Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.in der Wildnis aufsteckt, hindert niemanden, sein Wohlwollen dem Nachbar nach Sitte der Väter zu betätigen; aber eine Villa taucht plötzlich im Dunkel der Urkunden auf; ein fabelhaftes Dynastengeschlecht, welches nachher vom frommen Äneas oder sonst einem biedern Trojaner abzustammen behauptet, hat sich zwischen Sumpf und Wald mit einem rohen Mauer- und Pfahlwerk umgeben – es ist Dämmerung geworden auf dieser Erdstelle für mehr als einen Professor der Geschichte. Ein Ortsname, der einmal in den Urkunden erschien, erlischt so leicht nicht wieder in denselben; das Eigentumsrecht ist zu Papier gebracht, und am Ende ist das Papier doch der irdische Stoff, welcher alle anderen überdauert. Die Nachkommen des alten Vaters Priamus, von germanischen Gewissensskrupeln geängstet, fundieren eine Kirche oder ein Kloster, und die Geistlichkeit ermangelt sicherlich nicht, sich das Ihrige schriftlich geben zu lassen – es wird immer lichter für den Herrn Professor. Um Kirche und Burg, unter dem Schutze des geistlichen und weltlichen Armes, erhebt ein sehr schutzbedürftiges, verwahrlostes, halb tierisches Menschenhäuflein seine Lehmhütten, und unser Freund, der Professor, mag seine Brillengläser putzen und anfangen zu spezifizieren: die Grundelemente des heutigen Gesellschaftsverbandes sind vorhanden. Advenit imperator, das heißt, ein anderer Dynast – ein Adler im Verhältnis zum Sperber – ist an der Spitze von vielen tausend guten Rittern und Knechten ins Land Italia gezogen, hat sein Heergefolge daselbst glücklich versorgt und unter den Boden gebracht und ist, nachdem er einem anderen geistlichen Herrn einige unbedeutende Konzessionen in betreff der physischen und moralischen Verwaltung der deutschen Nation machte, als wohlbestallter römischer Kaiser heimgekehrt. Der Herr Professor nennt ihn mit Namen und weiß ganz genau das Jahr anzugeben, in welchem er die Siedelung mit Stadtrechten begabte und ihr die Abhaltung eines Jahrmarktes gestattete. Wir befinden uns im allerromantischsten Mittelalter; die Schweinerei ist groß, aber das angestammte Fürstenhaus gedeiht herrlich und treibt bis zur Reformation eine Menge kurioser Blüten, deren Epitheta sich merkwürdig durch das ganze Heilige Römische Reich gleichbleiben: der Faule, der Fette, der Böse, der Eiserne haben überall regiert, überall die gleichen zivilisatorischen Erfolge erzielt und werden heute noch in sehr idealisierten Nachbildungen von dem Schlosskastellan in den respektiven Thronsälen vorgewiesen. Was ein Kastellan in den Reichspalästen zu Aachen, Ingelheim, Trebur, Trifels, Goslar den Touristen damaliger Zeit zu zeigen hatte, wollen wir dahingestellt sein lassen.
Gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts erscheint urkundlich der erste Oberbürgermeister; aber das residenzliche Bürgertum bleibt sehr geduckt im Vergleich zu dem Leben, welches sich in den Reichsstädten erhebt; die Dynastie blüht immer herrlicher und beginnt, sich weniger an dem Kaiser als an der Hansa und dergleichen unberechtigten Verbindungen zu ärgern. Der reichsunmittelbare Adel fängt an, Hofluft zu wittern; die Pfaffheit in dem Hofkloster wittert den Augustinermönch zu Wittenberg. Großes Dilemma Fürstlicher Gnaden in betreff der Kirchenverbesserung – höchst fatale, unbequemliche Situationen Fürstlicher Gnaden während des Dreißigjährigen Krieges – post nubila Phoebus! Nach dem Gewitter die Sonne! Le grand monarque! Ludwig der Vierzehnte! Pauken und Posaunen, allgemeiner Tusch!…
Merkwürdigerweise verliert die deutsche Geschichte und mit ihr die Geschichte unserer »Residenz« in dieser Epoche ihrer glänzenden Wiedergeburt jegliches Interesse für unsern Professor, er weiß sogar nichts mehr von ihr; wenn ihm seine Würde erlaubt, seine Studien bis zu dem Frieden von Münster und Osnabrück zu erstrecken, so ist das sehr viel. Wir aber, die wir keine gelehrte Würde zu behaupten haben, wir lassen uns lächelnd den gekrümmten Rücken von der aufgehenden französischen Sonne bestrahlen und erwärmen; wir ersterben alleruntertänigst vor den durchlauchtigsten Herrschaften und rufen Vivat, wenn sie in ihren Staatskarossen nach Monbrillant, Monplaisir, Monrepos, nach Ludwigsburg, Ludwigslust, Herrenhausen, Salzdahlum, Schwetzingen oder Nymphenburg zur Erholung von ihren anstrengenden Staatsgeschäften fahren. Wir machen ein tiefes Kompliment vor dem Wagen der schönen Hof-, Haupt- und Leibitalienerin; der heidnische Mohr, welchen Serenissimus aus der sündhaften Wasserstadt Venedig mitbrachte, erregt unser respektvolles Staunen; wie wir uns gegen den Hofjuden zu verhalten haben, wissen wir so recht nicht; er kann unter Umständen eine sehr gefährliche Persönlichkeit werden, und man tut am besten, auch vor ihm den Hut abzuziehen. Welches seltsame Leben und Treiben in den Häusern und auf den Gassen! Welche loyalen Bürger, welche wundervollen Hofmarschälle, Heiducken und Hofpoeten! Welche Epithalamien, Geburtstagsgedichte und Threnodien! Welche Komödien, Tragödien und vor allem welche Opern!
Wir begreifen den Herrn Professor, der nichts damit zu tun haben will, sehr gut; aber wir, die wir einen anderen Zweck verfolgen als er, wir können nicht gleich ihm unser Objekt wie einen Spargel stechen, wenn es uns gut dünkt; wir müssen es wachsen lassen bis in den hellen, heutigen Tag hinein. Der Herr Professor braucht bloß mittelalterliche Tatsachen; wir aber haben neue Blüten und Früchte nötig, und auch der Spargel erzeugt dergleichen, wenn man ihm seine Zeit gönnt.
In welcher Tiefe der deutsche Geist seine Quellen haben mag, seine »Residenzen« datieren sämtlich von diesem Dieudonné- und L’État-c’est-moi-König zu Versailles. Es ist nicht auszudenken, nicht auszuschreiben, was alles wir ihm zu verdanken haben, und niemals ist ein lumpiger Fetzen deutschen Landes wie das Elsaß mit mehr Gewinn für sämtliche Serenissimi und ihre sämtlichen Hofmarschallämter losgeschlagen worden. Erst von der Verbrennung Heidelbergs an datiert der wahre, der rechte Flor alles dessen, was – jedes Schild über der Tür jedes Hoflieferanten, so weit die deutsche Zunge klingt, besser ausdrückt und reinlicher umschreibt, als wir es vermögen. Welch ein Glanz auf den Höhen der deutschen Menschheit! Eben war’s noch der blutrote Widerschein der Reunionskriege, des Spanischen Erbfolgekriegs: nun aber ist’s couleur cuisse de nymphe, eine süße rosa Dämmerung über Taxushecken, langen, langen, schnurgeraden Alleen, Exerzierplätzen, Sandsteingöttern und -göttinnen, über Schloss und Stadt! Welche Wasserkünste, Reiterkünste und Reifröcke, welche Perücken und Komplimente; am Hof und in der Stadt welche Manschetten, Halskrausen und goldbordierten Westen! Ist es ein Wunder, wenn sich der Mann der Kaiser- und Städteregesten in schaudernder Verachtung von den Riedingerschen Kupferstichen, von Lünings Theatrum ceremoniale abwendet?
Der