Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Читать онлайн книгу.

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


Скачать книгу
Wa­chen pack­ten Quan­gel fest bei den Ar­men.

      Er mach­te sich un­wil­lig los.

      Sie pack­ten ihn noch fes­ter an.

      »Las­sen Sie den Mann al­lein ge­hen!«, be­fahl der Di­rek­tor. »Der wird schon kei­ne Schwie­rig­kei­ten ma­chen.«

      Sie tra­ten auf den Gang hin­aus. Dort stan­den eine Men­ge Leu­te, Uni­for­mier­te und Zi­vi­lis­ten. Plötz­lich hat­te sich ein Zug ge­bil­det, des­sen Mit­tel­punkt Otto Quan­gel war. An der Spit­ze gin­gen Wacht­meis­ter. Dann folg­te der Pas­tor, der jetzt einen Talar mit weißem Kra­gen trug und ir­gen­det­was Un­ver­ständ­li­ches vor sich hin be­te­te. Hin­ter ihm ging Quan­gel, in eine gan­ze Trau­be von Auf­se­hern gehüllt, aber der klei­ne Arzt im hel­len An­zug hielt sich dicht bei ihm. Da­hin­ter folg­ten der Di­rek­tor und der An­klä­ger, de­nen wie­der Zi­vi­lis­ten und Uni­for­mier­te nach­gin­gen, die Zi­vi­lis­ten zum Teil mit Fo­to­ap­pa­ra­ten be­waff­net.

      So be­weg­te sich der Zug über Kor­ri­do­re, die schlecht be­leuch­tet wa­ren, über ei­ser­ne Trep­pen, de­ren Lin­ole­um­be­lag schlüpf­rig war, durch das To­ten­haus. Und wo er vor­bei­kam, schi­en ein Stöh­nen in den Zel­len laut zu wer­den, ein ver­hal­te­nes Äch­zen aus tiefs­ter Brust. Plötz­lich rief eine Stim­me aus ei­ner Zel­le sehr laut: »Lebe wohl, Ge­nos­se!«

      Und ganz me­cha­nisch ant­wor­te­te Otto Quan­gel laut: »Lebe wohl, Ge­nos­se!« Erst einen Au­gen­blick spä­ter fiel ihm ein, wie wi­der­sin­nig die­ses »Le­be­wohl« an einen Ster­ben­den ge­we­sen war.

      Jetzt wur­de eine Tür auf­ge­schlos­sen, und sie tra­ten auf den Hof hin­aus. Noch hing das nächt­li­che Dun­kel zwi­schen den Mau­ern. Quan­gel sah rasch rechts und links, sei­ner über­wa­chen Auf­merk­sam­keit ent­ging nichts. Er sah an den Fens­tern des Zel­len­ge­fäng­nis­ses das Rund vie­ler blei­cher Ge­sich­ter, die Ka­me­ra­den, die, gleich ihm zum Tode ver­ur­teilt, noch leb­ten. Ein Schä­fer­hund fuhr laut bel­lend dem Zuge ent­ge­gen, wur­de von dem Pos­ten zu­rück­ge­pfif­fen und zog sich knur­rend zu­rück. Der Kies knirsch­te un­ter den vie­len Fü­ßen, es sah aus, als müs­se er bei Ta­ges­licht leicht gelb­lich aus­se­hen, jetzt, im Schein der elek­tri­schen Lam­pen, wirk­te er weiß­lich­grau. Über die Mau­er sah schat­ten­haft der Um­riss ei­nes ent­blät­ter­ten Bau­mes. Die Luft war frös­te­lig und feucht. Quan­gel dach­te: In ei­ner Vier­tel­stun­de wer­de ich nicht mehr frie­ren – ko­misch!

      Sei­ne Zun­ge tas­te­te nach der Glasam­pul­le. Aber es war noch zu früh …

      Selt­sam, so deut­lich er al­les sah und hör­te, was um ihn vor­ging, bis auf die ge­rings­te Klei­nig­keit, so un­wirk­lich schi­en ihm doch al­les. Dies war ihm ein­mal er­zählt wor­den. Er lag in sei­ner Zel­le und träum­te da­von. Ja, es war ganz un­mög­lich, dass er hier kör­per­lich wan­del­te, und sie alle, die hier mit ihm gin­gen, mit ih­ren gleich­gül­ti­gen oder ro­hen oder gie­ri­gen oder trau­ri­gen Ge­sich­tern, sie alle wa­ren nichts Kör­per­li­ches. Der Kies war kaum Kies, und das Schar­ren der Füße, das Knir­schen der Stein­chen un­ter den Soh­len – das wa­ren Traum­ge­räusche …

      Sie tra­ten durch eine Tür und ka­men in einen Raum, der so grell be­leuch­tet war, dass Quan­gel zu­erst nichts sah. Sei­ne Beglei­ter ris­sen ihn plötz­lich nach vorn, an dem nie­der­kni­en­den Geist­li­chen vor­bei.

      Der Scharf­rich­ter kam mit sei­nen bei­den Ge­hil­fen auf ihn zu. Er streck­te ihm die Hand hin.

      »Also, nimm mir’s nicht übel!«, sag­te er.

      »Nee, zu was denn?«, ant­wor­te­te Quan­gel und nahm me­cha­nisch die Hand.

      Wäh­rend der Scharf­rich­ter Quan­gel die Ja­cke aus­zog und den Kra­gen sei­nes Hem­des ab­schnitt, sah Quan­gel zu­rück auf die, die ihn be­glei­tet hat­ten. Er sah in der blen­den­den Hel­le nur einen Kranz wei­ßer Ge­sich­ter, die alle ihm zu­ge­wandt wa­ren.

      Ich träu­me das, dach­te er, und sein Herz be­gann stär­ker zu klop­fen.

      Aus dem Zuschau­er­raum lös­te sich eine Ge­stalt, und als sie nä­her kam, er­kann­te Quan­gel den klei­nen, hilfs­be­rei­ten Arzt im hell­grau­en An­zug.

      »Nun?«, frag­te der Arzt mit ei­nem mat­ten Lä­cheln. »Wie geht es uns?«

      »Im­mer ru­hig!«, sag­te Quan­gel, wäh­rend ihm die Hän­de auf dem Rücken ge­bun­den wur­den. »Im Au­gen­blick habe ich ziem­li­ches Herz­klop­fen, aber ich neh­me an, das wird sich in den nächs­ten fünf Mi­nu­ten ge­ben.«

      Und er lä­chel­te.

      »War­ten Sie, ich gebe Ih­nen was!«, sag­te der Arzt und griff in sei­ne Ta­sche.

      »Ma­chen Sie sich kei­ne Mühe, Herr Dok­tor«, ant­wor­te­te Quan­gel. »Ich bin gut ver­sorgt …«

      Und für einen Au­gen­blick zeig­te die Zun­ge zwi­schen den dün­nen Lip­pen die Glasam­pul­le …

      »Ja, dann!«, mein­te der Arzt und sah ver­wirrt aus.

      Sie dreh­ten Quan­gel um. Jetzt sah er vor sich den lan­gen Tisch, der mit ei­nem glat­ten, stump­fen, schwar­zen Über­zug be­deckt war, wie Wachs­tuch. Er sah Rie­men, Schnal­len, aber vor al­lem sah er das Mes­ser, das brei­te Mes­ser. Es schi­en ihm sehr hoch über dem Kopf zu hän­gen, dro­hend hoch. Es blink­te grau­sil­bern, es sah ihn tückisch an.

      Quan­gel seufz­te leicht …

      Plötz­lich stand der Di­rek­tor ne­ben ihm und sprach mit dem Scharf­rich­ter ei­ni­ge Wor­te. Quan­gel sah un­ver­wandt auf das Mes­ser. Er hör­te nur halb hin: »Ich über­ge­be Ih­nen als dem Scharf­rich­ter der Stadt Ber­lin die­sen Otto Quan­gel, dass Sie ihn mit dem Fall­beil vom Le­ben zum Tode brin­gen, wie es an­ge­ord­net ist durch rechts­kräf­ti­ges Ur­teil des Volks­ge­richts­ho­fes …«

      Die Stim­me schall­te un­er­träg­lich laut. Das Licht war zu hell …

      Jetzt, dach­te Quan­gel. Jetzt …

      Aber er tat es nicht. Eine fürch­ter­li­che, pei­ni­gen­de Neu­gier kit­zel­te ihn …

      Nur noch ein paar Mi­nu­ten, dach­te er. Ich muss noch wis­sen, wie es auf die­sem Tisch ist …

      »Nun mal los, al­ter Jun­ge!«, mahn­te der Scharf­rich­ter. »Mach jetzt kei­ne lan­gen Ge­schich­ten. In zwei Mi­nu­ten hast du es aus­ge­stan­den. Hast du üb­ri­gens an die Haa­re ge­dacht?«

      »Lie­gen an der Tür«, ant­wor­te­te Quan­gel.

      Ei­nen Au­gen­blick spä­ter lag Quan­gel auf dem Tisch, er fühl­te, wie sie sei­ne Füße fest­schnall­ten. Ein stäh­ler­ner Bü­gel senk­te sich auf sei­nen Rücken und press­te sei­ne Schul­tern fest ge­gen die Un­ter­la­ge …

      Es stank nach Kalk, nach feuch­tem Sä­ge­mehl, es stank nach Des­in­fek­ti­ons­mit­teln … Aber vor al­lem stank es, al­les an­de­re über­täu­bend, wi­der­lich süß nach et­was, nach et­was …

      Blut …, dach­te Quan­gel. Es stinkt nach Blut …

      Er hör­te, wie der Scharf­rich­ter lei­se flüs­ter­te: »Jetzt!«

      Aber so lei­se er auch flüs­ter­te, so lei­se konn­te kein Mensch flüs­tern, Quan­gel hör­te es doch, die­ses »Jetzt!«

      Er hör­te auch ein sur­ren­des Geräusch …


Скачать книгу