Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.demselben Grunde ist auch ein zweiter Bonaparte ein Unding für Frankreich!« warf der militärische Störenfried von neuem ein.
Diesmal wagten weder der Vorsitzende noch der Herzog ihren Unwillen kundzugeben, obschon Julian in ihren Augen zu lesen glaubte, daß sie große Lust dazu hegten. Sie schlugen beide die Blicke nieder, wenn auch der Herzog nicht umhinkonnte so laut zu seufzen, daß es jedermann hörte.
Der Referent nahm dies übel.
»Ich rede offenbar bereits zu lange«, bemerkte er brüsk, wobei er seine lächelnde Höflichkeit und seine gemessene Ausdrucksweise vergaß, die Julian als Charakteristika seines Wesens aufgefaßt hatte. »Man wünscht, daß ich zu Ende komme. Meinetwegen, meine Herren! Ich will mich kurz fassen. In dürren Worten sage ich Ihnen also: England hat keinen roten Heller mehr übrig für die gute Sache. Selbst ein Pitt mit all seinem Genie könnte die kleinen englischen Agrarier kein zweites Mal an der Nase herumführen, dieweil sie wissen, daß ihnen der kurze Feldzug von Waterloo allein eine Milliarde Franken zu stehen gekommen ist. Da ich ohne Umschweife reden soll…«, der Redner ereiferte sich mehr und mehr, »… so erkläre ich Ihnen: Helft euch selbst! England hat kein Geld mehr für eure Interessen. Und wenn England kein Geld gibt, so können Österreich, Rußland und Preußen, die wohl Courage, aber kein Geld haben, zur Not einen oder zwei Feldzüge gegen Frankreich unternehmen, aber mehr nicht. Wohl ist zu hoffen, daß die von den Jakobinern aufgebotenen Rekruten im ersten und vielleicht auch im zweiten Feldzug geschlagen werden. Aber im dritten – und das sage ich Ihnen auf die Gefahr hin, von Ihnen als Revolutionär gescholten zu werden – im dritten Feldzug werden wir wiederum die Soldaten von 1794 haben, die ihr Rekrutentum von 1792 gründlich abgelegt hatten …«
Diesmal wurde er von drei oder vier Seiten zugleich unterbrochen.
»Herr Sorel!« rief der Vorsitzende Julian zu. »Schreiben Sie im Nebenzimmer Ihr bisheriges Protokoll in die Reinschrift!«
Es war, wie schon gesagt, sechsundzwanzig Seiten lang.
Ungern verließ Julian den Saal. Der Redner hatte gerade angefangen, von Möglichkeiten zu sprechen, über die er selber fast fortwährend nachdachte. »Sie haben Angst, daß ich mich über sie lustig machen könnte«, dachte er. Als man ihn wieder hereinrief, sprach Herr von La Mole. In einem Ernst, der Julian sehr spaßig vorkam, weil er ihn ganz anders kannte, deklamierte der Marquis soeben:
»Ja, meine Herren, gerade in bezug auf unser Volk kann man wie der Fabeldichter fragen: Wird es ein Gott oder weiß der Teufel was? und mit dem Dichter antworten: Ein Gott! Nehmen Sie an, dies feine sinnreiche Wort sei an Sie gerichtet! Beweisen wir unsre eigne Kraft, und das edle Frankreich unsrer Ahnen wird aus der Asche auferstehen. Wir werden es sehen, wie es vor dem Tode Ludwigs XVI. war. England, zum mindesten seine edlen Lords, verabscheut das ignoble Jakobinertum ebenso wie wir. Ohne das englische Geld können Österreich und Preußen höchstens zwei oder drei Schlachten schlagen. Wird das zu einer erfolgreichen Okkupation genügen? Ich glaube es nicht…«
Hier wurde auch er unterbrochen, aber der Zwischenruf ward durch allgemeines Zischen abgelehnt. Wiederum war es der ehemalige kaiserliche General, der nach dem blauen Bande strebte und sich unter den Verfassern der Geheimen Note hervortun wollte.
» Ich glaube es nicht!« wiederholte Herr von La Mole, nachdem sich der Sturm gelegt hatte, wobei er das Ich mit einer Unverfrorenheit lang zog, die Julian entzückte. »Er ist ein brillanter Komödiant!« dachte er bei sich, indem er seine Feder mit der nämlichen Schnelligkeit über das Papier gleiten ließ, mit der Herr von La Mole sprach. Mit dem einen treffenden Worte hatte er die zwanzig Feldzüge des Überläufers vernichtet.
»Es ist nicht allein das Ausland«, fuhr der Marquis in gemessenem Tone fort, »dem wir vielleicht eine abermalige Okkupation verdanken. Alle die jungen Köpfe, von denen die Brandreden im Globe herrühren, alle diese werden den Stamm von drei-bis viertausend jungen Kompanieführern stellen, unter denen sich ein Kléber, ein Hoche, ein Jourdan, ein Pichegru finden kann …«
»Ehre, wem Ehre gebührt!« bemerkte der Vorsitzende.
»Es ist höchste Zeit«, hob Herr von La Mole von neuem an, »daß es in Frankreich zwei Parteien gibt, aber nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich zwei säuberlich geschiedene Parteien. Auf der einen Seite die Zeitungsschreiber, die Wähler, die öffentliche Meinung, mit einem Worte: die Jugend und alles, was blaue Wunder von ihr erwartet. Während sie sich am Lärm ihrer eigenen hohlen Worte berauscht, haben wir den realen Vorteil, das Budget zu verzehren…«
Wiederum erfolgte ein Zwischenruf.
»Sie, mein Herr«, rief Herr von La Mole dem Betreffenden voll Würde und Freimut zu, »Sie verzehren nicht – nein, da Ihnen dieser Ausdruck mißfällt, nein – Sie verschlingen vierzigtausend Franken aus dem Staatsbudget und achtzigtausend von der Zivilliste!
Mein Herr, da Sie mich dazu zwingen, will ich Sie ungescheut zum Exempel nehmen. Nach dem Vorbilde Ihrer edlen Vorfahren, die Ludwig dem Heiligen in den Kreuzzug folgten, sollten Sie uns für diese hundertundzwanzigtausend Franken ein Regiment, eine Kompanie, ja nur eine halbe Kompanie, ach, nur fünfzig handfeste Leute zuführen, die der guten Sache auf Leben und Tod ergeben sind. Aber Sie haben nur Lakaien, vor denen Sie im Falle eines Aufruhrs selber Angst haben …
Meine Herren, Thron, Altar und Adel sind stündlich dem Untergange geweiht, solange Sie nicht in jedem Regierungsbezirk einen Sturmtrupp von fünfhundert zuverlässigen Leuten geschaffen haben. Ich sage zuverlässig, das heißt nicht nur tapfer nach französischer Art, sondern auch von Ausdauer nach spanischem Vorbilde.
Diese Trupps müßten sich zur Hälfte aus unsern Söhnen und Neffen bilden, also aus echten Edelleuten. Jeder müßte einen braven, biederen, schlichten Bauernsohn zur Seite haben, keinen der schwatzhaften Kleinbürger, die immer bereit sind, die Trikolore aufzupflanzen, wenn sich die Situation von 1815 wiederholt. Ritter und Bauer müssen denselben Glauben haben! Am besten wächst er mit ihm zusammen auf. Zur Gründung und Erhaltung dieser Trupps sollte jeder von uns den fünften Teil seines Einkommens opfern. Dann können Sie auf eine ausländische Okkupation rechnen. Andernfalls fällt es keiner fremden Armee ein, auch nur bis Dijon vorzurücken. Die Monarchen andrer Mächte werden auf Ihren Ruf nur hören, wenn Sie sich für zwanzigtausend Edelleute verbürgen können, die bereit sind, die Waffen zu ergreifen und Frankreichs Tore zu öffnen.
Das ist eine mühselige Sache! werden Sie einwenden. Gewiß, meine Herren, aber es handelt sich um unsre Existenz. Zwischen der Preßfreiheit und dem Fortbestand der Aristokratie herrscht Krieg bis aufs Messer. Werden Sie Kleinbauern oder Fabrikarbeiter – oder greifen Sie zum Gewehr! Seien Sie Memmen, wenn Sie das wollen, aber seien Sie keine Dummköpfe! öffnen Sie die Augen!
Stellt eure Bataillone! rufe ich Ihnen mit dem Jakobinerlied zu Dann wird sich schon ein Gustav Adolf finden, der die ungeheuerliche Gefahr erkennt, die der monarchischen Weltanschauung droht, und ein paar hundert Meilen weit aus seinem Lande hereilt und für uns tut, was der Wasa für die protestantischen Fürsten getan hat.
Wollen Sie aber weiterhin immer bloß reden und nie handeln, so wird Europa in einem Jahrhundert nur noch republikanische Präsidenten und keinen einzigen König mehr haben. Und mit der Monarchie wird die Religion und der Adel schwinden. Schon sehe ich nur noch Abgeordnete mit schmutzigen Privatgelüsten.
Wenden Sie nicht ein, Frankreich habe im Augenblick keinen bewährten Feldherrn, den jedermann kennt und schätzt! Sagen Sie nicht, zum Schutze von Thron und Altar sei doch die Armee da! Gewiß! Aber warum hat man alle Veteranen entlassen, während jedes preußische und österreichische Regiment ein halbes Hundert Unteroffiziere besitzt, die im Feuer gewesen sind? Und wissen Sie nicht, daß es im Mittelstande Zweihunderttausend junge Leute gibt, die sich nach dem Kriege sehnen …«
»Genug der unliebsamen Wahrheiten!« rief eine gewichtige Persönlichkeit in süffisantem Tone dazwischen, jedenfalls ein sehr hoher Geistlicher, denn Herr von La Mole lächelte verbindlichst, statt sich über ihn zu ärgern.
»Genug der unliebsamen Wahrheiten!« fuhr der Marquis fort: »Fassen wir uns kurz, meine Herren! Wenn einem ein Bein abgenommen werden muß, weil es der Brand ergriffen hat, so nützt es nichts, wenn man dem Chirurgen hoch und heilig versichert: Mein Bein ist kerngesund! Gestatten Sie mir den Vergleich, meine Herren!