Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.bald gab es der Fürst auf, sich mit diesem jungen Mann herumzuärgern, dessen schlichte, ernste Grundsätze ihm lästig waren.
»Leben Sie wohl, Monsignore!« sagte er plötzlich. »Ich sehe, die Schulung auf der theologischen Akademie in Neapel ist vortrefflich, und wenn solche trefflichen Lehren gar in einem hervorragenden Geist aufgehen, so ist es ganz natürlich, daß man glänzende Erfolge erzielt. Leben Sie wohl!«
Damit drehte er ihm den Rücken.
›Diesem Schafskopf habe ich ganz und gar nicht gefallen‹, sagte sich Fabrizzio.
›Jetzt bleibt es abzuwarten,‹ erwog der Fürst, sobald er allein war, ›ob dieser schöne junge Mann empfänglich für irgendeine Leidenschaft ist. Dann wäre er vollkommen. – Er ist ein geistreicher Nachbeter der guten Lehren seiner Tante. Ich habe sie richtig reden hören. Wenn es einmal eine Revolution in meinem Lande geben sollte, dann wäre sie diejenige, die den ›Vorwärts‹ herausgibt, wie damals die San Felice in Neapel. Na, trotz ihren fünfundzwanzig Jahren und ihrer Schönheit hat man die San Felice ein bißchen aufgeknüpft. Ein warnendes Beispiel für überkluge Weiber!‹
Mit seiner Vermutung, Fabrizzio sei der Schüler seiner Tante, war der Fürst im Irrtum. Geistig begabte Menschen, die auf einem Thron oder in seiner Nähe geboren sind, verlieren häufig das Feingefühl. Um sie herum ist freimütige Unterhaltung verpönt; sie erscheint ihnen grob. Sie wollen nur Masken sehen und maßen sich doch ein Urteil über die Schönheit der Gesichtsfarbe an. Das Drollige dabei ist, daß sie sich viel Feingefühl zutrauen. Im vorliegenden Fall zum Beispiel glaubte Fabrizzio ungefähr alles, was wir ihn haben sprechen hören; allerdings dachte er keine zweimal im Monat an diese erhabenen Grundsätze. Er war ein aufgeschlossener und kluger Mensch, aber er war gläubig.
Der Freiheitsdrang, die Mode und der Kult der Volksbeglückung, diese Krankheiten des neunzehnten Jahrhunderts, waren in seinen Augen nichts als eine Ketzerei, die wieder verschwinden wird wie alle anderen, aber erst nach der Vernichtung vieler Seelen, so wie einst die Pest da, wo sie wütete, viele Körper hingerafft hat. Und trotz alledem las Fabrizzio die französischen Zeitungen voll Entzücken und beging sogar zuweilen die Unvorsichtigkeit, sich welche zu verschaffen.
Als Fabrizzio, noch ganz verblüfft vom Empfang im Schloß, zurückkam und seiner Tante von den verschiedenen Fallstricken des Fürsten erzählte, sagte sie zu ihm:
»Du mußt nun unverzüglich dem Padre Landriani, unserem ehrwürdigen Erzbischof, deinen Besuch machen. Geh zu Fuß hin, steige die Treppen geräuschlos hinauf, mache möglichst wenig Lärm in den Vorzimmern. Wenn man dich warten läßt, um so besser, um so viel tausendmal besser! Mit einem Wort: Benimm dich apostolisch!«
»Ich verstehe,« meinte Fabrizzio, »der Mann ist ein Tartüff.«
»Ganz und gar nicht! Er ist die leibhafte Tugend.«
»Trotz seiner Haltung bei der Hinrichtung des Grafen Palanza?« erwiderte Fabrizzio verwundert.
»Jawohl, mein lieber Freund, trotzdem! Der Vater unseres Erzbischofs war Unterbeamter im Finanzministerium, ein Kleinbürger. Das erklärt alles. Monsignore Landriani ist ein Mann von regem Verstand und gründlichem Wissen, ein ehrlicher Mensch. Er liebt die Tugend. Ich bin überzeugt: käme ein neuer Kaiser Decius auf die Welt, so stürbe er den Märtyrertod wie Polyeukt in der Oper, die man vergangene Woche gegeben hat. Das ist die gute Seite. Jetzt kommt die Kehrseite der Medaille. Sobald er dem Monarchen oder auch nur dem Premierminister gegenübersteht, ist er geblendet von so viel Größe. Er wird verwirrt, er errötet. Es ist ihm tatsächlich unmöglich, nein zu sagen. Daraus erklärt sich seine damalige Handlungsweise, die ihm in ganz Italien den Ruf der Grausamkeit eingebracht hat. Aber eines weiß man nicht: Als ihn die öffentliche Meinung über den Prozeß des Grafen Palanza aufklärte, da legte er sich die Buße auf, dreizehn Wochen von Wasser und Brot zu leben, so viel Wochen, wie der Name Davide Palanza Buchstaben hat. Wir haben hier am Hof einen grenzenlos durchtriebenen Schurken, namens Rassi, den Oberrichter oder Großfiskal, der den Pater Landriani zur Zeit der Hinrichtung des Grafen Palanza im Garn hatte. Während seiner dreizehnwöchigen Fastenzeit lud ihn der Graf Mosca aus Mitleid und auch ein wenig aus Bosheit und gar zweimal wöchentlich zu Tisch ein. Der gutmütige Erzbischof aß aus Unterwürfigkeit mit wie alle anderen; er hätte es für Rebellion und Jakobinertum gehalten, sich öffentlich anmerken zu lassen, daß er sich für eine vom Landesherrn gutgeheißene Tat eine Buße auferlegt hatte. Aber man wußte, daß er für jede Einladung, bei der ihn seine treue Untertanenpflicht zwang, wie alle anderen zu essen, sich je zwei weitere Bußtage bei Wasser und Brot aufbrummte.
Monsignore Landriani, ein höherer Geist, ein Gelehrter ersten Ranges, hat nur eine Schwäche: er will verehrt sein. Sei also gerührt, wenn du ihn erblickst, und liebe ihn beim dritten Besuch wirklich. Im Verein mit deiner Abkunft wird dich das alsbald zu seinem Liebling machen. Zeige kein Befremden, wenn er dich bis an die Treppe geleitet; tue, als wärst du dergleichen gewöhnt. Er hat den Geburtsfehler, vor dem Adel zu knieen. Im übrigen sei schlicht, apostolisch, keinesfalls geistreich, glänze nicht, und sei nicht etwa rasch im Antworten. Wenn du ihn kein bißchen schüchtern machst, dann behagst du ihm. Denke daran, daß er dich aus eigenem Antrieb zu seinem Großvikar ernennen muß. Der Graf und ich werden über diese allzu schnelle Beförderung überrascht und sogar ärgerlich tun. Das ist dem Fürsten gegenüber notwendig.«
Fabrizzio eilte in den erzbischöflichen Palast. Ein sonderbarer Zufall fügte es, daß der etwas schwerhörige Kammerdiener des trefflichen Prälaten den Namen del Dongo überhörte; er meldete einen jungen Priester namens Fabrizzio an. Der Erzbischof hatte gerade einen Pfarrer von wenig musterhafter Führung vor sich, den er sich hatte kommen lassen, um ihm den Standpunkt klar zu machen. Er war eben dabei, ihn abzukanzeln – etwas ihm höchst Peinliches –, und wollte sich seines Schmerzes gründlichst entledigen. Darum mußte der Großneffe des berühmten Erzbischofs Ascanio del Dongo drei Viertelstunden warten.
Er begleitete den Pfarrer bis ins letzte Vorzimmer und fragte beim Zurückkommen den Wartenden beiläufig, womit er ihm dienen könne. Wie soll man seine Entschuldigungen und seine Verzweiflung schildern, als er die violetten Strümpfe gewahrte und den Namen Fabrizzio del Dongo vernahm? Unserem Helden kam die Geschichte so spaßig vor, dass er es wagte, obgleich es sein erster Besuch war, in einer Anwandlung von Zärtlichkeit dem würdigen Prälaten die Hand zu küssen. Er mußte es anhören, wie der Erzbischof ganz außer sich immer wieder sagte: »Ein del Dongo muß in meinem Vorzimmer warten!« Gleichsam als Entschuldigung hielt er sich für verpflichtet, ihm die ganze Geschichte mit dem Pfarrer, seine Verstöße, seine Ausreden und so weiter zu erzählen.
›Wie ist es nur möglich,‹ fragte sich Fabrizzio auf dem Heimweg zum Palazzo Sanseverina, ›dass dieser Mann die Hinrichtung des armen Grafen Palanza hat beschleunigen können?‹
»Was denken vostr’ Eccellenza?« rief ihm der Graf Mosca lachend entgegen, als er ihn in das Zimmer der Duchezza eintreten sah. (Der Graf hatte es nicht gern, wenn Fabrizzio ihn Exzellenz nannte.)
»Ich bin wie aus den Wolken gefallen. Nichts verstehe ich vom Wesen der Menschen. Wenn ich seinen Ruf nicht kennte, ich hätte gewettet, er könne kein Huhn schlachten sehen.«
»Und die Wette hätten Sie gewonnen« entgegnete der Graf. »Aber wenn er vor dem Fürsten steht oder nur vor mir, so kann er nicht nein sagen. Allerdings, um zur vollen Wirkung zu kommen, muß ich das große gelbe Ordensband überm Rock tragen. Im Frack widerspräche er mir. Wenn ich ihn empfange, trage ich auch immer Uniform. Es kommt uns nicht zu, das Ansehen der Macht zu untergraben; das besorgen die französischen Zeitungen schon rasch genug. Wer weiß, ob das Katzbuckeln nicht eher stirbt als wir! Aber Sie, mein lieber Neffe, Sie werden den Respekt überleben. Sie, Sie werden ein Mustermensch werden!«
Fabrizzio gefiel sich ungemein im Umgang mit dem Grafen. Er war der erste höhere Mensch, der sich herabließ, mit ihm ohne Umschweife zu reden. Überdies hatten sie eine gemeinsame Liebhaberei: die für Altertümer und Ausgrabungen. Der Graf fühlte sich seinerseits durch die grenzenlose Aufmerksamkeit geschmeichelt, mit der ihm der junge Mann zuhörte. Aber etwas mißfiel ihm gewaltig: Fabrizzio hatte seine Wohnung in der Casa Sanseverina; er lebte mit der Duchezza zusammen und ließ sich in aller Unschuld anmerken, dass ihn dieser vertrauliche Verkehr beglückte. Fabrizzios Augen und seine frische Hautfarbe