Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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hier.«

      In den weiten Falten seines Gewandes wurden jetzt zwei Kinder sichtbar, elend abgemagert, erbarmungswürdig. Sie knieten vor ihm nieder und klammerten sich fest an den Saum seines Gewandes.

      »O Mensch, schau hier. Schau hier, schau hier!« rief der Geist.

      Es war ein Junge und ein Mädchen. Gelb, krank, zerlumpt und mit scheuem, bösen Blick; aber doch demütig. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte füllen und mit ihren heitersten Farben schmücken sollen, hatte eine verschrumpfte, abgelebte Hand, gleich der des Alters, sie berührt und kränkeln gemacht. Wo Engel hätten thronen dürfen, harrten Teufel mit grimmiger, drohender Miene. Keine Änderung, keine Entwertung der Menschheit in allen Geheimnissen der Schöpfung hat so schreckliche und grauenhafte Ungeheuer vorzuweisen.

      Scrooge prallte entsetzt zurück. Weil aber der Geist sie ihm in dieser Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder; aber die Worte erstarben ihm selbst im Munde, als wollten sie nicht teilhaben an einer so ungeheuerlichen Lüge.

      »Geist, sind das deine Kinder?« Scrooge vermochte nichts weiter zu fragen.

      »Es sind des Menschen Kinder«, sagte der Geist, auf sie herniederschauend. »Und sie klammern sich an mich, ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist die Not. Präge sie dir beide gut ein, vor allem aber diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh’ ich geschrieben, was die verhängnisvolle Folge sein wird, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es nur«, rief der Geist, seine Hand nach der Stadt erhebend, »verleumdet die, die auch darauf hinweisen! Gebt es zu um eurer Privatinteressen willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!«

      »Haben sie keine Stütze, keine Zufluchtsstätte?« rief Scrooge.

      »Gibt es keine Gefängnisse?« sagte der Geist, jetzt zu guter Letzt, Scrooges eigene Worte gegen ihn gebrauchend. »Gibt es keine Armenhäuser?«

      Die Glocke schlug zwölf.

      Scrooge schaute nach dem Geist um, aber er war verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, erinnerte er sich an die Prophezeiung des alten Jakob Marley, und als er den Blick erhob, sah er ein grauenvolles, tief verhülltes Gespenst sich ihm nahen, wie ein Nebel auf dem Boden daherwallt.

      Viertes Kapitel.

       Der letzte der drei Geister

       Inhaltsverzeichnis

      Die Erscheinung schwebte langsam, feierlich und schweigend auf ihn zu. Als sie sich ihm nahte, fiel Scrooge auf die Knie; denn selbst die Luft, durch die sich der Geist bewegte, schien geheimnisvolles Grauen zu erwecken. –

      Die Erscheinung war in einen schwarzen, weiten Mantel gehüllt, durch den nichts von ihr sichtbar wurde, als eine ausgestreckte Hand. Wäre diese nicht gewesen, so würde es schwer gefallen sein, die Gestalt von der Nacht zu trennen, die sie umwob.

      Als sie neben ihm stand, spürte er, daß sie groß und mächtig war und daß ihr geheimnisvolles Dasein ihn mit Furcht, die ans Gefühl des Erhabenen grenzte, erfüllte. Er erkannte nicht mehr; denn der Geist sprach und rührte sich nicht.

      »Habe ich vor mir den Geist der künftigen Weihnachten?« fragte Scrooge.

      Der Geist antwortete nicht, sondern deutete mit der Hand auf die Erde.

      »Du willst mir die Schatten der Dinge dartun, die noch nicht erfolgt sind«, fuhr Scrooge fort. »Willst du das, Geist?«

      Die Spitze der verhüllten Erscheinung legte sich für einen Augenblick in Falten, als ob der Geist sein Haupt neigte; das war die einzige Antwort, die Scrooge empfing.

      Obwohl er doch ziemlich an gespenstische Gesellschaft gewöhnt war, graute es Scrooge doch vor der stummen Erscheinung so sehr, daß seine Knie wankten und er kaum mehr zu stehen vermochte, als er sich anschickte, ihr zu folgen. Der Geist hielt für einen Augenblick an, als bemerkte er seine Furcht und wollte ihm Zeit lassen, sich zu beruhigen.

      Aber Scrooge erging es dadurch noch schlechter. Ein leeres unbestimmtes Grausen durchzitterte ihn bei dem Gedanken, daß sich hinter diesem schwarzen Schleier gespenstische Augen fest auf ihn hefteten, während er, wiewohl er seine Augen heftig anstrengte, doch nichts sehen konnte als eine gespenstische Hand und einen großen, dunklen faltigen Mantel.

      »Geist der Zukunft!« rief er, »ich fürchte dich mehr als die Erscheinungen, die ich schon wahrgenommen habe. Aber weil ich weiß, daß es Absicht ist, mir Gutes zu tun, und da ich hoffe weiter zu leben, um ein anderer Mensch zu werden, als ich es früher war, bin ich bereit, dich zu begleiten, und ich tue das mit dankbarem Sinn. Willst du nicht mit mir reden?«

      Die Gestalt antwortete ihm nicht. Die Hand wies gerade in die Ferne vor ihnen.

      »Führe mich«, rief Scrooge. »Führe mich, die Nacht geht schnell dahin, und die Zeit ist kostbar für mich. Führe mich, Geist.«

      Die Erscheinung bewegte sich von ihm fort, ebenso, wie sie auf ihn zugekommen war. Scrooge folgte dem Schatten ihres Gewandes, der, wie es ihm dünkte, ihn emporhob und davontrug.

      Es war kaum so, als ob sie in das Stadtzentrum von sich aus hineingelangten; denn das Stadtzentrum schien eher rund um sie in die Höhe zu schießen und sie zu umzingeln. Aber sie waren doch im Herzen desselben, auf der Börse unter den Kaufleuten, die hin und her eilten, mit dem Geld in ihren Taschen klapperten, in Gruppen miteinander sprachen, nach der Uhr blickten und gedankenvoll mit den großen, goldenen Uhranhängern spielten, wie Scrooge dies oft bemerkt hatte.

      Der Geist blieb bei einer Schar von Kaufleuten stehen. Scrooge sah, daß die Hand der Erscheinung dahinwies, und so näherte er sich ihnen, um ihr Gespräch mit anzuhören.

      »Nein«, sagte ein großer, korpulenter Herr mit einem mächtigen Unterkinn, »ich kann nicht viel darüber sagen. Ich weiß nur, daß er tot ist.«

      »Wann starb er denn?« fragte ein anderer.

      »Vorige Nacht, wenn ich recht unterrichtet bin.«

      »Nun, wie geht das zu?« fragte ein Dritter und nahm eine gewaltige Prise aus einer sehr großen Dose. »Ich dachte, er würde nie sterben.«

      »Weiß Gott, wie es kam«, sagte der erste gähnend.

      »Was hat er mit seinem Gelde begonnen?« fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und mit einem Gewächs auf der Nasenspitze, das hin und her wackelte wie der Lappen eines Hahns.

      »Ich habe darüber nichts vernommen«, sagte der Mann mit dem großen Unterkinn, abermals gähnend. »Er hat es wahrscheinlich seiner Sippschaft hinterlassen. Mir hat er es nicht vermacht. Soviel weiß ich.«

      Dieser geistreiche Scherz wurde mit allgemeinem Gelächter aufgenommen.

      »Es wird wohl ein sehr billiges Begräbnis werden«, fuhr derselbe Unterhalter fort; »denn so wahr ich lebe, ich kenne niemanden, der folgen sollte. Wenn wir nun zusammenträten und freiwillig folgten?«

      »Ich bin dabei, wenn für einen Lunch gesorgt wird«, bemerkte der Herr mit dem Gewächs auf der Nasenspitze. »Aber ich muß wohl bewirtet werden, wenn ich dabei sein soll.«

      Ein erneutes Gelächter.

      »Nun, da bin ich doch wohl der Uneigennützigste von euch«, sagte der erste Redende wieder, »denn ich trage nie schwarze Handschuhe und esse keinen Lunch. Aber ich gehe mit, wenn sich noch andere finden. Wenn ich mir’s recht überlege, war ich am Ende sein nächster Freund, wenn wir uns auf der Straße trafen. Guten Morgen, guten Morgen!«

      Die Redenden und Zuhörenden trennten sich und mischten sich unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Leute und blickte den Geist fragend an.

      Der Geist schwebte weiter die Straße entlang.

      Seine Hand wies auf zwei sich treffende Personen.

      Scrooge hörte wieder zu, hoffend, daß er hier die Erklärung vernehmen werde.


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