Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Dach zugebracht – ich darf sagen, mein ganzes bisheriges Leben –, daß ich hoffe, ihr habt euch um meinetwillen darüber gefreut. Es könnte mich niemals glücklich machen, wenn ihr mir nicht Glück gewünscht hättet. Wenn es jemals überhaupt ein Mißverständnis zwischen uns gegeben hat, dann bitte ich, meine lieben Jungen, wir wollen es vergeben und vergessen. Ich habe eine große Zuneigung zu euch und bin sicher, daß ihr sie erwidert. Ich möchte aus dankerfülltem Herzen jedem einzelnen von euch die Hand schütteln. Ich bin zu diesem Zweck zurückgekommen, wenn es euch recht ist, meine lieben Jungen.«
Als der Präsident zu weinen begonnen hatte, hatten verschiedene andere Jungen hier und dort ebenfalls losgeheult. Jetzt aber begann der alte Cheeseman bei ihm als dem Primus, legte ihm die Linke liebevoll auf die Schulter und gab ihm die Rechte; und als der Präsident da sprach: »Ich verdiene das wirklich nicht, Sir; bei meiner Ehre, ich verdiene das nicht«, da schluchzte und heulte die ganze Schule. Jeder einzelne von den übrigen Jungen sagte in fast derselben Weise, er verdiene es nicht. Aber der alte Cheeseman kehrte sich nicht im mindesten daran; er trat fröhlich auf jeden Jungen zu und schloß mit den Lehrern – wobei der Reverend als letzter drankam.
Darauf ließ ein schnüffelnder kleiner Bengel in einer Ecke, der immer irgendeine Strafe abzubüßen hatte, einen schrillen Schrei laut werden: »Viel Glück dem alten Cheeseman! Hurra!« Der Reverend starrte nach ihm hin und sagte: »Mr. Cheeseman, Sir.« Da jedoch der alte Cheeseman beteuerte, daß ihm sein alter Name viel mehr zusage als sein neuer, so nahmen alle unsere Jungen den Ruf auf, und ein paar Minuten lang gab es ein solch donnerndes Händeklatschen und Getrampel und ein solches Gebrüll »alter Cheeseman«, wie es noch nie vernommen worden war.
Im Speisezimmer stand eine prachtvoll gedeckte Tafel bereit. Geflügel, Räucherzungen, Konserven, Obst, Zuckerzeug, Gelees, Punsch, Tempel aus Gerstenzucker, Knallbonbons – eßt, soviel ihr könnt, und steckt ein, soviel ihr mögt –, alles auf Kosten des alten Cheeseman. Darauf Trinksprüche, den ganzen Tag frei, alle möglichen Dinge für alle möglichen Spiele in doppelter und dreifacher Anzahl, Eselreiten, Ponywagen zum Selbstkutschieren und ein Diner für sämtliche Lehrer in den »Sieben Glocken«, zwanzig Pfund das Gedeck, schätzten unsere Jungen. Außerdem wurde ein jährlicher freier Tag und Festschmaus für dieses Datum festgesetzt und ein zweiter an dem Geburtstag des alten Cheeseman. Der Reverend wurde vor den versammelten Jungen dazu verpflichtet, so daß er sich niemals darum drücken kann. Und alles auf Kosten des alten Cheeseman.
Und gingen unsere Jungen nicht alle zusammen nach den »Sieben Glocken« und brachen draußen Hochrufe aus?
Aber außerdem gab es noch etwas. Seht noch nicht nach dem nächsten Erzähler, denn es kommt noch etwas. Am nächsten Tag wurde der Entschluß gefaßt, daß der Bund sich mit Jane aussöhnen und dann aufgelöst werden sollte. Was sagt ihr aber dazu, daß Jane fort war? »Was? Fort für immer?« fragten unsere Jungen mit langen Gesichtern. »Ja, allerdings«, war die ganze Antwort, die sie bekamen. Niemand von den Leuten im Haus wollte mehr sagen. Schließlich unternahm es der Primus, den Reverend zu fragen, ob unsere alte Freundin Jane wirklich fort war. Der Reverend (er hat eine Tochter zu Hause – rotes Gesicht und Stülpnase) erwiderte streng: »Ja, Sir, Miß Pitt ist fort.« So ein Einfall, Jane Miß Pitt zu nennen! Einige sagten, sie wäre in Schande davongejagt worden, weil sie von dem alten Cheeseman Geld angenommen hätte. Andere meinten, sie wäre für zehn Pfund im Jahr mehr bei dem alten Cheeseman in Dienst getreten. Aber jedenfalls wußten unsere Jungen nur das eine mit Bestimmtheit, daß sie fort war.
Es war zwei oder drei Monate später, als eines Nachmittags ein offner Wagen an dem Kricketfeld gerade an den Grenzlinien haltmachte. Darin waren eine Dame und ein Gentleman, die dem Spiel lange Zeit zuschauten und sogar aufstanden, um besser sehen zu können. Niemand kümmerte sich viel um sie, bis derselbe schnüffelnde kleine Bengel gegen alle Regeln von dem Pfahl, wo er Ballfänger war, ins Feld gelaufen kam und sagte: »Es ist Jane.« Beide Elfermannschaften hatten im selben Augenblick das Spiel vergessen, liefen herzu und drängten sich um den Wagen. Es war auch wirklich Jane! Und in was für einem Hut! Und wenn ihr mir glauben wollt – Jane war mit dem alten Cheeseman verheiratet!
Es wurde bald ein gewohnter Anblick, wenn unsere Jungen gerade mitten im Spiel waren, daß ein Wagen an der Ecke der Mauer, wo der niedrige Teil in den höheren übergeht, hielt und eine Dame und ein Gentleman darin standen und hinüberblickten. Der Gentleman war stets der alte Cheeseman und die Dame war stets Jane.
Das erstemal, daß ich sie zu Gesicht bekam, sah ich sie so: Es hatte damals häufige Wechsel unter unseren Jungen gegeben, und es hatte sich herausgestellt, daß Bob Tarters Vater durchaus keine Millionen besaß! Er besaß überhaupt nichts. Bob war Soldat geworden und der alte Cheeseman hatte seine Schulrechnung bezahlt. Aber ich wollte von dem Wagen erzählen. Der Wagen hielt, und alle unsere Jungen hielten im Spielen inne, sobald sie seiner ansichtig wurden.
»So habt ihr mich also doch nicht in Verruf gebracht!« sagte die Dame lachend, als unsere Jungen die Mauer hinaufkletterten, um ihr die Hand zu schütteln. »Wollt ihr das niemals tun?«
»Niemals! Niemals! Niemals!« von allen Seiten.
Ich verstand damals nicht, was sie damit meinte, aber jetzt verstehe ich es natürlich. Jedoch gefiel mir ihr Gesicht und ihre freundliche Art sehr, und ich mußte sie immer angucken – und auch ihn –, während alle unsere Jungen sich so fröhlich um sie drängten.
Sie fragten bald nach mir als einem neuen Jungen; so dachte ich, ich könnte ebensogut die Mauer hinaufklettern und ihnen die Hände schütteln wie die übrigen. Ich freute mich ebensosehr wie die übrigen, sie zu sehen, und war im Augenblick ebenso vertraut mit ihnen.
»Bloß noch vierzehn Tage bis zu den Ferien«, sagte der alte Cheeseman. »Wer bleibt da? Gibt es jemand?«
Viele Finger wiesen auf mich und viele Stimmen riefen: »Der!« Denn es war das Jahr, als ihr alle verreist wart, und mir war ziemlich traurig zumute, das kann ich euch sagen.
»Oh!« sagte der alte Cheeseman. »Aber es ist einsam hier in den Ferien. Er soll lieber mit zu uns kommen.«
So ging ich in ihr schönes Haus und war so glücklich, wie ich nur sein konnte. Sie wissen, wie sie sich gegen Jungen zu verhalten haben, wahrhaftig. Wenn sie zum Beispiel einen Jungen ins Theater führen, dann tun sie es auf die richtige Weise. Sie kommen nicht nach dem Anfang und gehen nicht vor dem Ende. Auch verstehen sie sich darauf, einen Jungen zu erziehen. Man braucht da bloß ihren eigenen anzugucken! Obwohl er noch ganz klein ist, ist er doch schon ein Prachtjunge! Ja, nach Mrs. Cheeseman und dem alten Cheeseman kann ich den kleinen Cheeseman am besten leiden.
So, damit habe ich euch alles erzählt, was ich von dem alten Cheeseman weiß. Und ich fürchte, es ist am Ende nicht viel. Meint ihr nicht auch?
Doktor Marigold
(Charles Dickens)
2. Muß fürs ganze Leben genommen werden
Erstes Kapitel.
Muß gleich genommen werden
Ich bin ein fahrender Händler, und der Name meines Vaters war Willum Marigold. Zu seinen Lebzeiten vermuteten einige Leute, sein Name sei William, aber mein Vater behauptete stets hartnäckig, nein, er hieße Willum. Was mich angeht, so begnüge ich mich damit, die Sache von folgendem Standpunkt aus zu betrachten: Wenn es einem Mann in einem freien Lande nicht gestattet sein soll, seinen eigenen Namen zu kennen, was kann ihm da wohl noch in einem Land, wo Sklaverei herrscht, erlaubt sein? Wenn man die Sache vom Standpunkt des Registers aus betrachtet, so kam Willum Marigold auf die Welt, bevor noch