Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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junge Mann gab ihr durch einen Blick die gewünschte Versicherung, und als er an dem Chemiker vorüberging, verbeugte er sich voller Achtung und sichtlicher Teilnahme.

      Redlaw erwiderte den Gruß höflich, fast demütig, und sah ihm nach. Dann stützte er den Kopf auf die Hand, als wolle er sich auf etwas, das ihm entschwunden war, besinnen, aber es kam nicht wieder. Die dauernde Veränderung, die in ihm vorgegangen war seit den Klängen der nächtlichen Weise und dem Wiedererscheinen des Gespenstes, äußerte sich darin, daß er jetzt wirklich fühlte, wieviel er verloren hatte, und traurig über seine eigene Lage sein konnte, wenn er sie mit dem natürlichen Zustand der Menschen in seiner Umgebung verglich. Dadurch wurde wieder ein Interesse an seiner Umgebung in ihm wach und etwas wie demütige Unterwerfung unter sein unglückliches Schicksal, wie es manchmal dem Alter eigen ist, wenn die geistigen Kräfte geschwächt sind, ohne daß Gleichgültigkeit und Verdrossenheit sich hinzugesellten.

      Er war sich bewußt, daß diese neue Veränderung immer mehr in ihm reifte, je mehr von dem Unheil, das er gestiftet, durch Millys Vermittlung wiedergutgemacht wurde. Deshalb und infolge der Zuneigung, die sie ihm einflößte, ohne jedoch weitere Hoffnungen daran zu knüpfen, fühlte er, daß er gänzlich von ihr abhing und daß sie die einzige Stütze war in seinem Herzeleid.

      Als sie ihn daher fragte, ob sie jetzt nach Hause gehen sollte zu ihrem Gatten und seinem alten Vater, und er freudig mit ja antwortete, denn auch ihm lag dies sehr auf dem Herzen, reichte er ihr seinen Arm und ging mit ihr, nicht als ob er der große Gelehrte wäre, dem die Wunder der Natur ein offenes Buch, und sie der ungeschulte Geist, sondern als ob dieses Verhältnis umgekehrt sei und sie alles wußte und er gar nichts.

      Er sah die Kinder sich um sie drängen und sie liebkosen, als sie jetzt das Haus verließen. Er hörte ihr helles Lachen und ihre lustigen Stimmen, er sah ihre freundlichen Gesichter, die ihn wie Blumen umgaben, er war Zeuge der wiederhergestellten Eintracht ihrer Eltern, er atmete die schlichte Luft des ärmlichen Häuschens, dem der Friede wiedergegeben war, und gedachte des tödlichen Pesthauchs, den er hier verbreitet hatte und auch jetzt, wäre sie nicht gewesen, weiter und weiter hätte verbreiten müssen. Und da war es kein Wunder, daß er demütig neben ihr herging und sie sanft an sich drückte.

      Als sie im Pförtnerhaus ankamen, saß der Alte in seinem Stuhl in der Kaminecke, die Augen auf den Boden geheftet, und sein Sohn lehnte an der andern Seite des Ofens und sah seinen Vater an. Als Milly in der Türe stand, fuhren beide auf und wandten sich nach ihr um, und eine leuchtende Veränderung vollzog sich auf ihren Gesichtern.

      »O Gott, Gott, Gott! Auch sie sehen mich wieder gern wie die andern!« rief Milly, klatschte freudig in die Hände und blieb stehen: »Wieder zwei mehr!«

      Froh, sie zu sehen! Froh – ist kein Ausdruck. Sie warf sich in die ausgebreiteten Arme ihres Gatten, und er hätte sie wohl dort behalten, ihren Kopf an seiner Brust, den ganzen kurzen Wintertag hindurch, der Alte aber wollte auch sein Teil. Auch seine Arme streckten sich nach ihr aus, und er zog sie fest an sich.

      »Wo ist denn meine kleine, stille Maus die ganze Zeit über gewesen?« fragte der Alte. »Sie war so lange, lange fort! Ich sehe jetzt wohl, daß es ohne die stille Maus nicht geht. Ich – wo ist mein Sohn William? – ich glaube, ich habe geträumt, William.«

      »Ich sag's immer, Vater!« entgegnete sein Sohn. »Ich für meinen Teil habe einen häßlichen Traum gehabt. Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich wohl?«

      »Frisch und munter, mein Sohn!« gab der Alte zur Antwort.

      Es war eine ordentliche Freude, zu sehen, wie Mr. William seinem Vater die Hand schüttelte, ihm auf den Rücken klopfte und ihn leise streichelte, als ob er gar nicht genug Fürsorge für ihn an den Tag legen könne.

      »Was für ein wundervoller Mensch du bist, Vater! Wie fühlst du dich, Vater? Fühlst du dich auch wirklich recht wohl?« fragte William und schüttelte ihm wieder die Hand, klopfte ihm auf den Rücken und streichelte ihn sanft.

      »Ich war im Leben nicht frischer und kräftiger, mein Sohn!«

      »Was du für ein wundervoller Mensch bist, Vater! Ich sag's immer«, sagte Mr. William begeistert. »Wenn ich bedenke, was mein Vater alles durchgemacht hat, die vielen Sorgen und Wechselfälle, all das Leid und der Gram, die ihm im Lauf seines langen Lebens zugestoßen sind und sein Haar gebleicht haben, ist mir, als wenn wir nicht genug tun könnten, um den alten Herrn zu ehren und sein Alter leicht zu machen. Wie fühlst du dich, Vater? Wirklich frisch und munter?«

      Mr. William würde wohl nie aufgehört haben, diese Frage an ihn zu richten, ihm wieder die Hand zu schütteln, ihn wieder auf den Rücken zu klopfen und leise zu streicheln, hätte der Alte nicht jetzt den Chemiker erblickt.

      »Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw«, sagte er, »aber ich wußte nicht, daß Sie hier sind, sonst würde ich mich nicht so haben gehenlassen. Wie ich Sie so hier sehe am Weihnachtsmorgen, fällt mir die Zeit ein, als Sie selbst noch Student waren und so fleißig arbeiteten, daß Sie sogar in der Christwoche nicht aus unserer Bibliothek herauskamen. Ha, ha! Ich bin alt genug, um mich daran zu erinnern, und weiß es noch ganz genau, obgleich ich siebenundachtzig bin. Nachdem Sie von hier fortgingen, starb meine arme Frau. Sie erinnern sich doch noch an meine Frau, Mr. Redlaw?«

      »Ja«, antwortete der Chemiker.

      »Ja«, sagte der alte Mann. »Sie war ein liebes Geschöpf. Ich erinnere mich, Sie kamen eines Weihnachtsmorgens her mit einer jungen Dame, ich bitte um Entschuldigung, Mr. Redlaw, aber ich glaube, es war Ihre Schwester, an der Sie so sehr hingen.«

      Der Chemiker sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich hatte eine Schwester«, sagte er tonlos.

      Weiter wußte er nichts.

      »An einem Weihnachtsmorgen«, fuhr der Alte fort, »kamen Sie mit ihr hier vorbei, und es fing an zu schneien, und meine Frau lud die junge Dame ein, hereinzukommen und sich an das Feuer zu setzen, das am Weihnachtstage immer in dem Zimmer brennt, wo wir unsern großen Speisesaal hatten, bevor unsere zehn armen Herrn den Tausch eingingen. Ich war dort, ich erinnere mich noch; ich schürte die Glut, damit die junge Dame ihre hübschen Füßchen daran wärmen könnte, und sie las die Schrift unter dem Bilde: Der Herr erhalte mein Gedächtnis jung! Sie und meine selige Frau fingen an, darüber zu plaudern; und es ist so seltsam, wenn man jetzt denkt, daß beide sagten – und beide waren so jung, daß ans Sterben nicht zu denken war –, es sei ein schönes Gebet und sie würden es inbrünstig beten, falls sie früher sterben sollten, für die, die sie am liebsten hätten. Mein Bruder, sagte die junge Frau; – mein Gatte, sagte meine arme Frau –: Der Herr erhalte dein Gedächtnis jung und lasse dich niemals meiner vergessen.«

      Schmerzlichere und heißere Tränen, als er jemals in seinem Leben geweint, rannen über Redlaws Gesicht. Philipp, zu sehr mit seiner Geschichte beschäftigt, hatte es nicht bemerkt und Millys warnende Gebärden nicht verstanden.

      »Philipp«, sagte Redlaw und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich bin ein Unglücklicher, auf dem schwer die Hand der Vorsehung lastet. Du sprichst von etwas, Freund, das ich nicht mehr begreifen kann. Meine Erinnerung ist fort.«

      »Barmherziger Himmel!« schrie der alte Mann.

      »Ich habe die Erinnerung an Kummer und Sorge verloren«, sagte der Chemiker, »und damit auch alles, was dem Menschen der Erinnerung wert ist.«

      Wer des alten Philipp Mitleid sah, und sah, wie er den eigenen großen Stuhl heranrollte, damit sich Redlaw darin ausruhen sollte, und das tiefe Verständnis in seinen Augen las für den Verlust, den jener erlitten, der mußte erkennen, wie kostbar die Erinnerungen für das Alter sind.

      Der Knabe kam hereingelaufen und eilte auf Milly zu.

      »Hier ist der Mann«, sagte er, »im andern Zimmer. Ich mag ihn nicht.«

      »Wen meint er?« fragte Mr. William.

      »Still!« sagte Milly.

      Auf ihren Wink gingen er und sein Vater leise hinaus. Als sie verschwunden waren, winkte Redlaw den Knaben zu sich.

      »Ich will lieber bei der Frau sein«,


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