Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.»ich lasse mein Gefängnis vor dir verschließen, und ich nehme mir bestimmt tags darauf aus Verzweiflung das Leben, wenn du mir nicht schwörst, keinerlei Schritte zu unternehmen, die uns beide vor aller Welt lächerlich machen!
Fräulein von La Mole hat großen Einfluß in Paris. Sei überzeugt, daß sie alles tut, was menschenmöglich ist. Laß uns den kleinen Seelen keinen Anlaß geben, sich über uns lustig zu machen!«
Die ungesunde Luft des Gefängnisses hielt Julian kaum noch aus. Glücklicherweise war an dem Tage, da er seinen letzten Gang antreten mußte, der schönste Sonnenschein. So war er in mutiger Stimmung. Die frische Luft war ihm ein köstlicher Genuß, just wie dem Seemann nach langer Meerfahrt ein Spaziergang auf dem Festlande.
»Vorwärts!« rief er sich zu. »Welch ein Glück! Ich habe Mut!«
Nie war sein Kopf so voller Poesie gewesen, wie im Augenblick, ehe er fallen sollte. Die holden Stunden, die er einst in den Wäldern von Vergy erlebt hatte, tauchten ihm in der Erinnerung auf, greifbar, klar und deutlich, in reicher Fülle.
Alles ging in einfacher, mannhafter Weise vor sich. An seinem Verhalten war nichts Geziertes.
Zwei Tage vorher hatte er zu Fouqué gesagt: »Ich kann mich nicht verbürgen, daß ich keine Erregung verrate. Das häßliche Kerkerloch verursacht mir bisweilen Fieberanfälle, in denen ich mich selber nicht wiedererkenne. Furcht jedoch … nein, man soll mich nicht erblassen sehen!«
Er hatte die nötigen Anordnungen getroffen, daß Fouqué sowohl Mathilde wie Frau von Rênal am Morgen des letzten Tages fortbrachte. Frau von Rênal hatte ihm nochmals schwören müssen, am Leben zu bleiben.
»Wer weiß«, sagte er zu Fouqué, »ob wir nach dem Tode nicht doch Empfindungen haben. Ich möchte gern in der kleinen Grotte ruhen – ja, ruhen ist das rechte Wort dafür – hoch in den Bergen über Verrières. Ich habe dir wohl erzählt, daß ich dort in der Grotte mehrmals die Nacht verbracht habe. Meine Blicke schweiften weithin über die reichen Gefilde Frankreichs, während mir der Ehrgeiz die Seele durchloderte. Der Ehrgeiz, das war damals meine Leidenschaft! Mit einem Wort, diese wunderbar gelegene Grotte ist mir lieb und wert. Denke daran! Die braven Besançoner schlagen aus allem Geld. Wenn du es schlau anfängst, werden sie dir meine irdische Hülle verschachern.«
Der traurige Handel gelang Fouqué. Als er in der Nacht in seinem Zimmer allein bei dem Leichnam des Freundes wachte, sah er zu seiner größten Überraschung Mathilde eintreten. Er hatte sie vor wenigen Stunden sieben Meilen hinter Besançon verlassen. Ihre Blicke irrten durch den Raum.
»Ich will ihn sehen!« sagte sie.
Fouqué hatte weder den Mut zu reden noch aufzustehen. Stumm wies er mit der Hand auf einen großen blauen Mantel, der am Boden lag. Er deckte Julians irdische Reste.
Mathilde sank in die Knie. Die Erinnerung an Bonifaz von La Mole und Margarete von Navarra verlieh ihr übermenschliche Kraft. Mit zitternden Händen schlug sie den Mantel zurück. Fouqué wandte seine Blicke ab.
Er hörte, wie Mathilde durch das Zimmer schritt. Sie zündete mehrere Kerzen an. Als es Fouqué über sich gewann, hinzusehen, hatte sie Julians Haupt vor sich auf einen kleinen Marmortisch gestellt und küßte es auf die Stirn.
Mathilde folgte ihrem Geliebten nach der Grabstätte, die er sich gewünscht hatte. Eine große Anzahl von Priestern begleitete die Bahre. Ohne daß es einer unter ihnen wußte, hielt sie in dem verhängten Wagen, in dem sie fuhr, den Kopf des Mannes, den sie so sehr geliebt hatte, auf ihrem Schoße.
So, in tiefer Nacht, gelangte der Zug auf einen der Gipfel der Juraberge und vor die von zahllosen Kerzen prächtig erleuchtete kleine Grotte. Vierundzwanzig Priester zelebrierten die Totenmesse. Eine Menge Einwohner der kleinen Gebirgsdörfer, durch die der Zug gekommen war, hatten sich ihm angeschlossen.
Mitten unter ihnen stand Mathilde in langem Trauerkleid und ließ nach Beendigung des Requiems mehrere tausend Silbertaler unter die Leute werfen.
Als sie dann allein mit Fouqué war, begrub sie eigenhändig das Haupt des Toten. Der Freund sah zu, halb wahnsinnig vor Schmerz.
Auf Mathildens Veranlassung wurde die Grotte mit Marmorskulpturen ausgeschmückt, die unter großen Kosten aus Italien herbeigeschafft worden waren.
Frau von Rênal blieb ihrem Gelübde treu. Sie suchte den Tod nicht, aber drei Tage nach Julians Ende verschied sie in den Armen ihrer Kinder.
Die Kartause von Parma
Erstes Kapitel
Am 15. Mai 1796 hielt der General Bonaparte seinen Einzug in Mailand an der Spitze jener jungen Armee, die unlängst die Brücke von Lodi überschritten und der Welt gezeigt hatte, daß Cäsar und Alexander nach so vielen Jahrhunderten einen Nachfolger hatten.
Die Wunder von Heldentum und Genie, deren Zeuge Italien geworden, rüttelten das Volk rasch aus seinem Schlaf. Noch acht Tage vor dem Einrücken der Franzosen hatten die Mailänder in ihnen nur Brigantengesindel gesehen, das vor den Truppen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät immer Reißaus nahm. So wenigstens wiederholte es ihnen dreimal wöchentlich ein handgroßes, auf schlechtem Papier gedrucktes Zeitungsblatt.
Im Mittelalter hatten die Mailänder eine Tapferkeit bewiesen, die der französischen während der Revolution ebenbürtig war und es verdient, daß ihre Stadt von den deutschen Kaisern der Erde gleichgemacht ward. Seitdem sie sich aber in getreue Untertanen verwandelt hatten, bestand ihre Haupttätigkeit darin, Sonette auf Taschentücher aus rosenroter Seide drucken zu lassen, wenn sich eine Tochter aus dem oder jenem reichen oder vornehmen Hause verheiratete. Zwei oder drei Jahre nach diesem wichtigen Abschnitt ihres Lebens nahm die junge Dame einen Cicisbeo, ja bisweilen prangte der Name des von der Familie des Gatten erkorenen Begleiters schon mit im Ehevertrag. Es war ein Riesensprung von diesen verweichlichten Sitten zu den gewaltigen Erregungen, die das unerwartete Erscheinen des französischen Heeres verursachte. Sogleich kamen neue und leidenschaftliche Zustände auf. Am 15. Mai 1796 ward ein ganzes Volk plötzlich gewahr, daß alles, was es bis dahin geachtet hatte, höchst lächerlich und mitunter verächtlich war. Der Abmarsch des letzten österreichischen Regiments bezeichnete den Sturz der alten Anschauungen. Sein Leben aufs Spiel zu setzen, kam in Mode. Nach Jahrhunderten voll Frömmlertum und fader Liebelei erkannte man, daß man, um glücklich zu sein, etwas mit ernster Leidenschaft lieben und im Notfall sein Leben in die Schanze schlagen müsse. Lange, tiefe Nacht hatte seit der eifersüchtigen Gewaltherrschaft Karls V. und Philipps II. geherrscht. Man stürzte ihre Bildsäulen, und mit einem Male war alles von Licht umflutet. In den letzten fünfzig Jahren, während die Ideenwelt der Enzyklopädisten und Voltaires immer tiefer Wurzel schlug, hatten die Mönche dem lieben Mailänder gepredigt, daß Lesen und sonst etwas Lernen eine recht überflüssige Mühe sei. Wenn man nur seinem Pfarrer gewissenhaft den Zehnten entrichte und ihm jede kleine Sünde getreulich beichte, so dürfe man mit ziemlicher Bestimmtheit auf ein herrliches Plätzchen im Paradiese rechnen. Um das ehemals furchtbare und unbotmäßige Volk vollends zu schwächen, hatte ihm Österreich um geringe Gegenleistung das Vorrecht verkauft, dem kaiserlichen Heere keine Rekruten zu stellen.
Anno 1796 bestand die Besatzung von Mailand aus vierundzwanzig rotröckigen Tagedieben, die im Verein mit vier prächtigen ungarischen Grenadierregimentern die Stadt hüteten. Die Freiheit der Sitten war zügellos, aber Leidenschaft etwas sehr Seltenes. Abgesehen von der Unbequemlichkeit, den Priestern alles beichten zu müssen, wenn man nicht schon in dieser Welt zugrunde gehen wollte, schmachteten die braven Mailänder übrigens noch in gewissen kleinen monarchischen Fesseln, die nicht weniger unangenehm waren. So war zum Beispiel der Erzherzog, der seinen Sitz in Mailand hatte und im Namen des Kaisers, seines Vetters, schaltete und waltete, auf den gewinnbringenden Einfall gekommen, Getreidehandel zu treiben. Die Bauern durften ihr Korn erst verkaufen, wenn die Speicher Seiner Hoheit gefüllt waren.
Im Mai 1796, drei Tage nach dem Einzug der Franzosen, hörte ein junger, etwas närrischer Miniaturmaler, der später berühmt gewordene Gros, damals Schlachtenbummler im Gefolge des Heeres, im Café dei Servi (das derzeit in Mode war) von den Machenschaften des sehr beleibten Erzherzogs erzählen. Er nahm das Preisverzeichnis der Eissorten, das auf einem Blatt groben gelben Papiers gedruckt war, und zeichnete auf die Rückseite den dicken