Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.ihn retten? Sie sind alle so verändert. Niemand kann mir helfen als Sie. Bitte, bitte, machen Sie auf!«
Drittes Kapitel.
Die Gabe wird zurückgenommen
Noch lag die Nacht schwer am Himmel. Auf weiten Ebenen, von Gipfeln der Hügel und vom Verdeck der einsamen Schiffe auf See sah man tief unten am Horizont einen schwach dämmernden Streifen, der mit der Zeit Licht zu werden versprach. Doch er verhieß nur Fernes und Ungewisses, und noch kämpfte der Mond mit den unruhigen Wolken der Nacht.
Auch die Schatten, die sich über Redlaws Geist lagerten, folgten einander dicht und schnell und verdunkelten das Licht seiner Seele – wie Nachtwolken zwischen Mond und Erde schweben und ihr Dunkel auf uns werfen. Launenhaft wie die Wolken des Nachthimmels enthüllten sie ihm bald blitzartig das Licht, dann hüllten sie es wieder in Halbdunkel und Ungewißheit, dann stürmten sie wieder, wenn der helle Glanz einen Augenblick durchbrach, darüber hin und machten die Finsternis noch dichter als zuvor.
Draußen herrschte tiefes und feierliches Schweigen über dem alten Gebäude, und die Strebepfeiler und scharfen Ecken warfen geheimnisvolle Formen auf den Boden, der sich bald in dem weichen weißen Schnee versteckte, bald wieder nackt hervorkam, je nachdem der Mond hinter den Wolken hervorschien. Das Zimmer des Chemikers lag undeutlich und düster im trüben Schein der verlöschenden Lampe, ein geisterhaftes Schweigen war auf das Klopfen und Schreien draußen gefolgt, und nichts war vernehmbar als dann und wann ein leiser Ton in der weißen Asche des Kamins, wenn das Feuer sterbend aufatmete. Davor auf dem Boden lag der Junge in tiefem Schlaf. In seinem Stuhl saß der Chemiker, und saß dort, wie ein Mensch, der zu Stein geworden ist.
Da begann von neuem die Weihnachtsmusik, die er schon einmal vernommen hatte, zu spielen. Er lauschte ihr zuerst, wie er auf dem Kirchhofe gelauscht hatte, aber bald stand er auf – sie klang noch fort, und die Nachtluft trug ihre leise, sanfte melancholische Weise zu ihm – und streckte seine Hände aus, als ob sich ihm ein Freund nahe, dem seine unselige Berührung kein Leid tun könne. Dann löste sich langsam der starre, brütende Ausdruck seines Gesichtes, ein leises Zittern überkam ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen, und er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und neigte den Kopf. Noch war seine Erinnerung an Sorge, Leid und Kummer nicht wieder aufgetaucht; er wußte, daß sie noch nicht wiedergekommen, und hatte auch keine Hoffnung, daß es je geschehen werde. Aber eine dumpfe Regung in seinem Innern machte ihn wieder fähig, das zu empfinden, was in der Musik verborgen lag. Und wenn sie ihm auch bloß voll Trauer vom Werte dessen sprach, was er verloren hatte, so pries er doch den Himmel dafür mit heißer Dankbarkeit. Als der letzte Ton verklungen, hob er den Kopf, um den zitternden Schwingungen noch zu lauschen. Hinter dem Knaben, so daß seine schlafende Gestalt ihm zu Füßen lag, stand das Phantom unbeweglich und stumm, die Augen auf den Chemiker geheftet.
Gespenstisch wie früher, aber doch nicht mehr so grauenhaft und erbarmungslos war es anzuschauen, oder wenigstens kam es Redlaw so vor oder hoffte er wenigstens, als er schaudernd hinblickte. Es war nicht allein, sondern hielt in der schattenhaften Hand noch eine andere Hand.
Und wessen Hand war das? War die Gestalt neben dem Phantom wirklich Milly oder bloß ihr Schatten und ihr Scheinbild?
Das Köpfchen mit dem stillen Antlitz war ein wenig geneigt, wie es ihre Art war, und ihre Augen blickten voll Mitleid auf das schlummernde Kind. Ein strahlendes Licht fiel auf ihr Gesicht, berührte aber das Phantom nicht. Obwohl es dicht neben ihr stand, war es dunkel und farblos wie immer.
»Gespenst!« sagte der Chemiker, von neuer Unruhe erfaßt. »Ich bin nicht vorwitzig und anmaßend gewesen, was sie anbelangt. O bring sie nicht hierher. Erspare mir dies eine!«
»Es ist nur ein Schemen«, sagte das Phantom, »suche die wirkliche Form auf, deren Bild ich dir hier vorführe!«
»Ist das mein unerbittliches Verhängnis?« rief der Chemiker.
»Ja«, sagte das Phantom.
»Um ihren Frieden und ihre Herzensgüte zu vernichten, um sie zu dem zu machen, was ich selbst bin und was ich aus andern gemacht habe!«
»Ich habe gesagt, suche sie auf«, erwiderte das Gespenst. »Mehr hab' ich nicht gesagt.«
»O sag mir«, rief Redlaw aus und klammerte sich an die Hoffnung, die in diesen Worten zu liegen schien, »kann ich ungeschehen machen, was ich getan habe?«
»Nein«, antwortete das Phantom.
»Ich bitte nicht um Heilung für mich selbst«, sagte Redlaw. »Was ich hingegeben, gab ich mit freiem Willen hin und habe es mit Recht verloren. Aber für die, die ich mit der unseligen Gabe angesteckt, die nie danach verlangt, die, ohne es zu wissen, verflucht wurden und die die Macht nicht hatten, sich zu wehren, kann ich nichts für diese tun?«
»Nichts!« sagte das Phantom.
»Auch niemand anderer?«
Unbeweglich wie ein Steinbild hatte ihn das Phantom eine Zeitlang fest angestarrt, dann wandte es plötzlich den Kopf und sah auf den Schemen an seiner Seite.
»Oh, kann sie es tun?« schrie Redlaw und sah immer noch den Schatten an.
Das Phantom ließ die Hand los, die es bis jetzt festgehalten, und winkte der Erscheinung, zu verschwinden. Daraufhin begann der Schemen der Frau, ohne seine Stellung zu verändern, sich zu entfernen oder in der Luft zu zergehen.
»Halt!« rief Redlaw mit einer Inbrunst, der er gar nicht genug Ausdruck verleihen konnte, »einen Augenblick noch. Barmherzigkeit! Ich fühlte, daß eine Veränderung mich überkam, als vorhin jene Klänge in der Luft schwebten. Sage mir, habe ich die Kraft verloren, ihr zu schaden? Kann ich mich ihr nahen ohne Furcht? O laß sie mir nur ein Zeichen der Hoffnung geben!«
Das Phantom blickte die Erscheinung an wie er und antwortete nicht.
»Wenigstens sag mir das eine, hat sie künftighin das Bewußtsein der Macht, wiedergutmachen zu können, was ich verbrochen?«
»Das hat sie nicht«, antwortete das Gespenst.
»Hat sie die Macht, ohne sich dessen bewußt zu sein?«
Das Phantom antwortete: »Suche sie auf!«
Und Millys Schatten verschwand langsam.
Sie standen einander wieder gegenüber, Auge in Auge, das Gespenst und er, und wieder herrschte die schreckliche Spannung wie damals, als er die Gabe erhielt, und zwischen ihnen lag der Knabe zu Füßen des Doppelgängers.
»Fürchterlicher Lehrmeister«, sagte der Chemiker und sank vor dem Geiste flehend auf die Knie, »der sich von mir lossagte und doch wiedergekommen ist; wie gern würde ich darin und daß dein Antlitz milder schaut, einen Schimmer von Hoffnung sehen. Ich will dir, ohne zu fragen, gehorchen und flehe nur, daß der Ruf, den ich in der Angst meiner Seele ausgestoßen, erhört werde, um derer willen, die ich geschädigt habe, so daß kein Mensch sie wieder heilen kann! Doch noch etwas liegt mir auf dem Herzen – – –«
»Du sprichst von dem Geschöpf, das hier liegt«, unterbrach ihn das Gespenst und deutete mit dem Finger auf den Knaben.
»Ja«, erwiderte der Chemiker. »Du weißt, was ich fragen möchte. Warum ist dieses Kind allein gefeit gegen meinen Einfluß, und warum, warum liegt in seinem Denken so eine furchtbare Übereinstimmung mit meinem?«
»Das«, sagte das Phantom und deutete auf den Knaben, »ist das letzte und vollkommenste Beispiel eines menschlichen Wesens, das all der Erinnerungen beraubt ist, auf die auch du verzichtet hast. Kein Erinnern an Kummer, Unrecht und Sorge dringt mildernd hier ein, weil dieses unglückliche Menschenkind von Geburt an schlimmer als ein Tier aufgewachsen ist und weil in seiner verhärteten Brust kein Gegensatz lebt, kein menschlicher Zug, der einen Keim solchen Gedächtnisses zum Sprießen bringen könnte. Das Innere dieses verlassenen Geschöpfs ist Öde und Wildnis. Wehe einem solchen Menschen, zehnfach Wehe einem Volk, das Ungeheuer wie dieses, das