Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher - Стендаль


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ihrem Manne leben könne, und zwar entweder als arme Leute in der Schweiz oder bei ihrem Vater in Paris. Den Vorschlag einer heimlichen Entbindung wies sie weit von sich. »Das wäre der Anfang von Schimpf und Schande!« rief sie aus. »Acht Wochen nach unserer Hochzeit gehe ich mit meinem Manne auf Reisen. Es wird uns nicht schwerfallen, den Leuten beizubringen, mein Kind sei zur richtigen Zeit geboren.«

      Der Marquis nahm die feste Art seiner Tochter zuerst mit Zornesausbrüchen auf. Schließlich aber stimmte sie ihn nachdenklich. In einem weichen Augenblick sagte er zu ihr: »Hier ist eine Verschreibung auf jährlich zehntausend Franken Rente. Schicke sie deinem Julian! Er soll das Seine tun, damit ich sie nicht wieder in die Hand bekomme!«

      Aus Gehorsam gegen Mathilde, deren herrischen Sinn er allzu gut kannte, hatte Julian den Distanzritt nach Villequier umsonst gemacht. Er entledigte sich daselbst seiner Geschäfte mit den Pächtern und ritt auf die Nachricht von der Schenkung des Marquis nach Paris zurück. Beim Pfarrer Pirard blieb er eine Nacht. Der war inzwischen Mathildens bester Verbündeter geworden. Als ihn der Marquis um seinen Rat fragte, legte er ihm ausführlich dar, daß jedweder andre Ausweg als die regelrechte Heirat vor Gott eine Sünde sei.

      »Zum Glück«, fügte er hinzu, »stimmen hier Weltlichkeit und Religion überein. Bei dem heftigen Temperament des gnädigen Fräuleins könnte man nicht lange auf Wahrung des Geheimnisses rechnen, denn sie selber hält es nicht dafür. Wird der mutige Schritt nicht getan, so wird sich die Gesellschaft mit dieser seltsamen Mesalliance viel länger beschäftigen. Es ist das beste, alles mit einem Schlage bekanntzumachen, ohne jedwede Geheimniskrämerei.«

      »Allerdings«, gab der Marquis nachdenklich zu. »Auf diese Weise wird es bereits nach drei Tagen für geschmacklos gelten, der Heirat noch Erwähnung zu tun. Gelegentlich irgendwelcher antijakobinischer Maßregel der Regierung wird die Sache unauffällig mit durchschlüpfen.«

      Zwei oder drei Freunde des Marquis waren der nämlichen Meinung wie der Abbé Pirard. Man war allgemein der Ansicht, daß der entschiedene Charakter des Fräuleins von La Mole eine andre Lösung der Frage unmöglich mache. Trotz alledem fiel es dem Marquis unendlich schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, seine Tochter auf die Krone einer Herzogin verzichten zu sehen.

      Seine Erinnerung und seine Phantasie ließen ihn an allerhand ränkevolle und gewalttätige Auswege denken, wie sie noch in seiner Jugendzeit möglich waren. Sich dem Zwange zu fügen und die Gesetze zu respektieren, erschien ihm lächerlich, gleichsam gegen seinen Rang und seine Ehre. Die goldnen Zukunftsträume, die er seit zehn Jahren für seine Lieblingstochter geschmiedet hatte, mußte er jetzt teuer bezahlen.

      »Wer hätte das erwartet!« sagte er sich. »Von einem so hochmütigen, so klugen und gescheiten jungen Mädchen, das stolzer ist als ich auf den Namen, den wir tragen! Von einem Mädchen, um dessen Hand sich die Edelsten des Landes bewerben! Man darf nicht mehr mit der Vernunft rechnen. Die moderne Zeit wirft alles durcheinander. Wir gehen der Anarchie entgegen.«

      64. Kapitel

      Der Marquis hielt es nicht für vernünftig, zu grollen, konnte sich aber auch nicht entschließen, zu verzeihen. Manchmal seufzte er: »Wenn diesem Sorel doch ein tödlicher Unfall zustieße!« Seine trauernde Phantasie fand Trost darin, den törichtsten Hirngespinsten nachzuhängen. Sie vernichteten die Wirkung der klugen Ratschläge des Pfarrers Pirard. So verstrichen vier volle Wochen, ohne daß die Angelegenheit auch nur einen Schritt vorwärts gekommen wäre.

      Es ging dem Marquis in dieser Familienangelegenheit wie in seiner Politik: er hatte glänzende Einfalle, die ihn drei Tage lang in Feuer und Flamme setzten. Dann aber mißfiel ihm sein Vorsatz wieder, und zwar weil die an und für sich trefflichen Gründe, auf die er sich stützte, seine Lieblingsidee nicht förderten. Voll Eifer und schöpferischer Begeisterung hatte er drei Tage lang daran gearbeitet, die Dinge bis zu einem gewissen Punkte zu bringen. Am vierten Tage dachte er nicht mehr daran.

      Julian war anfangs über die Saumseligkeit des Marquis verstimmt, bis er nach einigen Wochen erkannte, daß der Marquis überhaupt keinen festen Plan hatte.

      Frau von La Mole und das ganze Haus glaubten, Julian weile in Güterangelegenheiten in der Provinz. In Wirklichkeit hielt er sich im Pfarrhause des Abbé Pirard verborgen und traf fast jeden Tag mit Mathilde zusammen. Sie verbrachte jeden Vormittag eine Stunde in der Gesellschaft ihres Vaters, aber sie sprachen wochenlang nicht von der Sache, die sie doch beide so stark beschäftigte.

      Eines Tages sagte der Marquis zu ihr: »Ich will nicht wissen, wo sich der Mann aufhält. Schicke ihm diesen Brief!«

      Mathilde las:

      »Meine Besitzungen im Languedoc haben 20600 Franken Jahresertrag. Davon sollen 10600 Franken meiner Tochter und 10000 Franken Herrn Julian Sorel zukommen. Die Besitzungen selbst schenke ich beiden. Teilen Sie dem Notar mit, daß er zwei getrennte Schenkungsurkunden hierüber aufsetzen und mir alsbald vorlegen soll. Damit hören alle Beziehungen zwischen uns auf.

      Marquis von La Mole.«

      Erfreut sagte Mathilde: »Ich danke dir tausendmal. Wir werden uns im Schloß Aiguillon seßhaft machen. Die Gegend soll so schön sein wie die Lombardei.«

      Julian war ob dieser Schenkung über die Maßen überrascht. Mit einem Male hatten er und seine künftige Frau ein Jahreseinkommen von 30000 Franken. Seine herbe kalte Männlichkeit gewann Wärme. Das Schicksal seines Sohnes, der noch gar nicht auf der Welt war, erfüllte ihn mit Träumen. Das unerwartete, für einen bis dahin armen Menschen recht bedeutende Vermögen erweckte seinen Ehrgeiz.

      Mathilde ging gänzlich auf in der Anbetung ihres Mannes; so nannte sie jetzt Julian voll Stolz. Ihr einziges hohes Ziel war die öffentliche Anerkennung ihrer Ehe. Daß ihr Schicksal sie an das eines höheren Menschen geknüpft hatte, erschien ihr als kluge große Tat. Zur Zeit hatte sie Vorliebe für das persönliche Verdienst.

      Julians fast beständiges Fernsein, ihre verworrene Lage, die immer nur flüchtigen Augenblicke ihrer Liebesgespräche, alles das vervollständigte die Wirkung der klugen Politik, die Julian vordem geübt hatte. Schließlich wurde Mathilde ungeduldig, daß sie den Mann, den sie nunmehr wahrhaft liebte, so selten bei sich hatte. In einer schlechtlaunigen Stunde schrieb sie abermals an ihren Vater:

      »Daß ich Julian den gesellschaftlichen Annehmlichkeiten vorgezogen habe, die der Tochter eines Marquis von La Mole gebühren, verleiht meiner Wahl genügend Gewicht. Die Freuden des Standes und der Eitelkeit sind für mich gleich Null. Es sind jetzt beinahe sechs Wochen her, daß ich von meinem Manne getrennt lebe. Damit habe ich Dir meine kindliche Ehrfurcht genugsam bewiesen. Nun verlasse ich das Elternhaus, und zwar noch vor dem nächsten Donnerstag. Deine Großmut hat uns reich gemacht. Mein Geheimnis kennt niemand mit Ausnahme des ehrwürdigen Pfarrers Pirard. Zu ihm gehe ich. Er wird uns trauen. Eine Stunde nach der Zeremonie werden wir auf dem Wege nach dem Languedoc sein und erst auf Deinen Befehl wieder in Paris erscheinen. Eins macht mir das Herz schwer. Das Geschehene wird allerhand bösen Klatsch gegen mich und gegen Dich entfesseln. Am Ende bringt der öffentliche Spott irgendeiner törichten Person unsern lieben Norbert in Differenzen mit Julian. Meine Macht über meinen Mann hätte dann ihre Grenzen. Dann kommt der Plebejer und der Rebell in ihm zum Vorschein. Mein lieber Vater, ich flehe Dich auf den Knien an, komme zu meiner Trauung in die Kirche des Pfarrers Pirard am nächsten Donnerstag! Dadurch wird dem Klatsch böser Mäuler die Spitze abgebrochen und die Zukunft Deines Enkelkindes klargestellt…«

      Der Marquis geriet durch diesen Brief in die sonderbarste Verlegenheit. Er mußte sich endlich in bestimmter Richtung entschließen. Keine seiner kleinen Gewohnheiten, keiner seiner bisherigen Freunde, nichts stand ihm jetzt bei. In so seltsamer Lebenslage gewannen die starken Elemente seines Charakters, die er den Erlebnissen seiner Jugend verdankte, von neuem die Oberhand. Im Elend der Emigrationszeit war er ein ganzer Mann geworden. Zwei Jahre war er im Genuß eines ungeheuren Vermögens und aller höfischen Auszeichnungen gewesen: da kam das Jahr 1790, das ihn zum bettelarmen Landesflüchtigen machte. Die harte Schule des Exils wandelte seine zweiundzwanzigjährige Seele bis in den Grund. Seine jetzigen Reichtümer waren ihm nichts als Milieu; sie beherrschten ihn nicht. Aber die nämliche Einbildungskraft, die seine Seele vor der Gier nach Gold bewahrt hatte, war der Quell einer tollen Leidenschaft in ihm, nämlich der, seine Tochter mit einem hohen Titel geschmückt


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