Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Entwicklung der Firma ohne ihre lobenswerten Anstrengungen fast für gänzlich ausgeschlossen gehalten hätte.
Aber jetzt schwebte der Paradiesvogel in der Mitte herab; und die Glöckchen fingen an zu nicken und zu klingeln; und das rote Gesicht des Doktors drehte sich rundherum, wie ein glänzend gefirnißter Kreisel mit einem Menschengesicht. Der außer Atem geratene Mr. Craggs begann schon zu zweifeln, daß das Tanzen wie das übrige Leben den Menschen zu leicht gemacht worden. Mr. Snitchey aber tanzte mit muntern Sprüngen für sich selbst, für Craggs und für ein halbes Dutzend andere Leute.
Und auch das Feuer faßte frische Lust und loderte heller auf, angefeuert von dem Zug, den der Tanz hervorbrachte. Es war der Genius des Zimmers und überall vorhanden. Es glänzte in den Augen der Männer, schimmerte in den Juwelen am weißen Busen der Mädchen, gaukelte um ihre Ohren, als ob es ihnen neckisch etwas zuraune, erleuchtete den Fußboden und bereitete zu ihren Füßen einen rosigen Teppich, er glänzte und spiegelte und entflammte eine große Illumination in Mrs. Craggs’ kleinem Glockenturm. … und der Tanz bewegte sich in fröhlicherem Takt. Und jetzt wurde die Luft, die es anfachte, frischer. Die Musik wurde fröhlicher, und der Tanz bewegte sich in lebhafterem Takt. Ein Wehen erhob sich, das die Blätter und Beeren an den Wänden sich wiegen machte, wie früher im Freien. Ein Rauschen ging durch das Zimmer, als ob eine unsichtbare Schar Elfen den irdischen Tänzern auf den Fersen folgte. Nun konnte kein Zug von dem Gesicht des Doktors erkannt werden, wie er sich rundherum drehte. Jetzt sah es aus, als ob ein Dutzend Paradiesvögel durchs Zimmer flögen und tausend kleine Glöckchen erklängen. Jetzt ward ein Geschwader wehender Kleider im Sturm dahin getrieben, als die Musik verklang und der Tanz sein Ende hatte.
Der Doktor fühlte sich erhitzt und außer Atem, so daß er nur noch ungeduldiger auf Alfreds Kommen ward.
»Hast du etwas erblickt, Britannien, etwas gehört?«
»Es ist zu finster, um weit zu schauen, Herr, und zu viel Lärmen im Hause, um etwas hören zu können«, antwortete der Diener.
»Das ist richtig! Um so lustiger der Willkomm. Wie spät ist es?«
»Punkt zwölf, Herr. Er kann nicht lange mehr verziehen, Herr.«
»So frische das Feuer auf und wirf noch einen Kloben dazu«, sagte der Doktor. »Sein Willkomm soll ihm durch die Nacht entgegenglänzen, je näher er kommt!«
Er schaute es – ja! Aus seinem Wagen bemerkte er den Schein, da er um die Ecke bei der alten Kirche fuhr. Er kannte das Zimmer, aus der er strahlte. Er sah die nächsten Zweige der ihm wohlbekannten Bäume zwischen dem Leuchten und sich. Er wußte, daß einer dieser Bäume in sommerlichen Tagen hold vor Marions Fenster rauschte.
Tränen traten ihm ins Auge. Sein Herz klopfte so stark, daß er kaum sein Glück auszuhalten vermochte. Wie oft hatte er dieser Epoche gedacht, sie sich vorgestellt in allen ihren Umständen – gebangt, daß sie doch nicht erscheinen würde, und danach verlangt und sich gesehnt, fern, fern von hier!
Wieder der Glanz! Deutlich und weithin leuchtend, entzündet, wie er wußte, um ihn willkommen zu heißen und um ihm nach dem alten Haus zu leuchten. Er winkte mit der Hand, schwenkte den Hut und begrüßte sie mit Zurufen, als ob sie die Glut wären und als ob sie ihn schauen und hören könnten, wie er jauchzend ihnen auf der Straße entgegenfuhr.
Doch halt! Er kannte den Doktor und vermutete, was dieser getan hatte. Er sollte sie nicht überraschen. Und doch konnte er dies, wenn er nämlich zu Fuß auf das Haus zuschritt. Wenn die Gartentür geöffnet stand, so konnte er dort hinein. Wenn dies nicht der Fall war, so war die Mauer bald überklettert; das wußte er von früher her, und er hätte in einem Augenblick unter ihnen gestanden.
Er stieg aus dem Wagen und befahl dem Kutscher – selbst dies fiel ihm nicht leicht in seiner Erregung – ein paar Minuten zu warten und ihm dann langsam nachzufahren. Darauf eilte er schnell voraus, versuchte, ob die Tür offen war, kletterte über die Mauer, sprang auf die andere Seite herab und stand schweratmend in dem alten Obstgarten.
Es lag ein heller Reif auf den Bäumen, der in dem matten Licht des umwölkten Mondes an den dünnen Zweigen gleich welken Girlanden hing. Dürres Laub raschelte unter seinem Schritt, als er leise auf das Haus zuschlich. Die Winternacht starrte in ihrer ganzen Öde auf die Erde und erschien ebenso am Himmel. Aber der rote Glanz leuchtete ihm freundlich aus den Fenstern entgegen: Gestalten bewegten sich an ihm vorbei, und das Brausen menschlicher Stimmen traf angenehm sein Ohr.
Bemüht, ihre Stimme aus den übrigen herauszuhören und schon zur Hälfte der Überzeugung, daß er sie wirklich höre, hatte er fast schon die Tür erreicht, als sie jäh geöffnet ward und eine Gestalt ihm entgegentrat. Sie wich erschrocken und mit unterdrücktem Ruf zurück.
»Clemency«, sagte er, »kennst du mich nicht mehr?«
»Kommen Sie nicht herein!« sagte sie und suchte ihm den Eintritt zu verwehren. »Gehen Sie fort. Fragen Sie nicht weshalb. Kommen Sie nicht herein!«
»Was ist denn?« rief er aus.
»Ich weiß es nicht. Es graut mir, daran zu denken. Eilen Sie von hinnen. Hören Sie?«
Ein Lärm erhob sich im Hause. Sie hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Ein Verzweiflungsruf, so gellend, daß keine Hand das Ohr absperren konnte, erscholl; und Grace – Entsetzen in Gesicht und Haltung – stürzte aus dem Hause.
»Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist los? Ist sie tot?«
Sie machte sich frei, als wollte sie ihm ins Gesicht schauen, und sank bewußtlos vor ihm zu Boden.
Eine Anzahl Menschen kam aus dem Hause gerannt. Darunter der Vater, der ein Papier in der Hand hielt.
»Was gibt es?« stöhnte Alfred und wandte seinen Blick verzweifelt von Gesicht zu Gesicht, indessen er neben der Ohnmächtigen kniete. »Will mich niemand anblicken? Will niemand mit mir sprechen? Kennt mich denn niemand? Ist keine Lippe vorhanden, die mir verrät, was passiert ist?«
Ein Geraune ward hörbar: »Sie ist fort!«
»Fort!« wiederholte er.
»Geflüchtet, lieber Alfred!« sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Geflüchtet aus dem Vaterhaus. Heute nacht! Sie sagt, sie hätte selbständig und einwandfrei gewählt – bittet, wir möchten ihr verzeihen – und ist geflüchtet.«
»Mit wem? Wohin?« fragte er hastig unterdrückt.
Er sprang auf, als ob er ihr folgen wollte. Aber als sie ihm aus dem Weg wichen, sah er verstört um sich, wankte ein paar Schritte zurück und sank wieder nieder. Er blieb neben Grace knien und ergriff eine ihrer kalten Hände.
Große Verwirrung und Aufregung hatten Platz gegriffen, aber ohne Sinn und Ziel. Einige eilten auf verschiedenen Straßen nach, andere holten Pferde oder Fackeln herbei, andere redeten laut miteinander und wandten ein, daß man nicht die geringste Spur hätte. Einige traten auf ihn zu und versuchten ihn zu trösten. Andere bedeuteten ihm, daß Grace in das Haus geschafft werden müsse, aber er duldete es nicht. Er hörte auf niemanden und rührte sich nicht.
Der Schnee fiel immer dichter. Er sah einmal zum Himmel empor und dachte bei sich, daß diese weiße Asche, die über sein Hoffen und sein Leid gestreut ward, ihr gut stehe. Er schaute umher auf dem weißen Erdboden und dachte daran, daß die Spur von Marions Fuß, kaum eingedrückt, wieder verdeckt werde, und selbst dieses Gedenken an sie nicht von Dauer sein würde. Bei alledem spürte er nichts von dem Wetter und bewegte sich nicht von der Stelle.
Dritter Teil
Die Welt war seit dieser Nacht der Rückkehr sechs Jahre älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag und es hatte stark geregnet. Die Sonne schien plötzlich durch die Wolken, und das alte Schlachtfeld glänzte bei ihrem Anblick von einem grünen Fleck her aufleuchtend, strahlte ihr einen Willkommensgruß entgegen. Dieser Gruß dehnte sich über