Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.das Augenscheinlichste nicht zu glauben. Weiß ich, ob es nicht ein, Trugbild ist, ebenso flüchtig wie verführerisch?«
»Ach, Allmächtiger!« stöhnte Mathilde.
»Sagen Sie, welche Bürgschaft geben Sie mir?« fuhr Julian lebhaft und in festem Tone fort. Man hätte meinen können, er vergesse einen Augenblick die Vorsicht der Diplomatie. »Welche Gewähr habe ich, daß der Rang, den Sie mir heute gnädigst einräumen, Ihnen länger als zwei Tage genehm sein wird?«
»Meine maßlose Liebe, und meinen grenzenlosen Kummer über deine Lieblosigkeit!« rief sie, indem sie seine Hände ergriff und ihm in die Augen sah.
Die heftige Bewegung, die sie dabei machte, verschob ihre Boa ein wenig. Julian sah ihre entzückenden Schultern, und ihr etwas wirr gewordenes Haar erweckte ihm eine süße Erinnerung.
Er war nahe daran, nachzugeben. »Ein unbedachtes Wort«, sagte er sich, »und die lange Reihe verzweifelter Tage fängt wieder von vorn an. Frau von Rênal tat, was ihr das Herz eingab. Sie grübelte hinterher nach den Gründen. Diese junge Weltdame aber gibt ihr Herz erst frei, wenn sie sich durch gute Gründe überzeugt hat, daß es gerührt sein muß.«
Diese Wahrheit durchleuchtete ihn wie ein Blitz, und im Augenblick hatte er auch seinen Mut wieder. Er wand seine Hände aus denen Mathildens und rückte in ehrerbietige Entfernung. Mehr Mut kann ein Mann nicht haben. Dann hob er alle die auf dem Diwan verstreuten Briefe der Frau von Fervaques auf und sagte mit ausgesuchter Höflichkeit, die in diesem Moment geradezu grausam war: »Das gnädige Fräulein wird mir gütigst gestatten, über dies alles nachzudenken.«
Er empfahl sich und verließ rasch die Bibliothek. Mathilde hörte, wie er draußen eine Türe nach der andern schloß.
»Das Scheusal ist nicht einmal erregt«, dachte sie bei sich. »Ach, was sage ich? Scheusal! Er ist vernünftig, klug, gut. Ich aber, ich habe mir das denkbar Tollste vorzuwerfen!«
Ihre Stimmung hielt an. An diesem Tage war Mathilde fast glücklich, denn sie war ganz Liebe. Man hätte meinen können, daß ihre Seele nie vom Hochmut beherrscht gewesen sei. Und wie hochmütig war sie!
Sie zitterte vor Entsetzen, als abends im Salon ein Diener Frau von Fervaques meldete. Der Klang der Stimme dieses Menschen kam ihr unheimlich vor. Sie vermochte den Anblick der Marschallin nicht zu ertragen; sie ward starr wie Stein. Julian blieb aus Furcht, sich durch seine Augen zu verraten, der Mittagstafel im Hause La Mole fern. Stolz auf seinen schwer errungenen Sieg war er nicht gerade. Mit der Entfernung vom Kampfplatze wuchsen seine Liebe und sein Glück. Schon fing er an, sich Vorwürfe zu machen. »Wie konnte ich ihr widerstehen!« sagte er sich. »Wenn sie mich nun nicht mehr liebt? Ein einziger Augenblick kann bei einer so stolzen Seele den Ausschlag geben. Ich muß zugeben, daß ich sie abscheulich behandelt habe.«
Am Abend sagte er sich, daß er wohl oder übel in der Theaterloge der Marschallin erscheinen müsse. Sie hatte ihn ausdrücklich eingeladen, und Mathilde würde jedenfalls seine Anwesenheit oder unhöfliche Abwesenheit erfahren. Obwohl ihm dies einleuchtete, hatte er zunächst nicht die Kraft, sich in Gesellschaft zu zeigen. Sobald er mit andern redete, verlor er die Hälfte seines Glückes.
Es schlug zehn Uhr. Er mußte sich durchaus zeigen.
Zum Glück fand er die Loge der Marschallin voller Damen. Er blieb hinten an der Tür und ward durch die Hüte ganz verdeckt. Dieser Platz rettete ihn vor dem Sich-lächerlich-Machen. Die Götterlaute der Verzweiflung Karolinens in Cimarosas Heimlicher Ehe rührten ihn zu Tränen. Frau von Fervaques bemerkte diese Tränen. Sie standen in so seltsamem Gegensatz zu der sonst männlichen Festigkeit seines Gesichtes, daß die große Dame, die seit langem ihres an ihr fressenden Parvenüstolzes müde war, ergriffen wurde. Der Rest von Fraulichkeit, den sie noch hatte, drängte sie zum Sprechen. Sie sehnte sich nach seiner Stimme.
»Haben Sie die Damen von La Mole gesehen?« fragte sie Julian. »Sie sitzen da im dritten Range.«
Sofort beugte er sich ziemlich unhöflich über die Brüstung der Loge und blickte in die bezeichnete Richtung. Er sah Mathilde. Ihre Augen schimmerten vor Tränen.
»Heute ist gar nicht ihr Opernabend«, dachte er. »Und doch ist sie da!«
Mathilde hatte ihre Mutter bestimmt, in das Theater zu gehen, obschon ihr der dritte Rang, in dem ihnen eine der Schmeichlerinnen des Hauses eine Loge zur Verfügung gestellt hatte, eigentlich nicht standesgemäß erschien. Aber sie wollte sehen, ob Julian diesen Abend um die Marschallin wäre.
61. Kapitel
Julian eilte in die Loge der Damen von La Mole. Das erste, was seinem Blicke begegnete, waren Mathildens tränenerfüllte Augen. Sie weinte fassungslos. Es waren nur untergeordnete Persönlichkeiten mit in der Loge: die Freundin, die die Loge zur Verfügung gestellt hatte, und einige Herren aus deren Bekanntschaft. Mathilde legte ihre Hand auf Julians Hand. Offenbar hatte sie jede Scheu vor ihrer Mutter verloren. Vor Tränen fast erstickend, sagte sie nur das eine Wort: »Bürgschaft!«
»Daß ich nur nicht mit ihr spreche!« nahm sich Julian vor. Er war selber sehr bewegt und verbarg seine Augen, so gut es ging, indem er die Hand vor sie hielt, als ob der Kronleuchter ihn blendete. »Wenn ich spreche, kann ihr meine maßlose Erregung kaum entgehen. Der Ton meiner Stimme muß mich verraten. Noch kann alles verloren werden.«
Seine Kämpfe waren jetzt noch qualvoller als am Morgen, denn seine Seele hatte Zeit gehabt, in Sturm zu geraten. Er fürchtete, Mathilde könne abermals von ihrer Ehrsucht befallen werden. So gewann er es trotz seiner Liebestrunkenheit über sich, zu schweigen.
Fräulein von La Mole setzte es durch, daß Julian im Wagen mit nach Hause genommen wurde. Glücklicherweise regnete es stark. Die Marquise bot ihm den Platz ihr gegenüber an und sprach beständig mit ihm, so daß er kein Wort mit ihrer Tochter reden konnte. Es war, als ob die Marquise Julians Glück fördern wollte. Als er nicht mehr fürchtete, durch seine übergroße Erregung alles zu verderben, gab er sich seinem Überschwange hin.
In seinem Zimmer fiel er in die Knie und bedeckte die Liebesbriefe, die ihm der Fürst Korasoff gegeben hatte, mit Küssen.
»Genialer Mann, wie danke ich dir!« rief er in seinem Wahnsinn aus.
Nach und nach wurde er ruhiger. Er verglich sich mit einem Heerführer, der eben eine große Schlacht gewonnen hat. »Der Vorteil ist sicher und gewaltig!« sagte er sich. »Aber was wird morgen werden? Ein Augenblick kann alles verderben.«
Leidenschaftlich griff er nach den Denkwürdigkeiten, die Napoleon auf Sankt Helena diktiert hat, und zwang sich, zwei Stunden lang darin zu lesen. Aber nur seine Augen lasen. Gleichwohl ließ er nicht ab. Während dieser seltsamen Lektüre arbeiteten sein Kopf und sein Herz im Hochlande des Menschentums, ohne daß er sich dessen bewußt ward. »Mathildens Herz ist ganz anders geartet als das der Frau von Rênal«, sagte er sich. Aber weiter kam er nicht.
»Ich muß sie in der Furcht lassen!« rief er plötzlich und warf das Buch fort. »Der Feind wird sich mir nur unterwerfen, wenn ich ihm Furcht einflöße. Dann wagt er mich nicht zu verachten.«
Freudetrunken ging er in seinem Stübchen auf und ab. In Wahrheit bestand dies Glück mehr aus Hoffart denn aus Liebe.
»Ich muß sie in der Furcht erhalten«, wiederholte er voller Stolz. In der Tat hatte er Grund, stolz zu sein. »Selbst in den seligsten Augenblicken zweifelte Frau von Rênal immer daran, ob meine Liebe der ihren gliche. Hier ist ein Dämon zu unterjochen. Also ins Joch mit diesem Dämon!«
Er wußte, daß Mathilde am nächsten Morgen um acht Uhr in der Bibliothek war, aber er selber erschien dort erst um neun. Er loderte vor Liebe, aber sein Hirn beherrschte sein Herz. Nicht eine einzige Minute verging, in der er sich nicht wiederholte: »Ich muß sie allezeit in dem großen Zweifel erhalten: Liebt er mich? Ihre glänzende Stellung und die Schmeicheleien ihrer ganzen Umgebung kühlen sie zu rasch ab.«
Er fand sie blaß und still auf dem Diwan sitzend, ganz offenbar außerstande, irgendwelche Bewegung zu machen. Sie reichte ihm die Hand.
»Mein Lieber, ich habe dich beleidigt. Gewiß. Du hast ein Recht, mir böse zu sein…«, sagte sie zu ihm.
Einen so einfachen