Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.habe Ersparnisse!« rief er plötzlich.
Dieser geniale Einfall änderte den Gesichtsausdruck des alten Mannes und die Situation beider mit einem Schlage.
»In welcher Weise soll ich über sie verfügen?« fuhr Julian, ruhig geworden, fort. Der Eindruck, den seine Worte gemacht, hatte ihn jeglicher Schwäche enthoben.
Den alten Sägemüller gelüstete es, seines Sohnes gesamte Hinterlassenschaft an sich zu reißen. Offenbar wollte Julian einen Teil seinen Brüdern zukommen lassen. Als er seinen Vater hierüber eifrig und lange reden sah, erwachte wieder der Spötter in ihm.
»Meinetwegen«, sagte er. »Gott der Herr leuchtet mir zu meinem Testament. Ich vermache meinen beiden Brüdern je tausend Franken und den Rest dir!«
»Gut! Dieser Rest kommt mir zu!« meinte der Alte. »Denn da der liebe Gott in seiner Gnade dein Herz gerührt hat, so gehört es sich auch für dich, der du als guter Christ sterben willst, daß du deine Schulden bezahlst. Ich meine da die Kosten für deine Erziehung und Ernährung, die ich dir vorgestreckt habe. Daran hast du nicht gedacht…«
»Wahrlich, das ist väterliche Liebe!« sagte sich Julian immer wieder, als er endlich allein war. Das Herz tat ihm weh.
Alsbald erschien der Kerkermeister.
»Herr Sorel«, sagte er, »nach Familienbesuch pflege ich meinen Gästen eine gute Flasche Champagner zu kredenzen. Er ist zwar ein bißchen teuer. Zwei Taler die Flasche. Aber er bringt wieder Mumm in die Knochen.«
«Bringen Sie drei Gläser!« sagte Julian, vergnügt wie ein Kind.
»Und bitten Sie die beiden Sträflinge zu mir, die ich draußen im Gange lustwandeln höre!«
Der Kerkermeister brachte sie herein. Es waren zwei rückfällige Verbrecher, die demnächst wieder ins Zuchthaus kommen sollten, urfidele Kerle, echte Kapazitäten hinsichtlich Verschlagenheit, Mut und Kaltblütigkeit.
»Wenn Sie mir einen Goldfuchs geben«, sagte der eine von ihnen zu Julian, »so erzähle ich meine Lebensgeschichte en detail. So was gibts nicht wieder!«
»Sie wollen mir etwas vorschwindeln?« meinte Julian.
»Gott bewahre!« beteuerte der Spitzbube. »Hier, mein Freund, der gönnt mir den Goldfuchs natürlich nicht. Sobald ich flunkere, denunziert er mich.«
Was er erzählte, war grauenhaft. Julian tat einen Blick in ein verwegenes Herz, das nur von einer Leidenschaft erfüllt war: der Geldgier.
Als die Sträflinge wieder hinaus waren, kam sich Julian wie verwandelt vor. Sein Groll gegen sich selber war verraucht, und der wilde Schmerz, dessen Beute er seit seinem Abschied von Frau von Rênal gewesen war und den seine Verzagtheit noch verbittert hatte, war in Wehmut zerflossen.
»Ich habe mich durch den Schein narren lassen«, sagte er sich. »Sonst hätte ich erkennen müssen, daß es in der sogenannten guten Gesellschaft von Biedermännern vom Genre meines Vaters und von gerissenen Halunken vom Schlage der beiden Zuchthäusler wimmelt. Je mehr sie zu essen und zu trinken haben, um so mehr protzen sie mit ihrer anständigen Gesinnung und ihrer Ehrlichkeit. Und wenn sie Geschworene sind, so verurteilen sie von oben herab einen armen Schlucker, der einen silbernen Löffel genommen hat, um nicht zu verhungern. Gilt es aber, ein Ministerportefeuille zu verlieren oder zu gewinnen, dann fallen diese Ehrenmänner des Salons in genau die nämlichen Verbrechen wie jene Zuchthäusler.
Es gibt kein natürliches Recht. Das ist veralteter Blödsinn, albernes Gerede von Staatsanwälten, deren Vorfahren selber Gauner waren. Es gibt nur ein Recht: die Macht, die diese oder jene Handlung unter Strafandrohung verbietet. Natürlich ist nichts als die Kraft des Löwen oder das Bedürfnis, das der verspürt, der Hunger hat oder friert. Die Leute, die man zu ehren pflegt, sind nichts weiter als Halunken, die das Glück gehabt haben, nicht in flagranti ertappt zu werden. Der Staatsanwalt, den die Gesellschaft auf mich hetzt, ist durch eine Infamie reich geworden. Ich habe einen Mord begangen und bin rechtmäßig verurteilt worden. Aber von der Tat an sich abgesehen, ist ein Valenod, der als Geschworener den Stab über mich bricht, hundertmal gemeingefährlicher als ich…«
Trübsinnig, aber leidenschaftslos fuhr er fort: »Trotz seiner Habsucht ist mein Vater noch lange nicht der Schlechteste. Er hat mich niemals geliebt, und ich schände ihm zuletzt durch meinen ehrlosen Tod gar noch seinen Namen. Er verdient den unvergleichlichen Trost, den ihm die sechs-bis achttausend Franken gewähren, die ich ihm hinterlasse. Vielleicht beneidet man ihn dieses Geldes wegen um den geköpften Sohn…«
Solche Betrachtungen – sie mochten richtig sein – erfüllten Julian mit Todessehnsucht. So schlichen fünf lange Tage hin. Wenn Mathilde kam, die voll glühender Eifersucht war, was ihm nicht entging, empfing er sie höflich und gütig.
Eines Abends ging er ernstlich mit Selbstmordgedanken um. Das tiefe Leid, in das ihn die Trennung von Frau Rênal geworfen, hatte ihm die Schwingen gebrochen. Er fand an nichts mehr Freude, weder in der Wirklichkeit noch in seiner Phantasie. Dazu begann der Mangel an körperlicher Bewegung seine Gesundheit zu untergraben. Er bekam Anfälle von Schwärmerei und Schwäche, wie sie deutsche Studenten haben. Jener hohe Mannessinn schwand, der mit kräftigem Fluche gewisse unziemliche Gedanken abwehrt, die auf die Seele Unglücklicher einstürmen.
»Ich habe die Wahrheit geliebt. Wo ist sie? Überall Heuchelei oder Scharlatanerie, selbst in den Besten, selbst in den Größten!« Er lachte verächtlich auf. »Wahrlich, kein Mensch darf einem Menschen trauen!« Napoleon fiel ihm ein. »Napoleon auf Sankt Helena …«, rief er aus, »ein Komödiant, dem Könige von Rom zuliebe … Allmächtiger! Wenn sich solch ein Gigant, noch dazu im Unglück, das ihn ernstlich an seine Mannespflicht ermahnte, zum Scharlatan erniedrigte, was kann man dann von den andern erwarten?
Wo ist Wahrheit?
In der Religion?« Bittres Lächeln umspielte seine Lippen. »Im Munde eines Maslon, eines Frilair, eines Castanède? Nein. Vielleicht im echten Christentum, dessen Priester ebensowenig bezahlt werden wie zu Zeiten der ersten Apostel? Nein. Paulus ward bezahlt durch sein Vergnügen am Befehlen, am Reden, am Sich-in-Szene-Setzen…
In der innigsten Religiosität? Tor, der ich bin! Ich stehe in einem alten gotischen Dome mit feierlich leuchtenden hohen Fenstern – und mein armes Herz erträumt sich den Priester dazu … Meine Seele verlangt nach ihm, erschaut ihn in Sehnsucht … und es erscheint ein Trottel mit schmierigen Haaren…
Aber es gibt auch wahre Geistliche … Massillon … Fenelon …
Aber Massillon hat Dubois die Weihe gegeben, und Fenelon ist mir durch die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint-Simon verleidet!
Und wenn es einen idealen Priester gäbe … eine Zuflucht der feinfühligen Seelen auf Erden … einen Hort in all unsrer Einsamkeit und Verlassenheit… von welchem Gotte würde uns dieser gute Hirte predigen? Nicht von dem der Bibel, diesem kleinlichen, grausamen, rachgierigen Tyrannen … sondern vom Gotte Voltaires … einem gütigen, gerechten, unendlichen Gotte…«
Allerlei Erinnerungen an die auswendig gelernte Bibel wurden in ihm lebendig. »Bei dem schrecklichen Mißbrauch, den die Priester mit dem großen Begriffe Gott treiben, wo gibt es da noch einen Glauben, der auch nur drei Menschen einte? Ein jeder ist allein …
Allein! Welche Hölle!«
Julian schlug sich an die Stirn.
»Ich werde verrückt und ungerecht! Ich sitze einsam und verlassen in meiner Zelle. Aber ich bin nicht einsam über die Erde gewandelt. In mir lebte und webte die mächtige Idee der Pflicht. Die Pflicht, die ich mir selber gesetzt, mit Recht oder mit Unrecht, war mir der feste Stamm eines Baumes, an den ich mich stützte im Sturm. Ich habe geschwankt. Wind und Wetter haben mich geschüttelt. Ich war ja nur ein Mensch. Aber ich habe mich nicht zu Boden werfen lassen!
Nur die dumpfe, feuchte Kellerluft meiner Zelle hat mir vorgelogen, ich sei ein Einsamer…
Doch warum soll ich noch Heuchler sein, ich, der ich die Heuchelei verfluche? Es ist nicht der nahe Tod, nicht das Gefängnis, nicht die Kerkerluft, die mich niederwirft. Es ist die Trennung von Luise Rênal! Hätte ich mich beklagt, wenn ich in Verrières oder Vergy, um bei