Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). Walter Benjamin

Читать онлайн книгу.

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - Walter  Benjamin


Скачать книгу
Alles, auch als sie selbst noch ein Kind war.«

      »Sehr richtig, mein Herzblatt, sehr richtig«, versetzte der Doktor. »Sie war eine wackere kleine Hausfrau, meine Grace, und eine gute Wirtschafterin und ein fleißiges, kluges Kind; voller Geduld für unsere Launen, immer bereit, unsern Wünschen zuvorzukommen, und die eigenen hintanzustellen; selbst damals schon. Schon damals, Grace, warst du nie verdrossen und eigenwillig, von einem einzigen Punkt abgesehen.«

      »Ich befürchte, daß ich mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert habe«, lachte Grace, immer noch eifrig arbeitend. »Was war denn das für ein Punkt, Vater?«

      »Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Du warst nur zufrieden, wenn man dich Alfreds Frau nannte; also nannten wir dich Alfreds Frau; und das gefiel dir besser (so merkwürdig es jetzt auch erscheinen mag), als wenn wir dir den Titel einer Herzogin verliehen hätten, wenn wir dich dazu hätten erheben können.«

      »Ist es wirklich so?« sagte Grace gelassen.

      »Nanu, weißt du das nicht mehr?« fragte der Doktor.

      »Ich glaube, ich erinnere mich noch etwas daran«, erwiderte sie, »aber kaum. Es ist zu lange her.” Und während sie nähte, summte sie den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor liebte.

      »Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn. »Und das wird eine schöne Zeit für uns alle sein. Meine dreijährige Verpflichtung ist bald vorüber, Marion. Du hast es mir sehr erleichtert. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich wieder an seine Brust lege, daß du ihn die ganze Zeit innig geliebt hast und daß er nicht ein einziges Mal meiner Hilfe bedurft hat. Darf ich ihm das sagen, meine Teure?«

      »Sage ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, so vornehm, so treulich erfüllt wurde; daß ich dich seit damals von Tag zu Tag immer mehr habe lieben lernen, und daß ich dich jetzt so unaussprechlich liebe!«

      »Das vermag ich ihm kaum zu sagen«, versetzte ihre Schwester, sie ihrerseits umarmend, »meine Verdienste mag sich Alfreds Phantasie ausmalen. Er wird reichlich übertreiben, meine Marion: ganz wie du.«

      Sie griff nun wieder zu ihrer Arbeit, die sie aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so voller Rührung zu ihr geredet, und sie summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hatte. Und der Doktor saß immer noch im Lehnstuhl, lauschte dem Lied, schlug mit Alfreds Brief den Takt dazu auf seinem Knie, schaute auf seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen Eitelkeiten der eitlen Welt diese wenigstens berechtigt waren.

      Inzwischen eilte Clemency Newcome, nachdem sie ihre Botschaft erledigt und im Zimmer gewartet hatte, bis sie endlich alles wußte, wieder in die Küche, wo Mr. Britain es sich nach dem Abendessen behaglich machte, umgeben von einer so umfassenden Sammlung von blitzenden Deckeln, sauber gescheuerten Töpfen, polierten Schüsseln, glänzenden Kesseln und andern Zeugnissen ihres Fleißes an den Wänden und auf den Regalen, daß er gleichsam inmitten einer Spiegelhalle saß. Die spiegelten allerdings kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wider. Zudem waren ihre Darstellungen keineswegs gleichartig: denn manche verliehen ihm ein sehr langes Gesicht, manche ein sehr breites; manche ein ganz nettes und andere ein sehr häßliches, je nach ihrer Manier zu reflektieren, ganz wie dies die Menschen tun. Aber darin stimmten sie völlig überein, daß in ihrer Mitte ganz gemütlich ein Individuum saß, mit der Pfeife im Mund, einen Krug Bier neben sich und Clemency gnädig zunickend, als sie sich an dem gleichen Tisch niederließ.

      »Nun, Clemency«, sagte Britain, »was hast du jetzt, und was gibt es Neues?«

      Clemency erzählte ihm, was sie gehört, und er nahm es sehr liebenswürdig auf. Eine wohltuende Verwandlung war bei Benjamin vom Kopf bis zur Zehe erfolgt. Er war viel massiver und viel röter, viel vergnügter und viel lustiger anzusehen. Es machte den Eindruck, als ob sein Gesicht in einen Knoten zusammengebunden gewesen und jetzt aufgeknotet und ausgeplättet worden wäre.

      »Das wird wohl ein neues Geschäft für Snitchey und Craggs ausmachen«, versetzte er, behäbig Rauchwolken in die Luft blasend. »Und wir werden vielleicht wieder als Zeugen antreten, Clemency!«

      »Himmel!« antwortete Clemency mit der üblichen Bewegung ihrer Lieblingsgliedmaßen. »Ich wollte, ich wäre dran, Britain!«

      »Was denn dran?«

      »Die dran ist zu heiraten!«

      Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte hell auf. »Ja! Du bist ganz die Richtige dazu«, sagte er: »dummbrave Clemency!« Clemency lachte nun ebenso herzlich wie er und schien an der Idee ebensoviel Vergnügen zu finden. »Ja«, fuhr sie fort, »ich bin ganz die Richtige dazu; findest du nicht?«

      »Du wirst selbstverständlich niemals heiraten«, sagte Mr. Britain und führte die Pfeife wieder zum Mund.

      »Glaubst du wirklich nicht?« sagte Clemency ganz arglos.

      Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Dafür bestehen keine Aussichten!«

      »Aber bedenke doch!« sagte Clemency. »Nämlich: ich glaube, du wirst nächstens daran sein, Britain; nicht wahr?«

      Eine so jäh gestellte Frage über eine so bedeutende Angelegenheit erforderte Überlegung. Nachdem er eine große Rauchwolke gebildet und sie, den Kopf bald auf diese bald auf jene Seite legend, beschaut halte, als wäre diese Wolke das strittige Problem, und er betrachtete sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, entgegnete Mr. Britain, daß er über die Sache noch nicht ganz im klaren sei, aber – im übrigen – er könnte sich eventuell noch dazu entschließen.

      »Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück!« rief Clemency.

      »O, daran wird es ihr nicht fehlen«, meinte Benjamin, »bestimmt nicht.«

      »Aber sie würde nicht so glücklich sein und keinen so wirklich guten und lieben Mann haben«, meinte Clemency und legte sich halb über den Tisch, um nachdenklich ins Licht zu sehen, »wenn ich nicht gewesen wäre – nicht daß ich es beabsichtigt hätte; denn es war reiner Zufall: ist es nicht so, Britain?«

      »Sicherlich«, sagte Mr. Britain, jetzt beim Vollgenuß seiner Pfeife, da der Raucher den Mund nur ein ganz klein bißchen zum Reden zu öffnen vermag und in genußreichster Ruhe in seinem Stuhl sitzt und nur imstande, seinem Gefährten die Augen zuzuwenden, und das sehr langsam und ernst. »O! ich bin dir sehr dankbar dafür, Clemency, das weißt du ja!«

      »Ach, wie nett der Gedanke daran ist!« versetzte Clemency. In diesem Augenblick wurden ihre Gedanken und ihr Blick auf das Kerzenunschlitt gelenkt, und weil sie sich plötzlich an dessen Heilkraft als Wundbalsam erinnerte, salbte sie sich den linken Ellbogen ergiebig mit dem neuen Mittel.

      »Du weißt, ich habe manche Untersuchung über dieses und jenes unternommen«, fuhr Mr. Britain mit der würdigen Miene eines Denkers fort, »weil ich immer wißbegierig war, und ich habe viele Bücher über die Vorzüge und Mängel der irdischen Güter gelesen; denn ich habe mich selbst in meiner Jugend mit der Literatur befaßt.«

      »Wirklich!« rief die bewundernde Clemency.

      »Ja«, erzählte Mr. Britain; »ich stand zwei der besten Jahre meines Lebens hinter einer Antiquarsbude und war bereit herauszustürzen, wenn jemand ein Buch in die Tasche steckte; und dann war ich Bote bei einer Putzmacherin; in diesem Amt brachte ich in Wachstuchpaketen nichts als Lug und Trug zu den Leuten. – Dadurch wurde mein Gemüt verbittert und mein Vertrauen auf die menschliche Natur zerstört; und darauf hörte ich hier in diesem Hause vielerlei Reden, die mein Gemüt noch mehr verbitterten, und nach alledem ist es meine Ansicht, daß als sicherer und freundlicher Beruhiger des Gemüts und als guter Führer durch das Leben nichts über das Muskatsieb geht.«

      Clemency wollte etwas hinzufügen, aber er kam ihr zuvor. »Im Verein«, setzte er ernst hinzu, »mit einem Fingerhut.«

      »Tue was du willst, und so fort, nicht wahr?« fiel Clemency ein und schlug ihre Arme voll Freude über das Geständnis übereinander und rieb sich den Ellbogen. »Ein so trefflicher Spruch, nicht wahr?«

      »Ich weiß allerdings nicht«, sagte Mr. Britain,


Скачать книгу