Kindheit, Jugend und Krieg. Theodor Fontane

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Kindheit, Jugend und Krieg - Theodor Fontane


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ein furchtbar anschauliches Bild von der Macht und Kraft der Verzweiflung. Alle sollten sich das in allen Lebenslagen gesagt sein lassen, auch im Leben der Völker. An Verborgenbleiben oder an Ablenken auf andere war nicht zu denken, und eh ein Tag um war, waren Mohr und Frau in Fesseln. Darüber waren nun beinah anderthalb Jahre vergangen, und noch immer schwebte die Sache. Sonderbarerweise kann ich mich nicht entsinnen, damals unter einem besonderen Angstgefühle gestanden zu haben, auch nicht einmal, als ich eines Tages schon bei Dunkelwerden an dem mit Eisentraillen versehenen Rathausgefängnis vorüberging und die Straßenjungen mir zuriefen: »Kuck, da sitzt Mohr.« Aus dieser meiner vergleichsweisen Ruhe wurde ich erst aufgestört, als es an einem Sonnabend, ich glaube, es war im Frühjahr 28, hieß: »Heute sind sie gekommen.« Die, die gekommen sein sollten, waren der Scharfrichter und seine Knechte. Es hatte auch seine Richtigkeit damit, wovon ich mich bald selbst überzeugen sollte. Jeden Nachmittag machten wir, mein Bruder und ich, einen Spaziergang an dem schon in den Dünen gelegenen Kirchhof vorüber auf den Strand zu. So auch an jenem Sonnabend. Der Kirchhof lag bereits hinter uns, und das Meer, wenn der Weg etwas anstieg, blitzte schon hier und da vor uns auf, als wir plötzlich einer Anzahl von Leuten ansichtig wurden, die links ab vom Wege in einer von Strandhafer überwachsenen Dünenschlucht ein sonderbares Gerüst aufschlugen, nicht viel größer als ein großer Tisch. Sie klopften gerade große Nägel mit Eisenringen daran in die Bretter des Podiums, darauf außerdem noch Holzklötze standen, ein halbes Dutzend oder ein paar mehr. Die Leute aber, die dabei beschäftigt waren, waren nicht Zimmerleute, sondern die, von denen es hieß, daß sie gekommen seien. Sie ließen sich nicht stören, und wir unsererseits, nachdem wir das unheimliche Bild uns eingeprägt, gingen rasch weiter auf den Strand zu, wo der Blick aufs Meer uns wieder frei machte.

      Gegen Dunkelstunde waren wir, auf einem Umwege, wieder in unserer Wohnung zurück; aber da wurde nicht viel von dem, was bevorstand, gesprochen, und erst am Abend erfuhren wir, daß mein Papa mit dabeisein werde und das Kommando habe. Richtig, es war so. Als großer stattlicher Mann und 1813 er war er ausersehen, an der Spitze der bewaffneten Bürgerschaft zu marschieren und draußen vor Beginn der Exekution das Schafott mit seinen Leuten kreisförmig zu umstellen.

      Als der Montag da war, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sah ich denn auch meinen Vater in pontificalibus. Er hatte einen Hut mit einer Feder auf und trug einen kolossalen Schleppsäbel, dessen blanke Messingscheide mir noch in diesem Augenblicke vor Augen steht. Die Freiwilligenbüchse, die keine Büchse war, hatte ihren verstaubten Platz zwischen den Flurschränken nicht verlassen, denn als Offizier war es sein Recht und seine Pflicht, nur den Säbel zu führen. Wir Kinder schlichen uns bis in die Nähe des Rathausplatzes, von wo aus der Zug sich alsbald in Bewegung setzte, erst eine Abteilung Schützengilde, dann die Schleife mit den beiden Verurteilten, rechts und links von ein paar der besten Schützen begleitet; abschließend dann die gesamte bewaffnete Bürgerschaft. Die Stadt war wie ausgestorben, alles draußen oder im Gefolge. Wie die Letzten außer Sicht waren, zogen wir uns in unser Haus zurück. Einige befreundete Damen begleiteten meine Mutter, die merkwürdig ruhig war; sie fand alles, was vorging, nur in der Ordnung, Aug um Auge, Zahn um Zahn, und ließ den Damen, die mit bei uns eingetreten waren, ein Glas Portwein reichen. Dann sprach sie von ganz andern Dingen; sie wollte falsche Sentimentalität nicht aufkommen lassen und hatte recht wie immer.

      Inzwischen gingen die Dinge draußen ihren Gang. Mit der Frau ging es rasch. Dann kam Mohr an die Reihe. Man legte ihn auf die Klötze – denn die vorzunehmende Prozedur war die des Räderns – und schob ihm dann einen zur Schleife geschlungenen Strick rasch um den Hals, der nun durch die Ringe hindurch von zwei Seiten her fest angezogen werden sollte. Das war, damit er fester liege; aber eigentlich war es, um der Qual ein rascheres Ende zu machen; ein sehr zu billigendes Verfahren. Im selben Momente jedoch, wo die Knechte, die es gut meinten, den Strick scharf anzogen, riß dieser von der dabei angewandten Gewalt, und Mohr, der bis zum letzten Augenblicke den unsinnigen Glauben an seine Begnadigung »noch von Jena her« festgehalten hatte, richtete sich auf, fixierte den neben ihm stehenden Scharfrichter und sagte mit einem grausigen Freudenausdruck im Auge: »Wat wird nu aus Muhrn?« Er hatte nicht lange zu warten. Eine neue sich um seinen Hals legende Strickschleife war die Antwort auf seine Frage.

      Gegen elf waren alle von der Exekution zurück, mein Vater in sichtlicher Erregung, aber diese doch auch wieder gedämpft durch das Gefühl der verantwortlichen Kommandorolle, die sein Teil bei der Sache gewesen war. Er erzählte den Hergang ziemlich ruhig, nur mit besonderer Betonung einzelner französischer Wörter wie massacre, sangfroid, pitoyable, zu denen er immer griff, wenn er etwas scharf markieren wollte. Mir war zumut, als ob wenigstens ein Unwetter heraufziehen oder eine Sonnenfinsternis stattfinden müsse; es kam aber nichts derart, und in verhältnismäßig kurzer Zeit – was mit dem langen Schweben des Prozesses zusammenhängen mochte – war alles vergessen.

      Indessen bei dem geringsten Anstoß, und der kam öfter als mir lieb war, war die Sache doch wieder da. Das Mohrsche Ehepaar hatte einen Sohn hinterlassen, einen schwarzen, etwas sonderbaren Jungen in meinem Alter, der wie ein Igel aussah, so standen ihm die kurzen starren Haare vom Kopf ab. Er merkte auch, daß ich ihm nach Möglichkeit aus dem Wege ging, aber er war mir darum nicht gram, denn er hatte bei den Begegnungen doch wohl herausgefühlt, daß sich in mein Entsetzen viel Teilnahme über sein Geschick einmischte.

      Schließlich war ich wohl nur noch der einzige, der sich mit der Sache, wenigstens vorübergehend, beschäftigte. Und das kam so. Jahrelang hatte das kleine Staketenzaunhaus, drin der Mord geschehen war, leer gestanden, und die Blumen in dem halb verwilderten Vorgarten blühten für niemanden. Da, im Sommer 30, als ich bei untergehender Sonne mit meinem Papa vom Seebade zurückkam und bei der Gelegenheit auch den Rathausplatz und das Staketenzaunhaus passierte, sah ich mit einem Male, daß die bis dahin geschlossenen grünen Jalousien aufgemacht und die kleinen Fenster des Wohnzimmers geöffnet waren. An einem derselben aber saß ein Gerichtsaktuarius, ein fideler Herr, den ich sehr gut kannte, und blätterte, während er Tabakswolken in die Luft blies, in einem vor ihm liegenden Aktenbündel. Er saß so, daß er eine gelbe Malvenstaude links und eine rote rechts hatte. Das Ganze war ein Bild äußersten Behagens. Ich wies darauf hin und sagte zu meinem Vater: »Das ist ja gerade die Stube ...« – »Ja, das ist die Stube«, wiederholte er, »mein Geschmack wär es auch nicht.« Aber mit dieser kurzen Bemerkung war es abgetan, und ich empfand an jenem Tage zum ersten Male, was ich seitdem so oft empfunden habe, daß es mit den Schreckensdingen eine eigene Bewandtnis hat, geradeso wie mit der Einwirkung von Sturm und Unwetter auf uns. Einige können bei Sturm nicht schlafen, andere aber schlafen dann am besten und wickeln sich mit einem ganz besonderen Behagen in ihre Decke.

      Mein Vater, als wir vom Rathausplatze samt seinem seine Pfeife schmauchenden Aktuarius wieder nach Hause kamen, erzählte natürlich von meinem Entsetzen über das wieder bewohnte Haus. Alle lachten mich aus, besonders die Dienstleute, und die gute Schrödter sagte: »Das fehlte auch noch, daß solch Kerl wie Mohr arme Leute um ihre Miete bringt.« Ich mußte mir den Spott gefallen lassen, und mein Vater, der guten Schrödter zustimmend, sprach von Weichlichkeit und Schwäche. Trotzdem traf es sich so, daß dasselbe Jahr noch mir und meinem Angstgefühle zu einer Art Rechtfertigung verhalf, und zwar war es mein Papa selber, den die längst abgetane Geschichte sehr gegen seinen Willen doch wieder gepackt haben mußte.

      Der November hatte mit einem richtigen Nordwester eingesetzt, und was nicht hinaus mußte, saß am warmen Ofen. Mein Vater aber, der sich sagen mochte, daß sein Schimmel, der überhaupt immer über sein Tun und Lassen entschied, schon seit einer halben Woche nicht aus dem Stall gekommen sei, setzte sich in den Sattel und ritt auf den Strand zu. Spätnachmittag war es stiller geworden, und die Mondsichel stand schon blaß zwischen zerrissenem Gewölk, als er, die Dünen passierend, plötzlich in unmittelbarste Nähe der Stelle kam, wo sie »Mohr und seine Frau« eingescharrt hatten. Und jetzt sah er auch dicht neben sich den kleinen Schlängelpfad, der auf die Stelle zuführte. Da mit einem Male wollte der Schimmel nicht weiter, bog nach rechts hin aus und prustete und schäumte so, daß es die größte Mühe kostete, an der Stelle vorbeizukommen. »Ich wette, der Schimmel hat gewußt, da liegt Mohr; oder er hatte wenigstens die Witterung.« Meine Mutter aber lachte: »Wenn sich doch alles so leicht erklären ließe. Du hast dich geängstigt, und als das Tier deine Angst merkte, da kam es auch in Angst. Ich glaube nicht an Spuk; aller eh ich glaube, daß sich dein Schimmel um Mohr und seine Frau kümmert,


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