Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.besteht, unsre jungen Heißsporne kennenzulernen. Was tut es ihnen, wenn der Staat über den Haufen geworfen wird? Sie flüchten nach Rom und leben dort als Kardinäle. Wir aber, in unsern Schlössern, wir werden von den Bauern massakriert.«
Die geheime Note, die der Marquis aus dem sechsundzwanzig Seiten langen Protokoll Julians aufstellte, war erst um drei Viertel fünf Uhr fertig.
»Ich bin todmüde«, sagte Herr von La Mole. »Das merkt man meinem Berichte auch an. Gegen den Schluß verliert er seine Klarheit. Ich bin damit unzufriedener als mit sonst was je in meinem Leben …
So, mein Lieber«, setzte er hinzu. »Jetzt ruhen Sie sich ein paar Stunden aus!« –
Am andern Morgen fuhr der Marquis mit Julian nach einem entlegenen Schlosse ziemlich weit weg von Paris. Die Besitzer machten einen sonderbaren Eindruck. Julian hielt sie für Geistliche.
Er bekam einen Paß, auf dem ein falscher Name stand. Aus ihm erfuhr er endlich das Ziel seiner Reise, das er insgeheim längst geahnt hatte. In den Wagen stieg außer ihm niemand. Der Marquis hatte sich die geheime Note mehrmals aufsagen lassen. Er verließ sich fest auf Julians Gedächtnis. Nur fürchtete er, man könne ihn unterwegs abfangen.
Als sich Julian von ihm empfahl, sagte er freundschaftlich zu ihm: »Vor allen Dingen benehmen Sie sich wie ein Idiot, der eine Reise macht, um die Zeit totzuschlagen. Wer weiß, ob gestern nicht mehr als ein Judas in der Versammlung war.«
Die Reise ging rasch vonstatten, aber es war eine trübselige Fahrt. Kaum aus der Sehweite des Marquis, hatte Julian den Geheimbericht und seine Mission schon vergessen. Er dachte nur noch daran, daß Mathilde ihn verächtlich behandelt hatte.
In einem Dorfe eine Meile hinter Metz erklärte der Posthalter, es seien keine Pferde da. Es war zehn Uhr abends. Sehr ärgerlich bestellte Julian etwas zu essen. Sodann spazierte er vor dem Tor auf und ab und schlüpfte unversehens in den Hof. Er fand kein einziges Pferd in den Ställen.
»Der Posthalter kommt mir verdächtig vor«, dachte er ungläubig bei sich. »Er hat mich mit gemeinem Ausdruck angeglotzt.« Er hatte es sich längst abgewöhnt, alles, was man ihm sagte, aufs Wort zu glauben, und so nahm er sich vor, nach dem Abendessen im Dorfe Erkundigungen einzuziehen.
Als er in die Küche trat, um sich am Herd zu wärmen, traf er zu seiner großen Freude Signore Geronimo, den berühmten Sänger. Der Neapolitaner saß gemütlich in einem Lehnstuhl, den er sich ans Feuer hatte rücken lassen. Er jammerte und stöhnte und sprach für sich allein mehr als der Schwarm deutscher Bauern, der um ihn stand.
»Ich bin ruiniert!« rief er Julian zu. »Ich bin verpflichtet, morgen in Mainz zu singen. Sieben regierende Fürsten sind versammelt, um mich zu hören … Aber kommen Sie! Wir wollen ein bißchen an die freie Luft!« setzte er augenzwinkernd hinzu.
Als sie hundert Schritte die Straße hingegangen waren und nicht mehr gehört werden konnten, sagte Geronimo: »Wissen Sie, wie sich die Sache verhält? Der Posthalter ist ein Spitzbube. Als ich vorhin durchs Dorf ging, habe ich einem Gassenbengel fünf Groschen gegeben. Da hat er mir die ganze Geschichte verraten. Am andern Dorfende, in irgendeinem Bauernstall, stehen zwölf Gäule. Offenbar will man irgendeinen Kurier nicht weiterlassen.«
»So, so!« meinte Julian und tat, als wüßte er nichts.
Mit der Entdeckung der Schwindelei war aber noch nichts erreicht. Es kam darauf an, weiterzureisen. Dies aber wollte Geronimo und Julian nicht gelingen. Schließlich meinte der Sänger: »Warten wir bis morgen! Man mißtraut uns. Vielleicht hat man es auf einen von uns beiden abgesehen. Wissen Sie, morgen früh bestellen wir uns ein gutes Frühstück. Während man es bereitet, machen wir einen Spaziergang, mieten uns Pferde und reiten nach der nächsten Poststation…«
»Und Ihr Gepäck?« fragte Julian. Es kam ihm in den Sinn, daß man am Ende gar Geronimo damit betraut habe, ihn abzufangen.
Es war Zeit zum Abendessen.
Darnach gingen sie zur Ruhe.
Julian lag noch im ersten Schlafe, als er auf einmal durch Stimmengeflüster aufgeweckt wurde. Es waren zwei Personen in seinem Zimmer, die ziemlich ungeniert miteinander sprachen.
Er erkannte den Postmeister, der eine Blendlaterne in den Händen hielt. Der Lichtschein fiel auf den Reisekoffer, den Julian ins Zimmer hatte bringen lassen. Neben dem Posthalter stand ein Mann, der den offenen Koffer in aller Ruhe durchsuchte. Julian vermochte nur die engen Ärmel seines schwarzen Rockes zu erkennen.
»Das ist eine Soutane«, sagte er sich, indem er behutsam nach den Taschenpistolen tastete, die er unter dem Kopfkissen hatte.
»Haben Sie keine Angst, Herr Pfarrer!« beteuerte der Postmeister. »Er wacht nicht auf. Ich hab ihm das Zeug in den Wein gegossen, das Sie mir gegeben haben.«
»Ich finde keine Spur von Papieren«, sagte der Geistliche. »Eine Menge Wäsche, Parfüm, Kopfwasser und allerhand Krimskrams. Das ist ein junger Lebemann, der nichts als sein Vergnügen im Kopfe hat. Der Bote wird eher der andere sein, der angebliche Italiener!«
Die beiden Personen näherten sich Julians Bett, um die Taschen seines Reiseanzuges zu durchsuchen. Er war in großer Versuchung, auf sie zu schießen wie auf Einbrecher. Aber das hätte die gefährlichsten Folgen gehabt. Er spürte die größte Lust dazu.
»Unsinn!« sagte er sich. »Ich wäre ein Narr! Ich setzte meine Mission aufs Spiel.«
Der Priester hatte Rock und Hosen durchschnüffelt und meinte: »Das ist kein Diplomat!«
Damit entfernte er sich vom Bette Julians – zu seinem Glücke.
»Wenn er mich anrührt, dann soll er was erleben!« schwur sich Julian. »Ich lasse mich nicht so einfach erdolchen…«
Der Priester wandte den Kopf. Julian öffnete ein wenig die Augen. Es war der Abbé Castanède! Die eine der beiden Stimmen war Julian von Anfang an bekannt vorgekommen.
Julian hatte maßlose Lust, die Welt von einem der gemeinsten Schurken zu befreien. Aber er sagte sich:
»Ich habe meine Mission zu erfüllen!«
Schließlich verließen die beiden Spione das Zimmer. Eine Viertelstunde später tat Julian, als sei er eben aufgewacht, und alarmierte das ganze Haus.
»Man hat mir Gift gegeben!« rief er laut. »Ich habe schreckliche Schmerzen!«
Er wollte einen Vorwand haben, um Geronimo zu Hilfe zu kommen. Er fand ihn halbtot von dem Opium im Weine.
Julian war auf derartige Scherze gefaßt gewesen. Deshalb hatte er seinen Wein nicht getrunken. Es gelang ihm nicht, den Sänger munter zu bekommen. Vom Weiterreisen wollte der gleich gar nichts wissen.
»Und wenn man mir das ganze Königreich Neapel böte«, erklärte Geronimo, »ich verzichtete nicht auf meinen himmlischen Schlummer.«
»Und die sieben regierenden Fürsten?« mahnte Julian.
»Die können warten!«
Julian fuhr allein ab und gelangte ohne weitere Zwischenfälle zu der hohen Persönlichkeit. Ein ganzer Vormittag ging ihm verloren, ohne daß er Audienz erlangen konnte. Glücklicherweise machte der Herzog gegen vier Uhr einen kleinen Spaziergang. Julian sah ihn zu Fuß weggehen und beeilte sich, ihn wie ein Bittsteller anzusprechen. Als er sich dem hohen Herrn auf zwei Schritte genähert hatte, zog er die Uhr des Marquis von La Mole und hielt sie so, daß dieser sie sehen mußte.
»Folgen Sie mir von weitem!« sagte der Fürst, ohne ihn anzusehen.
Nach einer Viertelstunde betrat der Herzog ein kleines Restaurant.
In einem Stübchen dieses armseligen Lokals hatte Julian die Ehre, Seiner Durchlaucht die vier Seiten aufzusagen. Als er damit fertig war, sagte der Herzog: »Bitte, noch einmal und langsamer!«
Der Fürst machte sich Notizen.
»Gehen Sie zu Fuß zur nächsten Poststation. Lassen Sie Ihre Sachen und Ihren Wagen hier. Reisen Sie auf einem beliebigen Wege nach Straßburg, und am 22. dieses Monats (man schrieb den 10.) finden Sie sich um halb ein Uhr wieder hier in diesem Restaurant ein. Gehen Sie erst in einer halben Stunde und seien Sie schweigsam!«
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