Der Gott, der uns nicht passt. Tobias Wolff
Читать онлайн книгу.und ihn unter totaler Absage anderer „Götter“ als den eigenen Gott anerkennen! Das ist das Grundgebot des 5. Buches Mose (Dtn 5,7) „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“!
8 Gottes gebrochenes Herz
Verstehen wir jetzt, warum es zur Bekümmerung, zum Gereuen Gottes, kommt? Wagen wir wirklich noch zu behaupten, daß dies das Zeichen für einen menschlichen, allzu menschlichen Geist sei? Oder ist das nicht die Kehrseite dessen, daß Gott ein königlich Schenkender ist und daß er nun in Trauer und Schmerz feststellen muß, wie alles, was wir haben, in unseren Händen verdirbt und verkommt … Gibt es einen größeren Schmerz, als wenn wir jemandem unser Bestes schenken und opfern, und dieser jemand wirft es uns höhnisch vor die Füße, nachdem er vorher alles verlästert und beschmutzt hat, was uns lieb ist? … Ich glaube, wir verstehen jetzt, welcher Schmerz darin ausgesagt wird, wenn es heißt, daß es Gott reute, so gütig gewesen zu sein und Freiheit verschenkt zu haben. Gott hat ein Herz, das blutet und zuckt unter dem, was wir tun, denn wir gehen ihm nahe. Es ist ein väterliches Herz. Darum ist es überaus verständlich und sehr bewegend, daß das biblische Wort uns auch von der entgegengesetzten Weise des „Reuens“ etwas sagt: daß Gott nämlich vom Erbarmen über unsere Verlorenheit erfaßt wird, daß ihn auch die Sintflut gereuen kann und daß er ein Ende der Sühne will. So läßt er noch einmal einen Schöpfungsmorgen anbrechen mit Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.89
Es ist meine feste Überzeugung, dass abwertende Urteile über Gottes Charakter nie dem tatsächlichen Wesen Gottes gerecht werden. „Gott ist Liebe“ (1Joh 4,16). Das Verstehen jedes Textes ist von seinem Kontext abhängig. Vorsätzliche und fahrlässige, versehentlich zugefügte Gewalt z. B. sind unterschiedlich zu bewerten (wie es z. B. auch in Num 35,16–25 geschieht). Eine völlig objektive und neutrale Interpretation gibt es nicht. Jeder Interpret deutet Texte auch in seinen eigenen Kontext hinein. Wir sollten uns aber bemühen, dem historischen Gehalt einer Aussage und somit der ursprünglichen Absicht möglichst nahezukommen. Manches erscheint nach gründlicherer Analyse in einem anderen Licht. So etwa die Charakterisierung Jahwes als „Krieger“ (Ex 15,3 isch milchamah; Jes 42,13 ke-isch milchamot). Wer sich heute an dieser Charakterisierung stößt, übersieht, dass dadurch Gott in den Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen jener Zeit einbezogen wurde und man ihm zugleich so „höchste Aktivität, Einsatz und unwiderstehlichen Erfolg“ zuschrieb. Das gehörte zum „Image des machtvollen Königs“.90
Selbst ein Text, der gerne als locus classicus für die Grausamkeit Gottes herangezogen wird, der Sintflutbericht, erweist sich bei näherer Analyse als Dokument eines liebenden Schöpfers. Meist wird dies anders gesehen, vgl. die Kurzbeschreibung eines Buches des Schweizer Pfarrers Daniel Kallen: „Unzählbar sind zum Beispiel die Aufrufe des biblischen Gottes zu Mord, Steinigungen und Totschlag. Endlos erscheint die Liste der Opfer bereits am Anfang der biblischen Überlieferung, wenn der Gott der Hebräer in der Sintflut – ohne Reue und Skrupel – die ganze Menschheit bis auf ein paar Einzelne umkommen lässt“. Kallen kommt zu der Schlussfolgerung, dass „… der biblische Glaube insgesamt fragwürdig und zweifelhaft ist“.91
Selbst Johannes Schnocks sieht im Vergleich zu altorientalischen Parallelen (wonach die Götter ihren Entschluss „bereuen“ würden) kaum einen „gefühlvollen“ Zug des biblischen Gottes angesichts der Vernichtung der Menschheit. Im Gegenteil: „Vom biblischen Gott wird weder Schreien noch Weinen noch das Entsetzen über die eigene Vernichtungstat berichtet.“92
Demgegenüber ist zu sagen: Die „Götter“ der außerbiblischen Flutberichte scheinen sich vor allem um sich selbst zu sorgen. Der Mensch spielt dort eine untergeordnete Rolle – er ist dazu da, die Götter zu bedienen. In altbabylonischen Mythen wird die „Erschaffung des ersten Menschen aus Lehm durch Enki/Ea und die Muttergöttin mit nichts anderem motiviert … als dem Wunsch der Götter, auf diese Weise ihrer Arbeitslast ledig zu werden.“93
Im Gilgámesch-Epos94 sind die Götter entsetzt über die Folgen der Flut. Sie hungern, weil kein Mensch da ist, Opfergaben darzubringen und „weinen/ verdorrt ihre Lippen, beraubt der gekochten Opferspeise“.95 Sie verbergen sich aus Angst (was für ein Gegensatz zum allmächtigen Schöpfergott der Bibel!):
Selbst die Götter packte da vor der Sintflut die Angst! // Sie wichen zurück, sie hoben sich fort in den Himmel des Anum // Da kauern die Götter im Freien, eingerollt in sich selbst so wie die Hunde.96
In der biblischen Erzählung dagegen sehen wir Gottes Herz und Gottes Schmerz:97
Und Jahwe sah, daß die Bosheit des Menschen auf der Erde groß war und alles Formen der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag.
Und es reute Jahwe, daß er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in sein Herz hinein.
Und Jahwe sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Fläche des Erdbodens auslöschen, vom Menschen bis zum Vieh, bis zu den kriechenden Tieren und bis zu den Vögeln des Himmels; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.
Noah aber fand Gunst in den Augen des HERRN. (Gen 6,5–8)
Gott „sieht“ (V. 5): In Gen 3 wird des Menschen Abfall von Gott berichtet, und nun, in Gen 6, ist ein Tiefpunkt erreicht. In Gen 1,31 lasen wir zum letzten Mal, dass „Gott sah“. Damals war alles, was er sah, „sehr gut“! Genesis 6,12 klingt wie ein Echo von Gen 1,31.
1,31: Und Gott sah alles, … und siehe, es war sehr gut.
6,12: Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verdorben.
Wieder heißt es: „Gott sah“, aber nun ist „alles schlecht“! Dass Gott „sieht“, zielt weniger auf plötzliches Wahrnehmen, sondern markiert oft den Beginn göttlicher Intervention (6,12; 29,31; Ex 2,25; 3,4; 4,31 etc.). Nicht nur weiß Gott genau Bescheid, was hier vorgeht, es kümmert ihn auch! Als des Schöpfers Bild ist der Mensch ebenfalls fähig zu „formen“ – doch was formt er? Alles, was der Mensch „bildet“, ist „nur böse“! Dieses „Bilden“ greift das Verb aus dem Paradiesbericht auf (jezer „töpfern“), das in Gen 2 von Gott ausgesagt wurde: Er „formte“ da den Menschen.
Auch der Satz in 6,13, „denn die Erde war erfüllt mit Gewalttat“, greift Gen 1 kontrastierend auf (erfüllt die Erde! Gen 1,22.28)! In Gen 6,13 erklärt Gott seine Absicht, die Menschen zu vernichten. Es wird das gleiche Wort verwendet, das schon in V. 11 und 12 für den bereits verdorbenen Zustand der Erde ausgesagt wurde. V. 11 und 12 besagen, die Erde war „ruiniert“ vor Gott (schachat ni.). Das Verb „verderben“ schachat wird in den Versen 11–17 5-mal erwähnt! Es begegnet uns im AT für das Verderben eines Gewandes (Jer 13,7), eines Gefäßes (Jer 18,4), eines Weinbergs (Jer 12,10 in figurativem Sinn). In 12b folgt die Begründung: „denn alles Fleisch hat seinen Weg verdorben auf Erden“. Das beschreibt eine von den Menschen ausgehende aktive Handlung (schachat hif.)!98 „Weg“ (derech) beschreibt oft den Leben(swandel), das Verhalten oder die Lebensweise im Guten wie im Bösen, vgl. Ps 1; 1Sam 8,3; 18,14; 1Kön 13,33; Jes 53,6; Jer 18,11; Jer 36,3; Jona 3,8.
schachat begegnet im AT in verbaler Verwendung 143-mal99. Im Deuteronomium beschreibt das Verb u. a. die Abkehr von Jahwe und seiner Tora im Kontext der Verehrung von Götzenbildern (Dtn 4,16.25.31). In Hosea 13,9 wird die Rebellion gegen Gott als selbstzerstörerischer Akt mit schachat pi. beschrieben: „Es hat dich zugrunde gerichtet, Israel, daß du gegen mich, gegen deinen Helfer, bist.“
Gen 6 sagt eigentlich, dass Gott nur verdirbt, was bereits unheilbar verdorben ist. „Es ist, wie wenn ein verdorbenes Nahrungsmittel alle anderen in seiner Nähe gelagerten mit infiziert hätte. Dann muss man alles wegwerfen … Gott verdirbt, was schon verdorben ist.“100
Zwei Motive werden besonders herausgehoben:
• Einmal die absolute Verdorbenheit der Menschheit: Alles, was der Mensch „formt“, ist „nur böse“! „Alles Formen der Pläne seines Herzens“ ist „nur schlecht!“ Und dies auch noch „den ganzen Tag“, d. h. brav sind die Menschen eigentlich nur, wenn sie schlafen. Betont durch je zweimaliges „alles“ kol und „böse“