Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas Suchanek

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Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek


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mir jetzt genau zu«, sie hob tatsächlich dozierend den Zeigefinger. »Sobald wir durch die Tür schreiten, wird der Alterungszauber greifen. Ich bin immun. Ihr beiden jedoch nicht. Normalerweise. Die Steine lenken den Zauber jedoch auf sich. Langsam werden sie altern, zerbröckeln, Stück für Stück. Bevor sie gänzlich zerfallen, müsst ihr den Bereich wieder verlassen haben. Andernfalls bleiben von euch nur Knochen und Staub übrig, verstanden?«

      »Ja«, brachte Max hervor. Prompt verschluckte er sich. Fort war das Kaugummi.

      »Natürlich«, bestätigte auch Clara.

      Johanna trat vor das Portal. Sie hob beide Hände, malte jedoch kein Symbol in die Luft. Stattdessen sprach sie: »Porta apertus. Tempus Fugit.«

      Die Eisenstreben zerflossen, wurden zu einem runden Siegel, das sich im Zentrum der Tür neu bildete. Dann schwang sie auf.

      Eine Gänsehaut befiel Clara.

      Sie warf einen Blick zu Max, der auf die Tür starrte. Mit seinem wuscheligen dunklen Haar, den großen Augen und dem hübschen Gesicht wirkte er verdammt jung. Doch sie wusste, dass der äußere Schein trog. Wenn es hart auf hart kam, konnte er Gebäude einstürzen lassen.

      Sie schaute in den gähnenden schwarzen Schlund. Soweit ihr bekannt war, hatte außer ihnen beiden noch nie jemand außerhalb des Rates die verbotenen Katakomben betreten. Warum nahm Johanna sie überhaupt mit?

      Die Rätin schnippte, die Fackeln an der Wand entzündeten sich. Schnell schritt sie voran. Clara wurde etwas schummrig, als sie die weiten Gangfluchten betraten. Ihre Rechte klammerte sie um den weißen Stein. Schon jetzt lösten sich winzige, feingranulare Partikel und wehten davon wie Sand.

      Die Gänge verschwanden. Johanna führte sie über einen schmalen Steg. Ringsum gab es nur Räume. Oben, unten, rechts, links. Sie rotierten um den Steg, der das Zentrum bildete.

      »Wie soll man daraus etwas bergen?«, fragte Max.

      »Indem man einfach zu einem der Räume springt. Die Richtung der Schwerkraft wechselt. Sobald der Körper nahe genug ist, sinkt oder steigt er dem Ziel entgegen«, erklärte Johanna.

      Sie ging unbeirrt weiter.

      Räume flogen vorbei. Clara nahm aus den Augenwinkeln Schatten darin wahr. In einem entdeckte sie eine alte Porzellanpuppe, die von rötlichem Licht beschienen wurde. Für einen Moment war sie überzeugt davon, dass diese ihr zugeblinzelt hatte. »Was für ein scheußlicher Ort«, murmelte sie.

      Max nickte stumm. Fast schon hektisch sah er sich um. »Wenn es nicht um Kev und Jen ginge, wäre ich längst weggerannt.«

      Er zwinkerte ihr schelmisch zu, was sie ihm ausnahmsweise nicht abnahm. Hier unten konnte einfach niemand gut gelaunt sein.

      Sie erreichten einen kreisrunden Raum, in dessen Innerem ein düsteres Glühen vorherrschte. Leonardo stand dort, gebeugt über ein seltsames Gebilde. Eine Konstruktion aus Holz, Bronze und Gold. Doch das Artefakt war nicht starr, es bewegte sich unaufhörlich, veränderte sein Äußeres durch das Verschieben von Holzstreben, Bronzeplatten und Goldornamenten. Im Inneren schwebte ein glühender Ball.

      »Was tust du?!«, rief Johanna.

      Leonardo fuhr auf, war aber nur eine Sekunde lang überrascht. Dann sagte er pragmatisch: »Alles, was notwendig ist. Du solltest wissen, in welcher Gefahr wir schweben.«

      »Der Foliant ist versiegelt …«

      »… oder auch nicht«, unterbrach der Unsterbliche. »Wir wissen überhaupt nicht mehr, was nach seiner Entwendung geschehen ist.«

      »Deshalb wollte Jens Team das herausfinden«, stellte Johanna klar. »Aber du hast es unterbunden. Ohne Rücksprache.«

      Leonardo schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Nicht noch einmal. Vor einhundert Jahren haben wir gesehen, was geschieht, wenn wir den falschen Leuten vertrauen, zu zögerlich handeln und nicht mit aller Gewalt zurückschlagen.«

      Nun erbleichte Johanna regelrecht. »Das ist Geschichte. Wir sollten aus ihr lernen, aber uns keinesfalls zu unbedachten Handlungen verleiten lassen.«

      »Sagst du das auch noch, wenn sie den Folianten entschlüsseln«, fragte er. »Wenn die Legende stimmt, steht darin, wie der Wall zerstört werden kann – und nicht nur das. Joshuas Linie …«

      »Genug«, forderte Johanna. »Das spielt keine Rolle. Was immer die verdammte Schrift offenbaren mag, du kannst deshalb keinen Massenmord begehen.«

      Leonardo schluckte. »Ich werde den Raum um die Zitadelle schrumpfen lassen. Das geht schnell. Niemand darin wird etwas davon merken.« Er berührte das Artefakt, das stärker rotierte.

      »Nein«, brüllte Max. »Kevin und Jen sind dorthin unterwegs, um Chris und Alex zu retten.«

      »Was?!« Der Unsterbliche schaute wütend zu ihm herüber. »Ich habe euch ausdrücklich verboten, weiter zu recherchieren. Wie konnte der Bund zwei von uns entführen? Und warum gehen zwei weitere allein auf die Suche?!« Leonardo wirkte schockiert. Erst jetzt erfuhr er vom Kidnapping und dessen Folgen. »In Ordnung.« Seine Schultern sackten herab. »Wir finden einen anderen Weg. Aber darüber sprechen wir noch!«

      Er berührte das Artefakt an einer bestimmten Stelle.

      Keine Reaktion.

      »Was ist los?«, fragte Johanna. Sie trat neben ihn.

      »Es reagiert nicht.«

      Die Holzsphären rotierten schneller, das rote Glühen im Inneren gewann an Intensität, Konturen schälten sich hervor: ein Gebäude, in das das Castillo locker dreimal hineingepasst hätte. Über ihm wölbte sich eine Kuppel, die Erde und Stein zurückhielt.

      »Wie konntest du nur dieses Ding benutzen«, schrie die Rätin. »Es hat das große Beben in San Francisco von 1906 ausgelöst. Hat das nicht gereicht?«

      »Weil es falsch angewendet wurde«, konterte Leonardo.

      »Ach, und jetzt scheint es besser zu funktionieren?« Johanna ging in die Knie. »Der Mechanismus ist in Ordnung. Es hätte reagieren müssen.« Mit den Fingern strich sie über jene Stelle auf dem Holz, die auch der Unsterbliche zuvor berührt hatte.

      Clara hielt den Atem an. Einmal mehr wurde ihr bewusst, dass sie in den Augen der Räte alle nur unbedarfte Kinder waren, kaum mehr sein konnten. Johanna von Orléans und Leonardo da Vinci hatten wichtige Punkte der Menschheitsgeschichte miterlebt. Das hatte sie geformt. Sie starrte auf das Artefakt. Natürlich wusste sie um das große Beben von San Francisco. Dass Magie es ausgelöst hatte, war ihr jedoch neu.

      Vielleicht sollte ich doch mal eine Vorlesung in magischer Geschichte belegen.

      Im Inneren des Artefaktes hatte sich das Bild gefestigt. Nun begann die Sphäre, die es umgab, zu schrumpfen. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, zu begreifen, was mit dem realen Abbild geschah, das irgendwo dort draußen existierte.

      Clara umklammerte den Kontaktstein. »Bitte nicht.«

      Johanna runzelte die Stirn. »Jemand hat daran rumgespielt«, sagte sie leise. »Schau, hier.«

      Leonardo stutzte. »Tatsächlich. Aber wieso ist das niemandem aufgefallen? Jedes Artefakt wird untersucht, gereinigt und gesichert, bevor es eingelagert wird.«

      »Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Da wir nicht wissen, wann es geschehen ist, lässt sich das kaum feststellen. Aber eines ist sicher: Ich kann das nicht lösen.«

      Leonardo schüttelte den Kopf. »Dito. Ist Einstein im Castillo?«

      »Nein. Unterwegs.«

      Clara wurde immer unruhiger.

      Schließlich stand die Rätin auf. »Wir können nichts tun.« Sie schaute betrübt zu ihnen herüber. »Das Artefakt wird den Zauber vollenden, unaufhaltsam. Uns bleibt nur zu hoffen, dass Jen und Kevin die beiden rechtzeitig finden und herausholen.


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