Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.wieviel?« sagt der Major.
»Eins!« ruft Jemmy.
»Das ist ein Junge, Ma'am!« sagt der Major hinter der Hand zu mir.
Dann fährt er fort.
»Wir kommen jetzt zur nächsten Elementarregel ...«
»Multiplikation!« ruft Jemmy.
»Richtig«, sagt der Major.
Aber, meine Liebe, Ihnen im einzelnen zu schildern, wie sie vierzehn Scheite Feuerholz mit zwei Stück Ingwer und einer Spicknadel multiplizierten oder so ziemlich alles, was sonst auf dem Tisch stand, durch den Stahl des Kräuseleisens und einen Zimmerleuchter dividierten und eine Zitrone übrigbehielten, würde mir den Kopf schwindlig machen, wie es damals der Fall war. Schließlich sage ich:
»Wenn Sie es mir nicht übelnehmen wollen, daß ich mir erlaube, den Vorsitzenden anzureden, Professor Jackman, so glaube ich, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo es erforderlich ist, daß ich diesen jungen Gelehrten einmal fest in meine Arme schließe.«
Daraufhin ruft Jemmy von seinem Stuhl aus:
»Großmutti, mache die Arme auf, und ich springe in sie hinein.«
So öffnete ich ihm also meine Arme, wie ich mein wehes Herz geöffnet hatte, als seine arme junge Mutter im Sterben lag. Er sprang hinein, und wir hielten einander eine gute Weile fest umschlungen, während der Major, stolzer als ein Pfau, hinter der vorgehaltenen Hand zu mir sagt:
»Sie müssen es ihn nicht merken lassen, Madam« (was ich tatsächlich nicht nötig hatte, denn der Major war vollkommen verständlich), »aber das ist ein Junge!«
In dieser Weise wuchs Jemmy auf. Er ging in die Tagesschule, lernte aber auch unter dem Major weiter, und im Sommer waren wir so glücklich, wie die Tage lang, und im Winter so glücklich, wie die Tage kurz waren. Über der Pension aber schien ein Segen zu ruhen, denn es war so gut, als ob die Zimmer sich selbst vermieteten, und ich hätte Kunden für die doppelte Anzahl gehabt. Eines Tages aber mußte ich ganz gegen meinen Willen und wehen Herzens zu dem Major sagen:
»Major, Sie wissen sicher, was ich Ihnen eröffnen muß. Unser Junge muß in ein Pensionat.«
Es war traurig mit anzusehen, wie das Gesicht des Majors lang wurde, und ich bemitleidete die gute Seele von ganzem Herzen.
»Ja, Major«, sage ich, »obwohl er bei den Mietern so beliebt ist wie Sie selbst, und obwohl er für Sie und für mich das ist, was nur Sie und ich wissen, so ist das doch der Lauf der Welt; das Leben besteht aus Trennungen, und wir müssen uns von unserem Liebling trennen.«
So fest ich auch sprach, sah ich doch zwei Majore und ein halbes Dutzend Kamine, und als der arme Major einen seiner sauberen, glänzend gewichsten Stiefel auf das Kamingitter stellte, dann den Ellbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand stützte und sich ein wenig hin und her bewegte, schnitt es mir furchtbar ins Herz.
»Aber«, fahre ich fort, nachdem ich mich geräuspert habe, »Sie haben ihn so gut vorbereitet, Major – er hat einen solchen Privatlehrer an Ihnen gehabt –, daß ihm die Anfangsplackerei ganz und gar erspart sein wird. Und außerdem ist er so gescheit, daß er bald seinen Platz unter den Ersten haben wird.«
»Er ist ein Junge«, sagt der Major, nachdem er ein wenig geschnüffelt hat, »wie es auf der Erde keinen zweiten gibt.«
»Das ist wahr, Major, und deshalb dürfen wir ihm nicht bloß aus Egoismus hinderlich sein, überall wo er hingeht, eine Leuchte und eine Zierde zu sein und vielleicht sogar einmal ein großer Mann zu werden, nicht wahr, Major? Er wird meine ganzen kleinen Ersparnisse erben, wenn einst meine Arbeit getan ist, denn er ist mein alles, und wir müssen versuchen, einen weisen und guten Menschen aus ihm zu machen, nicht wahr, Major?«
»Madam«, antwortete er, indem er sich aufrichtet, »Jemmy Jackman ist schon ein älterer Geselle geworden, als ich gedacht hätte, und Sie machen ihn schamrot. Sie haben vollkommen recht, Madam. Sie haben einfach und unbestreitbar recht. – Wenn Sie mich entschuldigen wollen, so werde ich jetzt einen Spaziergang machen.«
Als der Major das Haus verlassen hatte und da Jemmy zu Hause war, führte ich den Kleinen in meine Kammer und ließ ihn neben meinen Stuhl treten, legte meine Hand auf seine Locken und sprach liebevoll und ernsthaft zu ihm. Und als ich dem Liebling zu bedenken gegeben hatte, daß er nun schon bald zehn Jahre alt war, und als ich ihm über seine zukünftige Laufbahn im Leben so ziemlich dasselbe gesagt hatte, was ich dem Major gegenüber geäußert hatte, eröffnete ich ihm, daß die Trennung notwendig sei. Aber da mußte ich innehalten, denn plötzlich sah ich die wohlbekannte zitternde Lippe, und dieser Anblick rief mir die Vergangenheit so lebhaft wieder ins Gedächtnis! Aber mit der Tapferkeit, die ihm eigen war, hatte er sich bald gefaßt und sagte, durch seine Tränen hindurch ernsthaft nickend:
»Ich verstehe, Großmutti – ich weiß, es muß sein – sprich weiter, Großmutti, habe keine Angst vor mir.«
Und als ich alles gesagt hatte, was mir nur in den Sinn kam, wandte er mir sein ruhiges, freundliches Gesicht zu und sagte, wenn auch hier und da mit ein wenig gebrochener Stimme:
»Du sollst sehen, Großmutti, daß ich ein Mann sein kann und daß ich alles tun kann, um dir meine Dankbarkeit und Liebe zu beweisen – und wenn ich nicht das werde, was du von mir erwartest, dann hoffe ich, es wird nur deshalb sein, weil – weil ich sterben werde.«
Und damit setzte er sich neben mich hin, und ich erzählte ihm weiter von der Schule, über die ich ausgezeichnete Empfehlungen hatte: wo sie wäre, wie viele Schüler sie hätte, was für Spiele sie dort spielten, wie ich gehört hätte, und wie lang die Ferien wären, was er alles mit hellem und fröhlichem Gesicht mit anhörte. Schließlich sagte er:
»Und nun, liebe Großmutti, laß mich hier, wo ich mein Gebet zu sprechen pflegte, niederknien, laß mich mein Gesicht auf eine Minute in deinem Rock verbergen und laß mich weinen, denn du bist mehr als Vater, mehr als Mutter, mehr als Geschwister und Freunde für mich gewesen sind!«
Und so weinte er und ich auch, und wir fühlten uns danach beide viel besser.
Von dieser Zeit an hielt er getreulich Wort und war stets fröhlich und munter, und selbst als ich und der Major ihn nach Lincolnshire brachten, war er bei weitem der munterste von uns dreien. Das war freilich nicht schwer, aber er heiterte auch uns auf; und nur als es zum letzten Lebewohl kam, meinte er mit einem ernsten Blick:
»Du möchtest doch nicht, daß es mir wirklich nicht naheginge, Großmutti?«
Und als ich sagte: »Nein, mein Liebling, Gott behüte!« rief er: »Das freut mich!« und rannte ins Haus hinein.
Aber jetzt, als das Kind die Pension verlassen hatte, wurde der Major ganz und gar trübsinnig. Alle Mieter merkten, daß er den Kopf hängen ließ, und er sah nicht einmal mehr so stattlich aus wie sonst. Selbst seine Stiefel wichste er nur noch mit einem kleinen Schimmer von Interesse.
Eines Abends kam der Major in mein kleines Zimmer, um eine Tasse Tee und eine gebutterte Röstschnitte zu genießen und dabei Jemmys letzten Brief zu lesen, der an diesem Nachmittag eingetroffen war. Er war von demselben Briefträger wie früher gebracht worden, der, jetzt schon ein Mann in reiferem Alter, noch immer diesen Bezirk hatte. Da der Brief den Major ein wenig aufheiterte, sagte ich zu ihm:
»Major, Sie dürfen sich keinen trüben Stimmungen hingeben.«
Der Major schüttelte den Kopf.
»Jemmy Jackman, Madam«, sagte er mit einem schweren Seufzer, »ist ein älterer Geselle, als ich dachte.«
»Trübsinn ist kein Mittel, um jünger zu werden, Major.«
»Meine teure Madam«, erwiderte er, »gibt es überhaupt ein Mittel, um jünger zu werden?«
Da ich fühlte, daß der Major in diesem Punkt recht behalten würde, lenkte ich auf einen anderen ab.
»Dreizehn Jahre! Drei-zehn Jahre! Viele Mieter sind in den dreizehn Jahren, die Sie im ersten Stock wohnen, gekommen und gegangen.«
»Ja!«