Die Entdeckung des Nordpols. Robert E. Peary

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Die Entdeckung des Nordpols - Robert E.  Peary


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du dorthin, bleibst du sein.‹

       Stündlich wird der Schatten länger, Stündlich wird der Cirkel enger, Den die Sonn’ am Himmel malet, Bis kein Lichtatom mehr strahlet Doch das Ich des Stolzen friert, Bis die Welt sich neu gebiert.«

      Was als Warnung davor gedacht war, die letzten Geheimnisse der Schöpfung zu entweihen – und was sich am Anfang des 21. Jahrhunderts durchaus als ökologisches Menetekel deuten lässt –, korrespondierte nun für kurze Frist mit dem Zögern von Abenteurern, den Nordpol direkt zu attackieren.

      Stattdessen befestigten sie den Belagerungsgürtel um das ebenso abstoßende wie anziehende Nichts: Der Russe Ferdinand Petrowitsch Baron von Wrangel sondierte 1821 sechsundvierzig Tagesmärsche oberhalb der Bäreninsel; die Österreicher Julius Ritter von Payer und Karl Weyprecht entdeckten 1873 Franz-Joseph-Land; und der Amerikaner George Washington De Long sah 1881 als Erster die Neusibirischen Inseln.

      Immerhin wurde, während die »Parts Unknown« peu ä peu von den Atlanten verschwanden, – vorrangig von Engländern – das Match fortgesetzt, wer »Farthest North« erklimmt: 1827 kam William Edward Parry von Spitzbergen aus auf 82° 45’; 1875 – ein halbes Jahrhundert später – gelangte George Strong Nares vom Smith-Sund her auf 82° 48’; und 1876 erreichte Albert Hastings Markham via Grönland 83° 20’, was zwei Gefährten des Amerikaners Adolphus Washington Greely auf einer parallelen Route 1882 um ganze sieben Kilometer überboten.

      Sie alle aber deklassierte das Experiment, das Fridtjof Nansen am 14. März 1895 begann. Er hatte sich nordwestlich der Neusibirischen Inseln mit der »Fram« vom Eis Huckepack nehmen lassen und war bei dessen Drift auf einer Position von 102° östlicher Länge und 84° nördlicher Breite gemeinsam mit seinem meteorologischen Assistenten Fredrik Hjalmar Johansen aus dem Unternehmen ausgeschert und zum Nordpol aufgebrochen. Doch nach wenigen Kilometern hatten sie ein Geröllfeld vor sich, in dem es kein Vorwärtskommen mehr gab. »Es ist ein wahres Chaos von Eisblöcken, das sich bis an den Horizont ausdehnt. Es hat keinen Sinn, noch weiter vorzudringen, wir opfern die kostbare Zeit und erreichen nichts.«

      Geleitet von der Klugheit des Pragmatikers – und nicht von der Hybris des Tegner’schen Wallers im Schnee –, kehrte Nansen bei 86° 04’ dem »Großen Nagel« den Rücken und fand nach einem tolldreisten Marsch, der unter dem guten Stern der Barents-Crew stand, 1896 wohlbehalten nach Norwegen zurück.

      Dort war er noch nicht eingetroffen, da tüftelte in Stockholm Salomon August Andree an einem Ballon, der seinen Erfinder samt zwei Kameraden von Spitzbergen aus über den Nordpol tragen sollte. Andree hatte eine Technik ersonnen, seine »Luftkugel«, die normalerweise in derselben Strömung und Geschwindigkeit wie der Wind treiben würde und somit in ihrem Kurs nicht zu beeinflussen war, steuerbar zu machen: Er beschwerte sie mit mehreren Trossen, die – solange man in mäßiger Höhe dahinglitt – über die Erdoberfläche schleiften. Hierdurch wurde das Gerät gebremst, die Brise war wieder spürbar, und der »Adler« konnte mithilfe von aufgespannten Tüchern manövriert werden wie ein Segelboot.

      Weil Andree jedoch die Glanzleistung des Norwegers Nansen als nationale Herausforderung ansah, brachte er sich selbst in einen Handlungszwang, der jedes rationale Agieren lähmte. Als er am 11. Juli 1897 von Spitzbergen aufstieg, entwanden sich die unteren zwei Drittel der Seile ihrer Verschraubung und »aus dem halb gefesselten Ballon war«, wie ein Chronist konstatierte, »ein Freiballon geworden«. Anstatt nach diesem Malheur das Projekt unverzüglich abzubrechen, überließ sich Andree in der Thermik der Ehrenmänner-Regel »aber gesagt ist gesagt« drei Tage lang der Willkür des Wetters ... Dann, bei 82° 56’, sank das Gefährt unter dem Ballast des Reifs auf seiner Außenhaut und die Hasardeure schlugen am Boden jener Tatsachen auf, gegen die sie sich bald ebenso vergeblich stemmten wie alle ihre Vorgänger.

      »Ich glaube«, ließ der schwedische Autor Per Olof Sundman in seinem Dokumentarroman Ingenieur Andrees Luftfahrt (1967) einen der todgeweihten Schwärmer zwar seufzen, »der Nordpol ist eine schlechte Geliebte«. Doch sind dessen ungeachtet (laut Goethe) nicht »Lust und Liebe die Fittiche zu großen Taten«?

      In cerca d’amore, das heißt: aus Sehnsucht nach Aneignung und Hingabe drang Umberto Cagni, ein Mitglied der »Stella-Polaris«-Mission des Herzogs der Abruzzen, am 25. April 1900 von Franz-Joseph-Land her bis auf 86° 34’ vor. Das war noch einmal Rekord! Dann wurde das Endspiel angegangen.

      Und während derweil ein neues, dynamisches Säkulum nahte, wartete alle Welt darauf, dass Saturn matt gesetzt wurde.

      Am Zug war Robert Edwin Peary.

      »ICH HABE DEN WUNSCH, MIR EINEN NAMEN ZU MACHEN«

      Robert Edwin Peary wurde am 6. Mai 1856 in Cresson unweit von Pittsburgh im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania als einziges Kind des Küfers Charles Peary und dessen Ehefrau Mary geboren. Die Eltern waren 1858 kaum in das ebenfalls in Pennsylvania liegende Gallitzin umgesiedelt, da starb der Vater im Januar 1859. Seine Witwe kehrte daraufhin mit ihrem noch nicht dreijährigen Sohn in die nordöstlichste Ecke der USA zurück, nach Maine, woher sie stammte. Erst in Cape Elizabeth bei Portland, dann in dieser Hafenstadt selbst sowie im nahen Gorham wuchs Robert Edwin Peary nun heran. Er besuchte die Elementary School, als Nächstes eine private Boarding School und hinterher die High School, die er 1873 verließ, um am Bowdoin College in Brunswick, Maine, zu studieren. Nachdem er dort sein Examen als Zivilingenieur abgelegt hatte, schrieb er seiner Freundin Mary Kilby am 10. Oktober 1877 einen Brief, in dem es hieß: »Ich möchte gerne eine so anziehende Wesensart entwickeln, dass die Leute, wenn ich einmal mit ihnen zusammen war, immerfort Gefallen an mir finden – ob sie wollen oder nicht.«

      Er selbst freilich behielt sich vor, seine Gunst nach Gutdünken zu gewähren oder zu entziehen. Und so versprach er Mary Kilby 1878 noch die Ehe, löste das Verlöbnis aber schon im folgenden Jahr wieder auf. »Die Vergangenheit ist tot!«, jubelte er: »Vive la future!«

      Er hatte eine Anstellung als Landvermesser beim United States Coast and Geodetic Survey in Washington gefunden, von seinem ersten Gehalt eine der dreihundertfünfundsechzig Inseln in der Casco-Bai vor Portland erworben und im Was-kostet-die-Welt-Überschwang den Entschluss gefasst, sich zu Vorarbeiten für einen Kanal zwischen dem Atlantischen und Pazifischen Ozean nach Nicaragua versetzen zu lassen. Er wollte ein Bahnbrecher werden, ein Wegbereiter ... Southward Ho! »Ich habe den Wunsch«, gestand er seiner Mutter am 16. August 1880, »mir einen Namen zu machen, der überall in Kreisen der Kultur und Bildung als Sesam-öffne-dich wirkt.« Obwohl er trotz des hämmernden Einsatzes von Begriffen wie »glory«, »pride« und »fame« nicht das Plazet Mary Pearys bekam, reiste er – nunmehr in Diensten der United States Navy – Ende 1884 von New York ab, um bis April 1885 das Terrain für den Durchstich im Dschungel zu sondieren. Ein Weltwunder war auf den Messtischblättern zu entwerfen, ein Denkmal des menschlichen Gestaltungswillens. Goethe hatte bereits ein halbes Jahrhundert zuvor darüber sinniert, dass derlei »einem großen Unternehmungsgeiste vorbehalten« sei.

      Einen solchen wollte Peary verkörpern. Dass Ereignisse in Mittelamerika dabei zum zweiten Mal Aktivitäten in der Arktis evozierten, gehört zu den Quantensprüngen der Evolution. Denn so wie einst die Nachricht davon, dass Balboa auf der anderen Flanke des Isthmus in ein fremdes Meer hinausgewatet war, letztlich die Suche nach der Nordwestpassage ausgelöst hatte, so pflanzte jetzt die Erinnerung daran, dass Kolumbus durch seine Ankunft in der Karibik Unsterblichkeit erlangt hat, den Keim zur Sehnsucht Pearys nach dem Nordpol, wo gleicher Ruhm zu ernten sei.

      Am 28. Dezember 1884 schilderte der Zweiunddreißigjährige seiner Mutter die Vorbeifahrt an San Salvador: »Die Insel blieb im Südwesten zurück, später ging die Sonne prachtvoll dahinter unter. Die lange niedrige Küste mit ihren einzelnen Klippen und Kaps trat deutlich hervor – ein purpurnes Relief vor dem gelben Himmel: die Wiege der Neuen Welt, das Eiland, das als Erstes die Augen von Kolumbus erfreut hat, purpurn gegen den gelben Sonnenuntergang, so wie vor fast vierhundert Jahren, als es lächelnd jenen Mann willkommen hieß, dem in seinem Nimbus alleinig der noch ebenbürtig sein kann, welcher eines Tages dasteht und dreihundertsechzig Längengrade unter seinem ruhenden Fuß hält... Ost und West werden für ihn nicht mehr existieren:


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