Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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      Da ich jetzt noch ziemlich jung bin – ich nehme zwar zu an Jahren, aber jetzt bin ich immerhin noch ziemlich jung –, so weiß ich keine eigenen Abenteuer, die ich vorbringen könnte. Es würde, glaube ich, niemand unter den Anwesenden besonders interessieren, zu erfahren, was für ein Geizkragen der Reverend oder was für ein Drache sie ist, oder was sie alles den Eltern auf die Rechnung setzen – besonders für Haarschneiden und für ärztlichen Beistand. Einem unserer Jungen wurden auf seiner Halbjahresrechnung zwölf Schilling und sechs Pence für zwei Pillen berechnet – bei sechs Schilling und drei Pence das Stück müssen sie ziemlich einträglich sein, sollte ich meinen –, und er nahm sie nicht einmal, sondern steckte sie in seinen Rockärmel.

      Was den Rinderbraten angeht, so ist es eine Schande. Das ist kein Rinderbraten. Richtiger Rinderbraten besteht nicht aus Adern. Richtigen Rinderbraten kann man kauen. Außerdem gibt es zu richtigem Rinderbraten Sauce, und bei unserem ist niemals ein Tropfen zu sehen. Einer unserer Jungen fuhr krank nach Hause, und er hörte den Hausarzt zu seinem Vater sagen, daß er keinen Grund für seine Krankheit finden könne, wenn es nicht das Bier wäre. Natürlich war es das Bier, und das ist ganz begreiflich!

      Jedoch Rinderbraten und der alte Cheeseman sind zwei verschiedene Dinge. Ebenso das Bier. Von dem alten Cheeseman wollte ich erzählen, nicht davon, wie unsere Jungen des Gewinns wegen um ihre Gesundheit gebracht werden.

      Man braucht sich da bloß die Pastetenkruste anzusehen. Sie ist nicht locker, sondern fest wie feuchtes Blei. Dann bekommen unsere Jungen Alpdrücke und werden mit Kissen beworfen, weil sie im Schlaf schreien und andere Jungen aufwecken. Ist das etwa ein Wunder?

      Der alte Cheeseman schlafwandelte eines Nachts. Er stülpte sich den Hut über die Nachtmütze, ergriff eine Angelrute und ein Kricketschlagholz und ging ins Wohnzimmer hinunter, wo man ihn begreiflicherweise nach seinem Aussehen für ein Gespenst hielt. Er hätte das bestimmt nicht getan, wenn sein Essen bekömmlich gewesen wäre. Wenn wir erst alle anfangen, im Schlaf zu wandeln, wird ihnen endlich das Gewissen schlagen, denke ich.

      Der alte Cheeseman war damals noch nicht zweiter Lateinlehrer; er war bloß einer von den Jungen. Er wurde als ganz kleines Kind in einer Postkutsche dorthin gebracht von einer Frau, die ständig Tabak schnupfte und ihn schüttelte – das war alles, woran er sich erinnern konnte. Er ging niemals in den Ferien nach Hause. Seine Rechnungen (er nahm niemals an Sonderfächern teil) wurden an eine Bank geschickt, und die Bank bezahlte sie. Zweimal im Jahr bekam er einen braunen Anzug, und mit zwölf Jahren zog er schon Stiefel an. Sie waren ihm außerdem stets zu groß.

      In den Sommerferien pflegten einige von unseren Jungen, die so nahe wohnten, daß sie zu Fuß gehen konnten, zurückzukommen und an den Bäumen vor der Spielplatzmauer hochzuklettern, um den alten Cheeseman allein beim Lesen zu sehen. Er war immer so mild wie der Tee – und ich denke, der ist mild genug! –, und wenn sie ihm pfiffen, so blickte er auf und nickte. Und wenn sie ihn fragten: »Hallo, alter Cheeseman, was hat’s zu essen gegeben?« so sagte er: »Gesottenes Hammelfleisch«; und wenn sie fragten: »Ist es nicht recht einsam, alter Cheeseman?« so sagte er: »Es ist manchmal ein bißchen langweilig.« Und dann sagten sie: »Also auf Wiedersehen, alter Cheeseman!« und kletterten wieder hinunter. Natürlich war es ein Betrug an dem alten Cheeseman, ihm die ganzen Ferien hindurch nichts als gesottenes Hammelfleisch vorzusetzen; aber so war das System. Wenn sie ihm kein gesottenes Hammelfleisch gaben, verabreichten sie ihm Reispudding und behaupteten, das wäre ein besonderer Leckerbissen. Und sparten auf diese Weise den Fleischer.

      So ging das Leben des alten Cheeseman. Die Ferien brachten für ihn noch andere Beschwerden mit sich, außer der Einsamkeit. Denn wenn die Jungen widerwillig zurückkamen, freute er sich stets, sie zu sehen. Das war ärgerlich für sie, da sie sich durchaus nicht freuten, ihn zu sehen, und infolgedessen schlug man ihn mit dem Kopf gegen die Wände, und er bekam Nasenbluten. Aber im allgemeinen war er doch beliebt. Einmal wurde eine Sammlung für ihn veranstaltet, und um ihn bei guter Laune zu halten, bekam er vor den Ferien zwei weiße Mäuse, ein Kaninchen, eine Taube und ein hübsches Hündchen geschenkt. Der alte Cheesernan weinte darüber – besonders nachher, als sie alle einander aufgefressen hatten. Übrigens war der alte Cheeseman nicht alt an Jahren, sondern er hatte bloß von Anfang an den Spitznamen ›alter Cheeseman‹ erhalten.

      Schließlich wurde der alte Cheeseinan zweiter Lateinlehrer. Eines Morgens zu Beginn eines neuen Halbjahrs wurde er ins Zimmer geleitet und in dieser Eigenschaft als »Mr. Cheeseman« der Schule vorgestellt. Daraufhin waren unsere Jungen einstimmig der Ansicht, daß der alte Cheeseman ein Spion und Verräter war, der ins feindliche Lager übergegangen war und sich für Gold verkauft hatte. Es entlastete ihn nicht, daß er sich um sehr wenig Gold verkauft hatte – zwei Pfund zehn Schilling im Vierteljahr und die Wäsche, wie berichtet wurde. Ein Parlament, das darüber tagte, entschied, daß bei dem alten Cheeseman nur von Geldrücksichten die Rede sein konnte und daß er »unser Blut für Drachmen gemünzt« hätte. Das Parlament entlehnte diesen Ausdruck der Streitszene zwischen Brutus und Cassius.

      Nachdem es mit diesen starken Worten ein für allemal ausgemacht war, daß der alte Cheeseman ein fürchterlicher Verräter war, der sich in die Geheimnisse unserer Jungen absichtlich eingeschlichen hatte, um sich durch Angeberei in Gunst zu setzen, wurden alle mutigen Jungen aufgefordert, sich zu einem Bund gegen ihn zusammenzuschließen. Die Präsidentschaft des Bundes übernahm der Primus namens Bob Tarter. Sein Vater war in Westindien, und er sagte selbst, daß sein Vater millionenreich wäre. Er besaß großen Einfluß unter unseren Jungen, und er schrieb ein Spottlied, das folgendermaßen begann:

       »Wer stellte sich so sanft und zahm, Daß man kaum seine Stimm’ vernahm, Und war doch ein Verräter? Der Cheeseman-Missetäter.«

      So ging es durch mehr als ein Dutzend Strophen weiter, die er jeden Morgen dicht am Pult des neuen Lehrers zu singen pflegte. Auch richtete er einen der kleinen Jungen, einen rotbackigen Frechdachs, der zu allem imstande war, ab, eines Morgens mit seiner lateinischen Grammatik zu ihm hinzugehen und seine Lektion folgendermaßen aufzusagen:

      »Nominativus pronominum – der alte Cheeseman, raro exprimitur – wurde niemals beargwöhnt, nisi distinctionis – ein Verräter zu sein, aut emphasis gratia – bis er sich als ein solcher herausstellte. Ut – zum Beispiel, vos damnastis – als er die Jungen verklatschte. Quasi – gleich als ob, dicat – er sagte, praeterea nemo – ich bin ein Judas!«

      Das alles machte auf den alten Cheeseman tiefen Eindruck. Er hatte niemals viel Haare gehabt; aber die wenigen, die er besaß, wurden mit jedem Tag dünner. Er wurde blasser und magerer, und bisweilen sah man ihn abends an seinem Pult sitzen, wie er die Hände vors Gesicht geschlagen hielt und weinte, während seine Kerze eine anständig lange Lichtschnuppe aufwies. Aber kein Teilnehmer des Bundes konnte ihn bemitleiden, selbst wenn er dazu Neigung verspürte, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Gewissen.

      So ging es mit dem alten Cheeseman weiter, und er führte wahrlich ein trauriges Leben! Natürlich behandelte ihn der Reverend von oben herab und natürlich tat sie das gleiche – weil sie sich beide allen Lehrern gegenüber stets so verhalten –, aber von den Jungen hatte er am meisten auszustehen, und zwar in einem fort. Der Bund konnte nicht herausfinden, daß er es angegeben hätte; aber man dachte deshalb nicht besser von ihm, weil der Präsident sagte, es wäre des alten Cheesemans Feigheit.

      Er hatte nur ein Wesen in der Welt, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, aber dieses war fast ebenso machtlos wie er, denn es war nur Jane. Sie war eine Art Garderobenmädchen für unsere Jungen und hatte die Koffer in ihrer Obhut. Sie war zuerst als eine Art Lernende ins Haus gekommen – einige von unseren Jungen behaupteten, aus einem Findelhaus, aber darüber weiß ich nichts –, und nachdem ihre Zeit um war, war sie für so und so viel jährlich dageblieben. So wenig jährlich, sollte ich eher sagen, denn das ist viel wahrscheinlicher. Doch hatte sie ein paar Pfund auf der Sparkasse und war ein sehr nettes Mädchen. Sie war nicht gerade hübsch, aber sie hatte ein sehr offenes, ehrliches, freundliches Gesicht, und alle unsere Jungen hatten sie gern. Sie war ungewöhnlich sauber und fröhlich und ungewöhnlich freundlich und gutmütig. Und wenn einem Jungen die Mutter krank wurde, so ging er stets zu Jane und zeigte ihr den Brief.

      Jane


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