Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль
Читать онлайн книгу.wäre, einen Vorwurf zu machen? Aber er gehörte zu jenen seltenen Seelen, die ewig Gewissensbisse empfinden, wenn sie eine edle Tat, die sich ihnen geboten, nicht vollbracht haben. Übrigens war ihm der Gedanke unerträglich, die Duchezza durch seine Schuld traurig zu sehen.
Bei seiner Ankunft fand er sie schweigsam und schwermütig. Folgendes war vorgefallen: Die kleine Kammerzofe Cechina, von Reue gequält und die Größe ihrer Verfehlung nach der stattlichen Bestechungssumme bemessend, war krank geworden. Eines Abends kam die Duchezza, die sie gern hatte, in ihre Kammer hinauf. Diesem Beweis von Güte vermochte das Mädchen nicht zu widerstehen; sie brach in Tränen aus, wollte ihrer Herrin zurückgeben, was sie von dem empfangenen Gelde noch besaß, und fand am Ende den Mut, ihr das Verhör zu gestehen, das der Graf mit ihr angestellt hatte. Die Duchezza lief schnell zur Lampe und löschte sie aus, dann sagte sie zu der kleinen Cechina, sie verzeihe ihr, doch unter der Bedingung, daß sie niemandem ein Wort von dem merkwürdigen Vorgang erzähle. »Der arme Graf«, sagte sie leichthin, »fürchtet die Lächerlichkeit. So sind die Männer alle.«
Die Duchezza eilte in ihr Zimmer hinab. Kaum hatte sie sich dort eingeschlossen, als sie in Tränen ausbrach. Der Gedanke, mit Fabrizzio, an dessen Wiege sie gestanden, eine Liebschaft zu haben, war ihr entsetzlich. Und doch: war ihr Benehmen nicht danach?
Das war die erste Ursache der düsteren Schwermut, in der sie der Graf antraf. Als er wieder da war, zeigte sie sich launisch gegen ihn und fast auch gegen Fabrizzio; am liebsten hätte sie alle beide nicht wiedersehen mögen. Sie ärgerte sich über die ihr lächerliche Rolle, die Fabrizzio bei der kleinen Marietta spielte; der Graf, der wie alle Verliebten nicht reinen Mund halten konnte, hatte ihr nämlich alles erzählt. Sie konnte sich an dieses Unglück nicht gewöhnen. Ihr Abgott hatte einen Makel. Schließlich fragte sie in einem Augenblick guten Einvernehmens den Grafen um Rat. Das war für ihn ein köstlicher Augenblick und eine schöne Belohnung für die ehrenwerte Regung, die ihn nach Parma zurückgeführt hatte.
»Nichts ist einfacher als das!« meinte Mosca lachend. »Die jungen Männer begehren alle Frauen, und am Tag darauf denken sie nicht mehr an sie. Könnte er nicht nach Belgirate gehen und der Marchesa del Dongo einen Besuch abstatten? Während seiner Abwesenheit werde ich die Komödiantentruppe ersuchen, ihre Künste anderswo zu zeigen. Die Reisekosten will ich ihr bezahlen. Aber geben Sie acht: binnen kurzem werden wir ihn in das erste beste andere hübsche Weib verliebt sehen, das der Zufall über seinen Weg führt. Das ist ganz in der Ordnung, und ich möchte gar nicht, daß es anders wäre. – Nötigenfalls veranlassen Sie die Marchesa, ihm zu schreiben.«
Dieser Vorschlag, den er mit völlig gleichgültiger Miene machte, war für die Duchezza ein Lichtblick: sie hatte Angst vor Giletti. Am Abend bemerkte der Graf beiläufig, daß ein Eilbote, der von Wien gekommen sei, nach Mailand weiterginge. Drei Tage darauf empfing Fabrizzio einen Brief von seiner Mutter. Er reiste ab, sehr ärgerlich darüber, daß er, dank Gilettis Eifersucht, nichts mehr von der liebevollen Gesinnung haben durfte, deren ihn die kleine Marietta durch ihre Mammaccia, eine alte Komödiantenmutter, hatte versichern lassen.
In Belgirate traf Fabrizzio seine Mutter und seine Schwestern. Belgirate ist ein großes piemontesisches Dorf am westlichen Ufer des Lago Maggiore; das östliche gehört den Mailändern oder richtiger den Österreichern. Dieser See, der sich gleichlaufend dem Corner See von Norden nach Süden erstreckt, liegt etwa zwölf Meilen westlicher. Die Gebirgsluft, der erhabene und friedliche Anblick des köstlichen Sees erinnerten Fabrizzio an den anderen See, wo er seine Kindheit verlebt hatte; alles das wirkte zusammen, seinen Kummer und Groll in sanfte Schwermut aufzulösen. Jetzt mischte sich in die Erinnerung an die Duchezza eine namenlose Zärtlichkeit; es war ihm, als ob ihn fern von ihr jene Liebe ergriffe, die er niemals für ein Weib empfunden hatte. Nichts wäre ihm unerträglicher gewesen, als auf ewig von ihr getrennt zu sein. Hätte sich die Duchezza herabgelassen, auch nur ganz wenig Koketterie zu Hilfe zu nehmen, so hätte sie sich sein Herz erobert, zum Beispiel, wenn sie ihm einen Nebenbuhler gegenübergestellt hätte. Weit entfernt, einen so entscheidenden Entschluß zu fassen, ertappte sie sich, nicht ohne heftige Selbstvorwürfe, doch dabei, wie ihre Gedanken immer der Reise des jungen Wandersmannes nachschwebten. Sie warf sich das vor, was sie noch eine Laune nannte, als wäre es ein Greuel. Sie verdoppelte ihre Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit gegen den Grafen, der, von so viel Liebenswürdigkeit hingerissen, nicht auf die Stimme der Vernunft hörte, die ihm eine zweite Reise nach Bologna anbefahl.
Die Marchesa del Dongo konnte ihrem Lieblingssohne nur drei Tage widmen, da die Vermählung ihrer ältesten Tochter mit einem Mailänder Principe bevorstand. Nie hatte sie Fabrizzio so zärtlich und anhänglich gefunden. Mitten in der Schwermut, die sich seiner Seele mehr und mehr bemächtigte, stieg in ihm ein wirrer und lächerlicher Gedanke auf, den er sofort zur Ausführung brachte. Darf es gesagt werden? Er wollte den Abbate Blanio um Rat fragen. Dieser treffliche alte Mann war zwar unfähig, das Herzeleid einer ebenso jugendlichen wie ungestümen Leidenschaft zu verstehen. Überdies hätte es einer Zeit von acht Tagen bedurft, um ihm alle Rücksichten klar zu machen, die Fabrizzio in Parma zu nehmen hatte. Aber mit dem Einfall, Blanio um Rat zu fragen, fand Fabrizzio die volle Spannkraft eines Sechzehnjährigen wieder. Wird man es glauben? Fabrizzio wollte ihn nicht nur als bedachtsamen Mann und treuen Freund befragen; der Zweck seiner Reise und die Gefühle, die unseren Helden während der fünfzig Stunden ihrer Dauer erfüllten, waren so aberwitzig, daß es zweifellos für die Erzählung besser wäre, sie unerwähnt zu lassen. Ich fürchte, Fabrizzios Aberglaube wird ihm das Wohlwollen der Leser verscherzen. Aber er war nun einmal so. Wozu ihm mehr schmeicheln als anderen? Ich habe weder dem Grafen Mosca noch dem Fürsten geschmeichelt. Um also alles zu berichten: Fabrizzio begleitete seine Mutter bis zum Hafen von Laveno am östlichen Gestade des Lago Maggiore auf österreichischem Gebiet, wo sie gegen acht Uhr abends ausstieg. Man sieht den See als neutrales Gebiet an und verlangt von jemandem, der nicht ans Land geht, keinen Paß. Aber kaum war die Nacht hereingebrochen, da ließ sich Fabrizzio nach demselben österreichischen Ufer hinüberrudern und landete an einer kleinen, waldbedeckten Landspitze. Er mietete sich eine Sediola, eine Art leichten ländlichen zweiräderigen Wagens, mit dem er der Kutsche seiner Mutter in einer Entfernung von fünfhundert Schritt folgen konnte. Er war als Diener mit der Livree der Casa del Dongo verkleidet, und keinem der zahlreichen Zoll-und Polizeibeamten fiel es ein, ihn nach seinem Paß zu fragen.
Eine viertel Meile vor Como, wo die Marchesa und ihre Töchter übernachten mußten, bog er in einen Seitenpfad linker Hand ein, der um den Ort Vico herum und schließlich auf einen neuerdings dicht am Seeufer angelegten schmalen Weg führte. Es war Mitternacht, und Fabrizzio konnte hoffen, keinem Gendarmen zu begegnen. Die Wipfel der Baumreihen, durch die der kleine Weg hinlief, hoben sich mit den schwarzen Umrissen ihres Blätterwerks vom Sternenzelt ab, das ein leichter Nebel verschleierte. Wasser und Himmel dehnten sich in tiefem Schweigen. Fabrizzios Seele konnte dieser erhabenen Schönheit nicht widerstehen. Er machte Halt und setzte sich auf einen Felsen, der wie ein kleines Vorgebirge in den See ragte. Nichts klang durch die Stille ringsum als der leise Wellenschlag des Sees, der sich gleichmäßig am Gestade brach. Fabrizzio hatte ein italienisches Herz und somit nur manchmal Anfälle von Eitelkeit. Der bloße Anblick erhabener Schönheit rührte ihn und nahm seinem Leid alle Schärfe und Bitternis. Er blieb auf seinem einsamen Felsen, wo er nicht auf Gendarmen zu achten brauchte, im Schütze der dunklen Nacht und der grenzenlosen Stille sitzen, und süße Tränen traten ihm in die Augen; dort erlebte er, einsam für sich, die glücklichsten Stunden, die er seit langem gehabt hatte.
Er faßte den Entschluß, die Duchezza niemals zu belügen, und gerade weil er sie in diesem Augenblick bis zur Vergötterung liebte, gelobte er sich, ihr seine Liebe nie einzugestehen. Nie wollte er das Wort Liebe zu ihr sagen, da das, was man Leidenschaft nennt, seinem Herzen fremd war. Im Überschwang von Edelmut und Mannestugend, der ihn jetzt beseligte, entschloß er sich, ihr bei der ersten Gelegenheit alles zu sagen.
Nachdem er diesen mutigen Vorsatz einmal fest gefaßt hatte, fühlte er sich wie von einer Zentnerlast befreit. ›Vielleicht wird sie mir ein paar Worte wegen Marietta sagen. Meinetwegen, ich will die kleine Marietta nie wiedersehen‹, gab er sich vergnügt zur Antwort.
Die schwüle Hitze, die tagsüber geherrscht hatte, begann der frischen Morgenluft zu weichen. Schon erhellte die Dämmerung mit bleichem Schimmer die Zacken der Alpen, die im Norden und gegen Osten des Corner Sees aufragen. Ihre selbst im