Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.sie auf den Kaiser zu. Mit der einen Hand umspannte sie sein Handgelenk, mit der andern wies sie nach dem fernen Osten.
»Sieh!« gebot sie ihm, und der Kaiser hob die Augenlider und blickte hinab.
Der weite Raum eröffnete sich seinen Augen, und seine Blicke drangen bis ins ferne Morgenland. Er sah einen dürftigen Stall unter einer steilen Felswand, in dessen offener Tür einige Hirten knieten. Drinnen im Stall sah er eine junge Mutter. Sie kniete vor einem kleinen Kinde, das auf einem Strohbündel am Boden lag.
Und die unförmigen, knochigen Finger der Sibylle wiesen auf dieses arme Kindlein hin.
»Ave Caesar!« sprach die Sibylle mit einem Hohnlachen. » Dort liegt der Gott, der auf der Höhe des Kapitols angebetet werden wird!«
Da wich Augustus vor ihr zurück, wie vor einer Wahnwitzigen.
Aber nun kam die mächtige Sehergabe über die Sibylle. Ihre wilden Augen begannen zu glühen, ihre Arme streckten sich zum Himmel empor, ihre Stimme verwandelte sich, als wäre es nicht mehr ihre eigene, und sie bekam einen Klang und eine Kraft, daß sie auf dem weiten Erdenrund hätte vernommen werden können. Und sie sprach Worte aus, die sie hoch oben in den Sternen zu lesen schien:
»Auf der Höhe des Kapitols wird man den Weltenerneuerer anbeten, den Christ oder den Antichrist, doch nicht einen schwachen Sterblichen.«
Nachdem sie also gesprochen hatte, schritt sie an den vor Schreck erstarrten Männern vorüber langsam von der Bergeshöhe hinab und verschwand.
Augustus aber erließ am nächsten Tage ein strenges Verbot der Absicht, einen ihm geweihten Tempel auf dem Kapitol zu bauen. Statt dessen errichtete er dort ein Sanktuarium für den neugeborenen Gottessohn und nannte es Himmelsaltar, Ara coeli.
Der Brunnen der weisen Männer
Im alten Lande Judäa zog die Dürre einher, hohläugig und voll Bitterkeit schritt sie über vertrocknete Disteln und vergilbtes Gras hin.
Es war Sommerzeit. Die Sonne schien auf schattenlose Berggipfel, der leiseste Wind wirbelte dichte Wolken von Kalkstaub aus der grauweißen Erde, die Herden drängten sich um die ausgetrockneten Bäche der Täler.
Die Dürre ging durchs Land und beschaute die Wasservorräte. Sie wanderte nach den Teichen Salomos, und seufzend erkannte sie, daß diese noch eine große Menge Wassers zwischen ihren felsigen Ufern bargen. Dann ging sie zu dem berühmten Davidsbrunnen bei Bethlehem hinab und fand auch dort Wasser. Mit schleppenden Schritten zog sie nun auf der großen Heerstraße weiter, die von Bethlehem nach Jerusalem führt. Als sie etwa den halben Weg zurückgelegt hatte, erblickte sie den Brunnen der weisen Männer, der dicht am Wegrande liegt, und sie gewahrte sofort, daß er nahe am Versiegen sei.
Die Dürre ließ sich auf der Brunnenschale nieder, die aus einem einzigen großen, ausgehöhlten Stein besteht, und blickte hinab in den Brunnen.
Der glänzende Wasserspiegel, der sonst nahe der Oeffnung sichtbar wurde, war tief hinabgesunken und durch Schlamm und Schlick trübe und unrein.
Als der Brunnen das braungebrannte Gesicht der Dürre auf seinem matten Wasserspiegel erkannte, ließ er ein Plätschern der Angst vernehmen.
»Ich bin neugierig, wann es mit Dir aus sein wird,« sagte die Dürre. »Dort unten in der Tiefe kannst Du wohl keine Wasserader finden, die da käme, Dir neues Leben zu verleihen. Und, Gott sei Dank, kann von Regen vor zwei, drei Monaten gar keine Rede sein.«
»Da sei Du beruhigt,« seufzte der Brunnen. »Mir hilft nichts mehr. Es müßte denn zum mindesten ein Quellenlauf aus dem Paradies mich speisen.«
»So will ich Dich nicht verlassen, ehe alles überstanden ist,« sagte die Dürre. Sie erkannte deutlich, daß der alte Brunnen am Versiegen war, und nun wollte sie auch die Freude haben, ihn Tropfen für Tropfen hinsterben zu sehen.
Sie setzte sich befriedigt auf der Brunnenschale zurecht und hörte mit Behagen, wie der Brunnen dort unten in der Tiefe stöhnte. Es war ihr auch eine große Labsal, daß durstige Wanderer dem Brunnen sich näherten, die den Eimer hinabließen und nur mit etlichen Tropfen schlammigen Wassers emporzogen.
So ging der ganze Tag dahin, und als das Dunkel herniedersank, blickte die Dürre nochmals in den Brunnen hinunter. Noch schimmerte dort ein wenig Wasser. »Ich werde über Nacht hier bleiben,« rief sie. »Beeile Dich nur nicht! Wenn es so hell wird, daß ich wieder in Dich hinabsehen kann, dann ist es sicherlich mit Dir zu Ende.«
Die Dürre kauerte auf dem Brunnendach zusammen, während die heiße Nacht, die noch grausamer und qualvoller wirkte als der Tag, sich über Judäa breitete. Die Hunde und Schakale heulten unablässig, und die durstigen Rinder und Esel antworteten ihnen aus ihren heißen Ställen. Regte sich auch zuweilen der Wind, so brachte er doch keine Kühlung, sondern war glühend und dumpf wie die keuchenden Atemzüge eines riesigen, schlafenden Ungeheuers.
Jedoch die Sterne erschimmerten im allerherrlichsten Glanze, und der kleine, strahlende Neumond goß ein schönes, blau-grünes Licht über die grauen Hügel. Und in diesem Mondschein sah die Dürre eine große Karawane zu dem Hügel heraufziehen, auf dem der Brunnen der weisen Männer lag.
Die Dürre blickte auf den langen Zug hin und freute sich von neuem bei dem Gedanken an all den Durst, der dort den Brunnen suchte und keinen Tropfen Wasser zur Löschung finden würde. Es kamen so viele Tiere und Führer, daß sie den Brunnen hätten leeren können, wenn er auch bis oben voll Wasser gewesen wäre.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob diese ganze Karawane etwas Sonderbares, Gespenstisches habe, wie sie dort durch die Nacht herbeizog. Alle Kamele kamen erst auf einem Berge zum Vorschein, der dicht am Horizont emporragte: es war, als stiegen sie gerade vom Himmel herab. Sie sahen im Mondlicht auch viel größer als gewöhnliche Kamele aus und trugen gar zu leicht die gewaltigen Lasten, mit denen sie bebürdet waren.
Dennoch konnte die Dürre nur glauben, daß alles Wirklichkeit sei, weil sie das Bild ja genau vor sich sah. Sie konnte sogar erkennen, daß die drei vordersten Tiere Dromedare mit grauem, glänzendem Fell waren, und daß sie, reich gezäumt und mit fransengezierten Schabracken gesattelt, von schönen, vornehmen Reitern geritten wurden.
Vor dem Brunnen machte der Zug Halt. Die Dromedare lagerten sich mit dreimaligem, schnellem Einknicken auf die Erde, und die Reiter stiegen ab. Die beladenen Kamele blieben aufrecht stehen und schienen in ihrer Versammlung eine unabsehbare Wirrnis von langen Hälsen und Höckern und sonderbar hoch aufgestapeltem Gepäck.
Die drei Dromedarreiter schritten stracks auf die Dürre zu und begrüßten sie, indem sie die Hand an Stirn und Brust legten. Sie sah, daß die drei blendendweiße Gewänder und riesige Turbane trugen, an deren oberem Rand ein hellglänzender Stern befestigt war, der so stark funkelte, als ob er eben vom Himmel genommen sei.
»Wir sind aus einem fernen Lande«, sprach einer der Fremdlinge, »und bitten Dich, uns zu sagen, ob das in Wahrheit der Brunnen der weisen Männer ist.«
»So nennt man ihn bis auf den heutigen Tag,« antwortete die Dürre, »aber morgen wird es hier keinen Brunnen mehr geben. Er wird noch in dieser Nacht versiegen.«
»Das kann ich begreifen, da ich Dich hier sehe,« sprach der Mann. »Aber ist dieser denn nicht einer der geheiligten Brunnen, die nimmer versiegen? Weshalb hätte er sonst wohl seinen Namen?«
»Ich weiß, daß er geheiligt ist,« sagte die Dürre, »aber was tut das? Die drei Weisen sind im Paradies.«
Die drei Fremdlinge blickten einander an und fragten: »Kennst Du wirklich die Geschichte dieses alten Brunnens?«
»Ich kenne die Geschichte aller Brunnen und Quellen, aller Bäche und Flüsse,« antwortete die Dürre mit Stolz.
»Dann mache uns die Freude und erzähle sie!« baten die Fremdlinge. Und sie setzten sich im Kreise um die alte Widersacherin alles Gedeihens