Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.ab! Was hätte der große Staatsmann wohl gesagt, wenn er die leidenschaftlichen Schwätzer von vorvorgestern mit angehört hätte?«
Julian brauchte zwei Tage, um nach Straßburg zu gelangen. Er machte einen Umweg. Er hatte ja Zeit.
Der Abbé Castanède, das Oberhaupt der Ordenspolizei an der Nordgrenze, hatte Julian zu seinem Glücke nicht erkannt. In Straßburg dachten die Jesuiten trotz ihres heiligen Eifers nicht daran, Julian zu beobachten. Er sah in seinem blauen Rocke mit der Ordensrosette ganz aus wie ein junger Offizier in Zivil, der sich nur mit sich selbst beschäftigte.
54. Kapitel
Gezwungen, acht Tage in Straßburg zu verweilen, suchte sich Julian in ruhmreiche kriegsgeschichtliche und vaterländische Erinnerungen zu vertiefen.
War er eigentlich verliebt?
Er wußte es nicht, aber das fühlte er in seiner Seelennot, daß Mathilde die Alleinherrscherin über seine Gemütsstimmung wie über seine Gedankenwelt war. Er hatte all seine Willenskraft nötig, um sich vor der Verzweiflung zu bewahren. An etwas zu denken, das in keiner Beziehung zu Fräulein von La Mole stand, war er nicht imstande. Ehedem, bei Frau von Rênal, hatten ihn seine ehrsüchtigen Träumereien und kleinen Eitelkeitserfolge dem reinen Zustand der Verliebtheit entzogen; Mathilde ließ nichts neben sich aufkommen. Wenn er in die Zukunft schaute, sah er immer nur sie. Und allerwegen in dieser Zukunft erblickte er Erfolglosigkeit. Er, der in Verrières voller Überhebung und Hochmut gewesen, war der lächerlichsten Bescheidenheit verfallen.
Noch vor drei Tagen hätte er den spionierenden Pfaffen am liebsten ermordet. Jetzt in Straßburg hätte er jedem Kinde recht gegeben, das in Streit mit ihm geraten wäre. Wenn er an die Widersacher und Feinde zurückdachte, die er im Laufe seines Lebens gehabt hatte, war es ihm, als hätte er – Julian – immer unrecht gehabt. An diesem Wandel seiner Selbstbeurteilung war einzig und allein der Umstand schuld, daß seine zügellose Einbildungskraft, die ihm bisher glänzende Zukunftsbilder vorgegaukelt hatte, mit einem Male zu seiner unversöhnlichen Feindin geworden war.
Die völlige Einsamkeit des Reiselebens machte seine verdüsterte Phantasie noch dunkler. Einen Freund bei sich zu haben wäre ihm ein Labsal gewesen. So aber sagte er sich: »Wo auf der Welt schlägt für mich ein Herz? Und selbst wenn ich einen Freund hätte, müßte ich als Ehrenmann schweigsam sein wie ein Grab.«
In seiner Melancholie machte er Spazierritte in die Umgegend von Kehl, einem Orte, der durch Desaix und Gouvion Saint-Cyr auf immerdar berühmt geworden ist. Ein deutscher Bauer zeigte ihm die Rheininseln und das Gelände, wo sich die Bravour jener großen Generale betätigt hatte. Die Zügel in der Linken, hielt Julian in der Rechten die vortreffliche Karte, die des Marschalls Saint-Cyr Denkwürdigkeiten schmückt. Plötzlich hörte er ein freudiges »Hallo!«.
Es war Fürst Korasoff, sein Londoner Freund, der ihn vor ein paar Monaten in die Anfangsgründe des höheren Dandytums eingeweiht hatte. Ganz im Sinne dieser erhabenen Kunst begann Korasoff, der seit gestern in Straßburg und seit einer Stunde in Kehl war und nie im Leben eine Zeile über die Belagerung von 1796 gelesen hatte, einen längeren Vortrag über dieses Ereignis zu halten. Der deutsche Bauer sah ihn verdutzt an, denn er verstand genug Französisch, um zu merken, daß der fremde Herr argen Unsinn vorbrachte. Julian freilich dachte himmelweit anders. Er betrachtete die Schönheit des jungen Mannes und bewunderte seine reiterliche Grazie.
»Welch ein Sonntagskind!« dachte er bei sich. »Wie tadellos seine Breeches sitzen und wie elegant sein Haarschnitt ist! Wenn ich so ausgesehen hätte, wäre Mathilde meiner Liebe nicht bereits nach drei Tagen überdrüssig geworden.«
Als der Fürst seinen Vortrag beendet hatte, sagte er zu Julian: »Sie sehen aus wie ein Trappist. Sie übertreiben den Grundsatz von der Würde, den ich Ihnen in London doziert habe. Eine trübsinnige Miene ist gegen den guten Ton. Man muß gelangweilt aussehen. Wenn man traurig aussieht, zeigt man damit, daß einem etwas fehlt, daß einem irgend etwas mißglückt ist. Das heißt: man zeigt sich inferior. Sehen Sie hingegen gelangweilt aus, so ist jeder, der vergeblich sucht, Sie für sich einzunehmen, der Inferiore. Begreifen Sie, wie stark Geringschätzung imponiert!«
Julian warf dem Bauern, der Mund und Ohren aufsperrte, einen Taler zu.
»Jetzt gefallen Sie mir schon wieder besser«, bemerkte der Fürst und setzte sein Pferd in Galopp. Julian folgte ihm in sinnloser Bewunderung. »Wenn ich so wäre wie Korasoff, dann hätte Mathilde nicht an Croisenois mehr Gefallen gefunden als an mir«, seufzte er. Aber wenn sein gesunder Menschenverstand auch Anstoß an den Albernheiten des Fürsten nahm, so verachtete er sich selber doch nur um so mehr, dieweil er ihn bewunderte und sich unglücklich fühlte, nicht auch so zu sein. Sein Widerwillen vor sich selbst war grenzenlos.
Dem Fürsten fiel Julians großer Trübsinn abermals auf. Als sie in Straßburg ankamen, fragte er ihn: »Verehrtester, haben Sie all Ihr Geld verloren, oder sind Sie in irgendeine kleine Schauspielerin verliebt?«
Die Russen ahmen die Sitten der Franzosen nach, sind ihnen dabei aber immer um fünfzig Jahre zurück. Im Jahre 1830 waren sie bei dem Zeitalter Ludwigs XV. angelangt.
Julian hätte beinahe geweint.
Plötzlich kam ihm der Gedanke: »Warum sollte ich diesen liebenswürdigen Menschen nicht um Rat fragen?«
»Sie haben leider recht, lieber Korasoff«, entgegnete er ihm. »Sie sehen mich hier in Straßburg nicht nur verliebt, sondern obendrein verlassen. Eine entzückende Frau in einer Stadt der Nachbarschaft hat mir nach drei Tagen der Leidenschaft den Laufpaß gegeben. Ich vermag mich nicht darein zu schicken. Ich gehe daran zugrunde.«
Er schilderte ihm Mathildens Charakter und Handlungsweise. Nur nannte er einen falschen Namen.
»Erzählen Sie nicht weiter!« sagte Korasoff. »Damit Sie Vertrauen zu Ihrem Arzt gewinnen, will ich Ihre Beichte ergänzen. Der Ehemann der jungen Frau erfreut sich eines enormen Vermögens … oder noch wahrscheinlicher: sie gehört zum Hochadel. Auf irgend etwas ist sie offenbar außerordentlich stolz.«
Julian nickte stumm mit dem Kopfe. Sein Mut, sich auszusprechen, war dahin. Der Fürst fuhr fort: »Zunächst müssen Sie unverzüglich drei bittre Pillen schlucken. Nummer eins: Sie müssen die Dame – wie hieß sie doch gleich? – alle Tage aufsuchen …«
»Frau von Dubois.«
»Ein scheußlicher Name!« meinte Korasoff lachend. »Aber, pardon, für Sie natürlich der herrlichste der Welt … Es ist also unbedingt nötig, daß Sie Frau von Dubois Tag für Tag sehen. Dabei müssen Sie sich hüten, sich ihr kalt oder voller Groll zu zeigen. Nehmen Sie dies als Leitmotiv: Immer das Gegenteil von dem sein, was der Gegner erwartet! Benehmen Sie sich genauso wie acht Tage bevor Ihnen die Gunst Ihrer Dame zuteil ward!«
»Ach, damals war ich im vollen Gleichgewichte!« rief Julian trostlos. »Ich bildete mir ein, Mitleid mit ihr zu haben…«
»Der Schmetterling verbrennt sich am Licht die Flügel«, fuhr Korasoff fort. »Dies Gleichnis ist so alt wie die Menschheit. Also, Nummer eins: Sie müssen sie alle Tage sehen. Nummer zwei: Sie müssen einer andern aus demselben Gesellschaftskreise den Hof machen, aber wohlgemerkt, ohne dabei Leidenschaft an den Tag zu legen. Ich verhehle Ihnen nicht, daß Ihre Rolle nicht leicht ist. Sie spielen Komödie. Aber sobald man durchschaut, daß Sie nur ein Spiel treiben, haben Sie verloren.«
»Sie ist ungemein klug, und ich gar nicht«, seufzte Julian.
»Durchaus nicht. Nur sind Sie verliebter, als ich dachte. Frau von Dubois beschäftigt sich ungeheuerlich viel mit sich selbst, wie so viele Frauen, denen ein Übermaß von Reichtum oder Vornehmheit zuteil geworden ist. Auch in ihrer Beziehung zu Ihnen achtet sie nur auf sich, nicht auf Sie, den sie infolgedessen gar nicht kennt. Während der zwei, drei Anfälle von Verliebtheit, in denen sie sich unter vollem Aufgebot ihrer Phantasie Ihnen geschenkt hat, hat sie in Ihnen den Helden ihrer Träume gesehen, nicht den, der Sie in Wirklichkeit sind…« Er unterbrach sich selbst. »Aber zum Donnerwetter, das ist ja das Einmaleins, mein lieber Sorel! Sind Sie denn gänzlich Anfänger? – Beim Teufel, kommen Sie mit in diesen Laden! Da hängt eine reizende schwarze Krawatte. Beinahe wie von John Anderson in der Burlington-Street. Machen Sie mir die Freude, lassen Sie sich das Ding von