul etc. Das heißt, die beiden Damen ließen ihre beiden Jungfern selber dafür sorgen, wie sie sich am besten der fröhlichen Schaulust und zudringlichen Hilfsleistung der Jugend und der Bummlerschaft des Karlsplatzes entzogen. Lucie und Christabel entzogen sich vermittelst einer Droschke denselben.
Sie speisten zu Abend, und sie saßen bis spät in die Nacht hinein im lieblichen Wechselgespräch; ach, und die Baronin hatte nicht die geringste Ahnung davon, welch einem Dämon sie währenddem freie Hand gegeben hatte, welch eine behaarte Tatze sich krallend auf ihr häusliches Glück legte – kurz, wie der Baron diese holden Stunden ausnutzte. Wem er sein häusliches Glück mit den buntesten Farben ausmalte und in wessen Gesellschaft er dolose die Nacht verbrachte.
Mit welchem Schrei würde Lucia aufgefahren sein, wenn ihr ein anderer Dämon ein Wort davon ins Ohr geflüstert hätte! Was würde Miss Christabel Eddish gesagt haben, wenn jemand sie jetzt schon auf die Konsequenzen dieser Nacht aufmerksam gemacht hätte. O, bekümmern wir uns nicht darum, genießen wir fröhlich die heitere Gegenwart: die Zukunft wird schon ganz von selber an uns herankommen! –
Freundschaft, Naturgenuss und europäische Modenkritik waren abgetan, mit leise anplätschernder Flut spielte und spülte das Gespräch an den Charakter Ferdinands von Rippgen heran und – zu Ende war das reizende Spiel und Getändel durchsichtiger Wellen. Lautbrandend schlugen die Wogen empor, Schaumkronen auf den gewölbten Rücken tragend, Schlamm und Sand führend, keinen Widerstand – sowie auch keine Widerlegung duldend in ihrer Energie. Wenn der Baron von Rippgen wirklich aus Granit bestanden hätte, würde das Tosen der Brandung der natürlichste Naturlaut des Universums gewesen sein. Beide Damen waren vollständig einig über den Charakter und die Lebensführung des Barons; und die Art und Weise, wie ein solches Wesen von der bessern Hälfte des menschlichen Geschlechtes zu behandeln sei, unterlag ihnen auch nicht dem mindesten Zweifel. Strenge, unbeugsame aber lächelnde Strenge war nötig, um diesen Freiherrn auf dem richtigen Wege zu erhalten, und die Baronin war sich bewusst, dass sie es immer an solcher hatte fehlen lassen; – Miss Christabel Eddish schien sogar ein kleines Übergewicht des Lebensballastes nach der Seite der Grausamkeit hin nicht zu missbilligen.
Da aber die reizenden Gestade der schönen Elbe kaum von dem Charakter Ferdinands zu trennen waren, so gerieten die zwei Freundinnen an dieselben und kamen sachgemäß in heftigster, schärfster und bitterster Weise auf die Villa Hellsitzer zu reden. Wie es möglich gewesen sei, dass ein wirklicher Ritter, Baron und Mann das Aufwachsen dieser lächerlichen Raubburg vor ihren – der beiden Damm Augen habe dulden können, war ihnen noch immer unbegreiflich, und jedes Wort, das sie zur Lösung des Rätsels gaben, machte ihnen das Faktum noch unbegreiflicher. Das Gute allein hatte das neue Gesprächsthema, dass es beide in einbohrendster Weise auf den Freiherrn zurückbrachte; Miss Christabel Eddish versprach, von der Aufregung der Busenfreundin hingerissen, im Anfang des Monats Oktober ihren Aufenthalt am Nesenbache zu nehmen, und, wie an der Elbe, mit allen ihren Kräften dem unglücklichen Weibe des Freiherrn von Rippgen gegen eben diesen Freiherrn beizustehen. Leider schwor in dem nämlichen Moment am Nesenbach Herr Christoph Pechlin dasselbe oder doch etwas ganz Ähnliches seinem Freunde Ferdinand von Rippgen, und zwar nicht im vertrauten, herzlösend-innigen Verkehr von Herz zu Herz, von Auge zu Auge, sondern in einer überfüllten, grenzenlos gemeinen Bierwirtschaft, und an einem Tische, an welchem nur zu viele gänzlich herzlose Gesellen saßen, die den Schwur sämtlich vernahmen und späterhin bezeugen konnten.
Um diese Zeit der Nacht war Pechle fast ebenso gerührt und bewegt, wie Miss Christabel Eddish!
Er hatte sein Wort gehalten, und dem Universitätsfreunde seinerseits seine Lebensgeschichte vorgetragen. Von außergewöhnlicher Bedeutung kam nichts darin vor, und wir können leicht darüber hinweggleiten. Wie es mit der Übersetzung der Werke Platos stand, blieb dunkel. Vollständig klar ist nur, dass der ehemalige Stiftler als Journalist und Berichterstatter für zwanzig bis dreißig schwäbische Lokalblätter von Heilbronn über Ulm bis Friedrichshafen sich ziemlich ehrlich und gottesfürchtig-demokratisch ernährte, und dass er mit seinem Lose nicht unzufrieden war. Ferdinand von Rippgen hatte während der Erzählung wohl mehrere Male das Haupt geschüttelt; jedoch stets nur seiner selbst und nicht ein einziges Mal des Jugendgenossen wegen.
Aber jetzt fing Pechle aus Waldenbuch an zu predigen, und das ist immer ein bedenkliches Zeichen bei einem verdorbenen Pfarrer, dessen Vater sich schon einen Bruch redete. Doch ehe das Phänomen sich zu seiner ganzen Wirkung entwickelt hatte, erhob sich am oberen Rande des Tisches ein nicht nur sehr anständig, sondern auch sehr gescheit aussehender Mensch, beugte sich, auf beide Hände sich stützend, vor und sprach im reinsten Frankfurter Deutsch:
»Nu heret, jetzt hab ich’s aber satt, euch Ochse inkognito gegeiwwer zu sitze; – ’s kommt euch was, ihr Herre!«
Und beide Freunde starrten den unhöflich-freundlichen Fremdling an, starrten und fanden bald in ihrer Erinnerung, was sie mit Aufbietung aller Kräfte so schnell als möglich zu finden suchten.
»Schmolke!« riefen sie wie aus einem