Bleib bei mir, kleine Lady. Barbara Cartland
Читать онлайн книгу.sein“, hatte der Herzog gesagt.
„Natürlich“, hatte die Gräfin entgegnet. „Aber heute Nacht sind wir ungestört, mein Geliebter.“
„Mit George unter demselben Dach?“
„Er hat sich verkühlt und schläft in seinem Zimmer. Und ich komme zu dir. Oh Andrew, du weißt gar nicht, wie sehr ich mich nach dir sehne und wie ich dich brauche.“
„Meine arme Daisy! Aber wir mußten so handeln. Wie hätte ich auch nur ahnen können, daß Elsie sechs Monate nach deiner Heirat stirbt?“
„Das Schicksal war gegen uns“, hatte die Gräfin seufzend gesagt. „Aber jetzt werde ich dich wieder sehen können. Du ahnst nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe, wie du mir gefehlt hast. Nie in meinem Leben bin ich einem attraktiveren Mann begegnet.“ Sie hatte die Stimme gesenkt. „Und nie einem leidenschaftlicheren Liebhaber.“
Gracila hatte geglaubt, zu Stein erstarren zu müssen. Und dann hatte Stille geherrscht, und sie hatte gewußt, daß der Herzog ihre Stiefmutter küßte. Einen Augenblick später hatte sie gehört, wie die Tür zur Bibliothek geschlossen wurde, und war wieder allein gewesen.
Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und war unfähig gewesen zu begreifen, was sie hier mit angehört hatte.
Doch dann hatte sie der Wahrheit ins Gesicht gesehen.
Der Herzog war der Geliebte ihrer Stiefmutter und war es auch schon vor der Heirat mit ihrem Vater gewesen.
Als ihr Vater wieder geheiratet hatte, war Gracila gar nicht auf den Gedanken gekommen, in ihrer Stiefmutter eine begehrenswerte Frau zu sehen.
In Büchern hatte sie von Frauen mittleren Alters gelesen, die auf dramatische und oft tragische Weise die Liebe suchen, aber sie hatte nicht geglaubt, je selbst damit konfrontiert zu werden.
Ihr Vater war ein Mensch, der streng und unnahbar wirkte, und weil sie immer die Jüngste in der Familie gewesen war, hatte sie ihn, zumindest als Kind, für ziemlich alt gehalten.
Ihre Mutter hatte ihren Vater sehr geliebt, aber sie war sehr viel jünger gewesen als er und er hatte in ihr stets ein zartes Geschöpf gesehen, um das man sich kümmern und das man verwöhnen mußte. Gracilas Mutter war nach deren Geburt sehr zerbrechlich und anfällig gewesen, hatte dabei auch so jung ausgesehen, daß man sie für die ältere Schwester Gracilas hätte halten können.
Erst nach ihrem Tod war es Gracila klar geworden, welch großartige Freundin ihre Mutter gewesen und wie einsam und verloren sie ohne sie war.
In jener Zeit war der Graf von einer sehr zielstrebigen und sehr weltgewandten Frau umgarnt worden.
Daisy hatte ihm alles gegeben, was er, ohne es zu wissen, in der liebreizenden Kindlichkeit seiner zweiten Ehefrau Elizabeth vermißt hatte.
Doch jetzt, im Erker der Bibliothek, hatte Gracila begriffen, warum sie ihrer Stiefmutter instinktiv mißtraut hatte und warum Dinge, die sie aussprach, oft so falsch wirkten.
Gracila war schließlich aufgestanden, hatte den Gedichtband an seinen Platz zurückgestellt und gewußt, daß sie nie einen Mann heiraten würde, der sie nicht liebte.
Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und war erst wieder zum Abendessen nach unten gegangen. Sie hatte den Herzog und ihre Stiefmutter beobachtet und das Gefühl gehabt, als einziger Zuschauer ein sehr unangenehmes Schauspiel vor sich abrollen zu sehen.
Ihr Vater war der perfekte Gastgeber gewesen, und Gracila hatte förmlich gespürt, wie glücklich er war, eine so einflußreiche Persönlichkeit zum Schwiegersohn zu bekommen.
Er ahnt es nicht einmal, hatte Gracila immer wieder denken müssen.
Zum ersten Mal hatte sie die Stiefmutter nicht als einen Menschen gesehen, nach dem sie sich richten mußte, sondern als eine Frau ohne Moral, die ihre Reize schamlos zur Schau trug.
Allerdings hatte Gracila zugeben müssen, daß dies nur jemandem auffiel, der den Schlüssel zur Lösung des Rätsels besaß.
Als sich Gracila nach dem Abendessen in ihr Zimmer zurückzog, wußte sie plötzlich, daß es nur eine Möglichkeit gab - sie mußte weglaufen.
Sie hätte es nie über das Herz gebracht, ihrem Vater die Wahrheit zu sagen, und wie hätte sie ohne diese Wahrheit die Abscheu vor der bevorstehenden Heirat begründen sollen?
Man hätte ihr entgegnet, sie sei eben im Augenblick etwas nervös, aber das würde sich schon wieder geben. Ihre Einwände wären beiseitegeschoben worden, und sie wäre gezwungen gewesen, einem Mann ihr Jawort zu geben, der sie lediglich geheiratet hatte, um das Verhältnis mit ihrer Stiefmutter fortsetzen zu können.
In dieser Nacht sollte Gracilas Vater unter dem eigenen Dach betrogen werden, und da Gracila dies wußte, mußte sie sofort handeln.
Daß sie nicht zu ihren Verwandten gehen und um ihre Hilfe bitten konnte, war ihr klar. Sie wäre auf Unverständnis gestoßen und hätte lediglich zu hören bekommen, daß man einen so einflußreichen Mann wie den Herzog nicht abweist. Noch dazu im letzten Augenblick.
Für ihre Freunde galt das gleiche. Beim Gedanken an die zehn Brautjungfern, die ihre Stiefmutter aus den besten Familien des Landes ausgewählt hatte, lief es Gracila kalt über den Rücken. Sie hatten sich elegante, teure Kleider anfertigen lassen, hatten ihre Blumenbouquets bestellt und konnten den Tag kaum erwarten.
Und nicht nur sie. In der großen Scheune waren bereits die Tische und Bänke für die Pächter und Landarbeiter aufgestellt, die hier bewirtet werden sollten.
Wie sollte das alles rückgängig gemacht werden? Gracila wußte es nicht. Sie wußte nur, daß die Hochzeit nicht stattfinden durfte. Verschwinden war die einzige Möglichkeit. Wenn keine Braut da war, mußte die ganze Maschinerie, die für die Hochzeitsfeierlichkeiten angekurbelt worden war, angehalten werden.
Und dann war ihr plötzlich Millet eingefallen.
Weil ihre Stiefmutter Millet nicht gemocht und behauptet hatte, er leiste keine zufrieden stellende Arbeit, hatte er gehen müssen. Daß er immer zur Familie gehört hatte und nach fast dreißig Jahren treuer Dienste nicht hätte entlassen werden dürfen, hatte sie nicht berührt.
Sie hatte offensichtlich ihre Gründe gehabt. Dienstboten wußten meistens zu viel, und sie redeten zu viel. Diejenigen, die von ihr persönlich angestellt waren, würden nicht so schnell über ihre Handlungsweise schockiert sein und sie vor allem nicht verraten.
Der Gedanke an Millet war Gracila wie die Rettung erschienen. Von ihrem Vater und ihrer Mutter abgesehen, hatte sie nie einen Menschen mehr geliebt als ihn.
Das erste Wort, das sie hatte sprechen können, war ,Mitty‘ gewesen. Wann immer sie ihrer Kinderfrau hatte entkommen können, war sie zu ihm gelaufen, hatte in der Geschirrkammer auf seinen Knien gesessen oder ihm beim Silberputzen zugesehen.
Mitty wird mich aufnehmen und verstecken, hatte sie gedacht und wieder Hoffnung geschöpft.
Als sich Mitty von ihr verabschiedet hatte - Gracila erinnerte sich noch gut daran, wie ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen waren -, hatte er gesagt, wohin er gehen würde.
Wie jämmerlich er in seinen eigenen Kleidern ausgesehen hatte! Ein trauriger alter Mann, der mit dem würdigen Butler in Livree kaum mehr etwas zu tun hatte.
„Und was machen Sie denn jetzt, Mitty?“ hatte Gracila voll Mitleid gefragt. Sie hatte es immer noch nicht fassen können, daß jemand, der so sehr zu ihrem Leben gehörte, einfach ersetzt werden sollte.
„Ich finde schon eine neue Stellung, Mylady“, antwortete Millet. „Vorerst gehe ich zu meiner Schwester.“
„Zu Mrs. Hansell in Baron’s Hall?“
Millet nickte.
„Sie müssen mir aber versprechen, daß Sie mir Bescheid sagen, wenn Sie eine neue Adresse haben.“
„Das verspreche ich Ihnen, Mylady.“
„Ich