Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

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Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


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      Kaleb war viel zu verwirrt, um sie zu verstehen.

      »Blind … blind zu sein, Bertha, mein armes, liebes Kind«, stotterte er, »ist gewiß ein großer Schmerz; indes …«

      »Ich habe das nie empfunden!« rief das blinde Mädchen. »Ich habe das nie empfunden, wenigstens nicht in seiner ganzen Schwere. Nie! Bisweilen habe ich gewünscht, ich könnte dich sehen, oder ihn – nur ein einziges Mal, Vater, nur einen einzigen kleinen Augenblick – damit ich wüßte, was es sei, was ich hier«, – sie legte die Hand auf die Brust – »was ich hier als mein köstlichstes Gut bewahre, damit ich wüßte, ob ich mich auch nicht geirrt habe! Und manchmal (aber da war ich noch ein Kind) hab’ ich abends bei meinen Gebeten geweint, wenn ich dachte, daß eure Bilder, wie sie aus meinem Herzen zum Himmel stiegen, keine genaue Ähnlichkeit mit euch haben möchten. Aber ich habe diese Gefühle nicht lange gehabt. Sie sind verschwunden, und ich war wieder ruhig und zufrieden.«

      »Und sie werden auch jetzt wieder verschwinden«, sagte Kaleb.

      »Aber Vater! O guter, liebster Vater, habe Geduld mit mir, wenn ich schlecht bin!« sagte das blinde Mädchen. »Das ist der Kummer nicht, der mich so niederdrückt!«

      Ihr Vater konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihm in die Augen gestiegen waren, in so bewegtem und traurigem Tone sprach sie. Indes verstand er sie noch nicht.

      »Bringe sie zu mir«, sagte Bertha. »Ich kann es nicht in meiner Brust verschließen. Hole sie mir, Vater.«

      Sie merkte, daß er zauderte, und setzte hinzu:

      »May. Hole mir May!«

      May hörte ihren Namen nennen, trat still an sie heran und berührte ihren Arm. Das blinde Mädchen wandte sich sofort um und ergriff ihre beiden Hände.

      »Schau mir ins Gesicht, liebste, beste Freundin!« sagte Bertha; »lies darin mit deinen schönen Augen und sage mir, ob die Wahrheit darin geschrieben steht.«

      »Liebe Bertha, ja!«

      Das blinde Mädchen, ihr lichtloses Antlitz emporhebend, über das die Tränen flossen, sagte folgendes zu ihr:

      »Kein Wunsch oder Gedanke ist in meiner Seele, der nicht auch deinem Glück gälte, schöne May! Keine dankbare Erinnerung ist tiefer in meine Seele eingegraben als die zahlreichen Beweise von Freundlichkeit, die du, die du stolz sein konntest auf deine hellblickenden Augen und auf deine Schönheit, der armen, blinden Bertha geschenkt hast, selbst damals, als wir beide noch Kinder waren – wenn es für ein blindes Kind überhaupt eine Kindheit geben kann! Alles Glück auf dein Haupt! Möge dein Lebensweg hell und glücklich sein! Und darum nicht weniger, liebe Freundin« – und sie schmiegte sich noch enger an sie und drückte noch fester ihre Hände – »und darum nicht weniger, liebe May, weil die heutige Nachricht, du solltest seine Frau werden; mir fast das Herz gebrochen hat! Vater, May, liebe May, o verzeiht mir, daß es so ist, um alles dessen willen, was er getan hat, um mir das Los meines finstern Lebens zu erleichtern, und um des Vertrauens willen, das er zu mir hat, wenn ich den Himmel zum Zeugen anrufe, daß ich ihm kein Weib wünschen könnte, das seiner Herzensgüte würdiger wäre!«

      Während sie sprach, hatte sie May Fieldings Hände losgelassen, um ihre Kleider zu umfassen, in einer halb bittenden, halb zärtlichen Stellung, bis sie, immer tiefer herabgleitend, je weiter sie kam in ihrer seltsamen Beichte, sich endlich zu den Füßen ihrer Freundin niederließ und ihr blindes Antlitz in den Falten ihres Kleides verbarg.

      »Großer Gott!« rief ihr Vater, dem plötzlich wie ein Blitz die Wahrheit aufleuchtete, »habe ich sie darum von der Wiege an getäuscht, um ihr schließlich das Herz zu brechen!«

      Es war ein Glück für alle, daß Dot, diese strahlende, nützliche, geschäftige, kleine Dot – denn das alles war sie, trotz all’ ihrer Fehler, von denen ihr bald genug lernen werdet, sie zu verachten – es war ein Glück für alle, sag’ ich, daß sie da war, sonst wäre schwer zu sagen, wie das geendet hätte. Aber Dot, die ihre Geistesgegenwart wiedergewonnen hatte, fiel hier ein, ehe May antworten oder Kaleb noch sonst etwas sagen konnte.

      »Komm, komm, liebe Bertha! Komm mit mir! Reich ihr den Arm, May. So! Seht, wie sie sich schon wieder beruhigt hat und wie brav es von ihr ist, zu tun, was wir sagen«, sagte die fröhliche, kleine Frau und küßte sie auf die Stirn. »Komm mit, komm, liebe Bertha! Und ihr guter Vater hier kommt auch mit, nicht wahr, Kaleb? Natürlich!«

      Ja, ja, sie war eine herrliche, kleine Dot bei solchen Gelegenheiten, diese Dot, und es hätte schon eine sehr verstockte Natur dazu gehört, ihrem Einfluß zu widerstehen. Als sie den armen Kaleb und seine Bertha hinausgebracht, damit sie einander trösten und ermutigen könnten – sie wußte ja, daß sie dazu nur allein imstande waren! –, eilte sie sofort mit einem Sprunge zurück, frisch wie eine Maiblume, pflegt man zu sagen, ich aber sage: noch weit frischer, um bei dieser vornehmen Person in Mütze und Handschuhen Wache zu halten und zu verhüten, daß das liebe, alte Geschöpf unangenehme Entdeckungen mache.

      »Nun bring’ mir den köstlichen Jungen, Tilly«, sagte sie, indem sie einen Stuhl ans Feuer zog, »und während ich ihn auf dem Schoß habe, wird Mrs. Fielding hier mir sagen, wie man solche Wickelkinder behandeln muß und mir in zwanzig Dingen, worin ich so ungeschickt wie möglich bin, Rat erteilen. Nicht wahr, Mrs. Fielding?«

      Nicht einmal der Walliser Riese, der der volkstümlichen Sage zufolge so schwer von Begriffen war, eine verhängnisvolle chirurgische Operation an seinem eigenen Körper vorzunehmen, um den Streich, den sein Erzfeind beim Frühstück ihm vorgeschwindelt, nachzuahmen, – nicht einmal der fiel halb so schnell in die ihm gelegte Falle, wie die alte Dame in diese kunstvolle Grube. Die Tatsache, daß Tackleton fortgegangen und daß ferner zwei oder drei Personen in einiger Entfernung von ihr miteinander geflüstert und sie sich selbst überlassen hatten, hätte vollständig genügt, sie an ihre verletzte Würde zu erinnern und sie vierundzwanzig Stunden lang den Ausdruck ihres Bedauerns über jene geheimnisvolle Wendung in dem Indigohandel erneuern zu lassen. Aber ein so tiefer Respekt vor ihrer Erfahrung seitens der jungen Mutter war so unwiderstehlich, daß sie, nachdem sie einiges, bescheidene Sträuben vorgetäuscht hatte, anfing, sie mit der gnädigsten Miene von der Welt zu belehren, und, sich aufrecht vor die boshafte kleine Dot setzend, gab sie in einer halben Stunde mehr unfehlbare Hausrezepte und Ratschläge, als nötig gewesen wären, um den jungen Peerybingle in eine andere Welt zu befördern, und wäre er auch ein Simson in der Wiege gewesen.

      Um ein wenig abzulenken, nahm Dot ihr Nähzeug zur Hand – wie sie es anfing, weiß ich nicht, aber sie trug immer den Inhalt eines ganzen Arbeitsbeutels in ihrer Tasche –; dann stillte sie ein wenig das Kind; darauf nahm sie wieder ein Weilchen ihre Arbeit zur Hand, worauf sie, während die alte Dame schlummerte, ein kleines Flüsterduett mit May begann. Und so brachte sie, stets in geschäftiger Rührigkeit, wie das so ihre Art war, sehr rasch den Nachmittag hin. Und als es dann dunkel wurde, schürte sie – da es eine der feierlichen Vereinbarungen dieser Picknickeinrichtung war, daß sie an diesem Tage Berthas Haushalt besorge – das Feuer, fegte den Herd, deckte den Teetisch, zog die Vorhänge zusammen und steckte Licht an. Dann spielte sie ein paar Lieder auf einer Art Harfe, die Kaleb für seine Tochter fabriziert hatte; und sie spielte sehr hübsch; denn die Natur hatte ihr zartes, kleines Ohr ebenso vollkommen für Musik ausgebildet, wie für Juwelen, wenn sie welche zu tragen gehabt hätte. Da jetzt die für den Tee angesetzte Zeit gekommen war, erschien auch Tackleton wieder, um an dem Mal teilzunehmen und sich des Abends zu erfreuen.

      Kaleb und Bertha waren seit einiger Zeit zurückgekehrt, und Kaleb hatte die unterbrochene Nachmittagsarbeit wieder aufgenommen. Aber er konnte nichts zuwege bringen, der arme Teufel, so voll Angst war er und solche Gewissensbisse empfand er wegen seiner Tochter. Es war rührend, ihn müßig auf seinem Arbeitsschemel sitzen zu sehen, indem er traurig die Blicke auf sie gerichtet hatte und in einem fort für sich hinsagte:

      »Habe ich sie denn nur darum von der Wiege an getäuscht, um ihr schließlich das Herz zu brechen?«

      Als es ganz dunkel wurde und der Tee eingenommen war und Dot nichts mehr an den Tassen zu waschen hatte, mit einem Wort – denn ich muß es geradeheraus sagen, und es hat keinen Sinn, es hinauszuschieben –,


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