Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.Amüsement! Ich glaube, ich könnte ein Verbrechen begehen, nur um mich zu zerstreuen.«
Der Moment, wo er sein Pferd in den Stall führte, war herrlich wie seit vier Wochen keiner. Korasoff hatte ihm ausdrücklich verboten, unter keinerlei Vorwand die treulose Geliebte anzuschauen. Aber die Tritte des Pferdes, das Mathilde sehr gut kannte, und die Art, wie Julian mit dem Reitstock an die Stalltüre klopfte, um einen der Reitdiener zu rufen, lockten sie bisweilen an die Fenstergardine. Der Musselin war so dünn, daß Julian sie sah. Unter dem Rande seines Hutes konnte er Mathildens Gestalt sehen, aber nicht den Kopf. »Folglich sieht sie meine Augen auch nicht«, sagte er sich. »Ich blicke sie also nicht an.«
Am Abend benahm sich Frau von Fervaques ihm gegenüber genauso, als hätte sie die philosophisch-religiös-mystische Abhandlung gar nicht erhalten, die Julian am Morgen mit schwermütigster Miene an ihrem Hause abgegeben hatte. Am Abend vorher hatte ihn der Zufall das Mittel gelehrt, in Redseligkeit zu geraten. Es hieß: Mathildens Augen. Er setzte sich also so, daß er sie sehen konnte. Einen Augenblick nach dem Erscheinen der Marschallin verließ Fräulein von La Mole das blaue Sofa. Sie mied somit ihre gewohnte Gesellschaft. Croisenois war über diese neue Launenhaftigkeit sichtlich betroffen. Sein unverkennbarer Schmerz milderte die Bitternis in Julians Herzeleid.
Das Unerwartete machte ihn beredt wie einen jungen Gott. Die Eitelkeit aber schleicht sich selbst in die Tempel der erhabensten Tugend. Als die Marschallin in ihren Wagen stieg, sagte sie sich: »Die Marquise hat recht. Der junge Priester hat etwas Vornehmes. Wahrscheinlich hat ihn meine Gegenwart anfangs schüchtern gemacht. Natürlich, denn was einem in diesem Hause begegnet, ist recht leichtfertig. Tugend gibt es hier nur im Gefolge des Altersgrauen. Offenbar hat der junge Mann den Unterschied gemerkt. Sein Stil ist gut. Nur fürchte ich, er ist über sein Gefühl im Irrtum, da er von mir Erleichterung erbittet. Aber schließlich, manche Bekehrung hat so angefangen! Seine Art und Weise zu schreiben spricht für ihn. Sie ist wesentlich anders als die der jungen Leute, die ich kennengelernt habe. In der Prosa dieses jungen Leviten liegt unverkennbar Weihe, tiefer Ernst und feste Überzeugung. Gewiß besitzt er die milde Tugend Massillons.«
57. Kapitel
Nacht um Nacht schlief Julian beim Abschreiben der schwülstigen langweiligen Episteln des Fürsten ein. Regelmäßig gab er am folgenden Morgen den Brief mit melancholischer Miene ab und führte dann sein Pferd zum Stall, in der Hoffnung, Mathildens Silhouette zu erspähen. Er erledigte seine Arbeiten, und wenn die Marschallin nicht im Hause La Mole erschien, ging er abends in die Oper.
Das waren die einförmigen Ereignisse seines jetzigen Lebens. Am unterhaltsamsten war es, wenn Frau von Fervaques zur Marquise kam. Dann konnte er unter ihrem Hut hinweg Mathildens Augen sehen. Dann löste sich seine Zunge. Seine romantische gefühlsselige Redeweise gewann allmählich Anmut und Eigenart.
Wohl fühlte er, daß der Inhalt von dem, was er sagte, Mathilden töricht erscheinen mußte. Es sollte ihr wenigstens durch die Grazie der Form gefallen. »Um so unechter das ist, was ich sage, desto verführerischer muß es klingen«, schrieb er sich vor. Dabei verstieg er sich in die unerträglichste Manieriertheit. Übrigens hatte er erkannt, daß er, der Marschallin wegen, einfache und vernünftige Ideen meiden mußte. Sonst hätte sie ihn für einen Alltagsmenschen gehalten. Je nachdem er aus den Augen der einen oder der andern Grande-dame Erfolg oder Mißerfolg las, steigerte oder mäßigte er das Gaukelspiel seiner Reden.
Alles in allem war sein Innenleben jetzt weniger qualvoll als damals, wo seine Tage in Untätigkeit hinschlichen.
Eines Abends rekapitulierte er: »Da sitze ich nun und schreibe die fünfzehnte dieser abscheulichen Dissertationen ab. Die Nummern eins bis vierzehn hat die Marschallin vorschriftsmäßig durch ihren Torwart eingehändigt bekommen. Ich werde die Ehre haben, alle Schubfächer ihres Schreibtisches zu füllen. Und immer noch behandelt sie mich, als schriebe ich ihr gar nicht. Wohin soll das führen? Langweilt sie sich über diese Episteln vielleicht genauso wie ich mich? Korasoffs Freund, der Liebhaber der schönen Quäkerin von Richmond, ist unbedingt ein gräßlicher Kerl gewesen!«
Wie alle mittelmäßigen Köpfe, die der Zufall den strategischen Operationen eines großen Heerführers beiwohnen läßt, verstand Julian nichts von der Angriffstaktik des jungen Russen gegen das Herz der schönen Engländerin. Die ersten vierzig Briefe waren zu nichts anderm geschrieben, als die Kühnheit verzeihlich zu machen, daß man überhaupt schrieb. Es war zunächst darauf angekommen, das träumerische junge Mädchen, das sich wahrscheinlich unendlich langweilte, daran zu gewöhnen, Briefe zu empfangen, die wohl immer noch weniger öde waren als ihr tagtägliches Dasein.
Eines Morgens erhielt Julian einen Brief. Er erkannte das Wappen der Frau von Fervaques und erbrach das Siegel mit einer Lebhaftigkeit, die ihn selber überraschte. Der Brief enthielt nichts als eine Einladung zum Diner.
Sofort zog er die Instruktion des Fürsten Korasoff zu Rate. Leider war der Russe gerade da, wo er hätte einfach und klar sein sollen, frivol im Stile Dorats, und so blieb sich Julian über sein Verhalten beim Diner der Marschallin im unsichern.
Das Empfangszimmer war höchst prunkvoll, goldstrotzend wie die Diana-Galerie in den Tuilerien und mit großen Ölgemälden geschmückt. Julian nahm eigentümliche Flecken auf den Bildern wahr. Später erfuhr er, die Darstellungen wären der Hausherrin nicht dezent genug gewesen. Sie hatte sie anständig machen lassen. »Jahrhundert der Prüderie!« dachte Julian.
Er bemerkte drei Persönlichkeiten, die seinerzeit bei der Abfassung der geheimen Note zugegen gewesen waren. Einer von ihnen, der Bischof von ***, der Onkel der Marschallin, hatte die Pfründenverleihung. Man munkelte, er könne seiner Nichte keinen Wunsch abschlagen. »Ich habe in meiner Karriere einen Riesenschritt vorwärts getan«, sagte sich Julian mit wehmütigem Lächeln. »Und doch ist mir das unsagbar gleichgültig. Schon bin ich der Tischgenosse des einflußreichen Bischofs von ***.«
Das Mahl war mäßig, die Unterhaltung unausstehlich. »So eine Tischgesellschaft ist wie ein schlechtes Buch«, dachte Julian. »Alle großen Probleme der Menschheit werden keck angeschnitten. Hört man aber nur drei Minuten zu, so weiß man nicht, was mehr zum Himmel schreit: die Emphase des Schwätzers oder seine greuliche Unwissenheit.«
Gelegentlich bekam Julian eine lange Strafpredigt vom Pfarrer Pirard zu hören, ob seiner Erfolge im Hause Fervaques. Es herrschte nämlich ein gewisser Sektenneid zwischen den strengen Jansenisten und dem jesuitisch-monarchisch-reaktionären Salon der tugendsamen Marschallin.
58. Kapitel
Die russischen Vorschriften verboten ausdrücklich, der Dame, an die man schrieb, je zu widersprechen. Die Rolle des blinden Schwärmers sollte unbedingt eingehalten werden. Das war die Voraussetzung der Briefe.
Eines Abends in der Oper, in der Loge der Marschallin, lobte Julian das Ballett Manon Lescaut über die Maßen, und zwar einzig und allein, weil er es unbedeutend fand. Frau von Fervaques hingegen meinte, das Ballett stehe tief unter dem gleichnamigen Roman des Abbé Prévost.
Erstaunt und belustigt zugleich sagte sich Julian: »Merkwürdig! Auf einmal preist dies hochmoralische Menschenkind einen Roman!« Die Marschallin pflegte nämlich mindestens alle drei Tage ihrer gründlichen Verachtung der Romanschreiber Ausdruck zu verleihen, indem sie behauptete, ihre öden Machwerke hätten weiter keinen Zweck, als die dem Blendwerk der Sinne sowieso leicht geneigte Jugend gänzlich zu verderben. »Unter den unmoralischen Romanen soll die Manon Lescaut der allergefährlichste sein«, fuhr sie fort. »Die Schwächen und die wohlverdienten Qualen eines sündigen Herzens sollen darin mit meisterlicher Naturtreue geschildert sein, was übrigens Ihren Bonaparte nicht gehindert hat, auf Sankt Helena zu verkünden, das sei ein Roman für Lakaien.«
Das Wort Bonaparte versetzte Julians Seele in Kampfbereitschaft. »Aha«, sagte er sich, »man hat den Versuch gemacht, mich bei meiner Gönnerin anzuschwärzen! Man hat ihr meine Napoleonschwärmerei verraten. Das hat sie dermaßen verschnupft, daß sie der Versuchung, es mich merken zu lassen, nicht widerstehen kann.«
Diese Entdeckung amüsierte ihn den ganzen Abend. Er war ihm nicht mehr langweilig. Als er sich im Vestibül der Oper von der Marschallin verabschiedete, sagte sie zu ihm: »Herr Sorel, ich will Ihnen eins sagen: Wer mich liebt, darf den Bonaparte nicht lieben! Man darf diesen