Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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von der angrenzenden chirurgischen Station bei uns verbunden. Bei der Visite wurde außerdem festgestellt, wer zu operieren sei. Zur bestimmten Zeit mußten wir dann alles bereit haben: steriles Verbandzeug, Instrumente usw. Gewöhnlich reichte Schwester Anni die Instrumente zu; ich löste die Verbände, hielt die Patienten fest, wenn das nötig war, und legte am Schluß wieder den Deckverband an, damit die Ärzte nichts Unsteriles anzurühren brauchten.

      Chef der Station war ein tschechischer Chirurg, ein älterer Herr, sehr tüchtig und gewissenhaft. Darum schätzte ich den »Pan Primarius« hoch, obwohl er sehr wortkarg war und uns nicht mit Freundlichkeit verwöhnte. Sehr unangenehm waren mir zwei tschechische Assistenten: ein älterer, der offenbar wenig von Chirurgie und noch weniger von Asepsis verstand; und ein jüngerer, dem ich sichtlich ein Dorn im Auge war. Er vermied es nach Möglichkeit, sich von mir helfen zu lassen, und rief stattdessen unsere böhmische Wärterin herbei, ein dunkeläugiges Mädchen, das an seinen Blicken hing und auf seinen Wink flog. Einmal traf ich ihn in der Mittagsstunde im Garten. Wider Erwarten grüßte er freundlich und fragte, was für ein Buch ich da hätte. Ich reichte es ihm: Es waren Husserls »Ideen«. Ganz erstaunt rief er aus: »O, Sie sind philosophisch? Ich dachte, Sie seien medizinisch!« Seitdem war das Eis gebrochen. Es war ihm also die vermeintliche Fachkollegin unbehaglich gewesen. Er wußte nicht, daß auch die Philosophin den Ärzten scharf auf die Finger sah. Es kam vor, daß ich einen Patienten wiedererkannte, der auf den Tisch gelegt wurde. Wir hatten ihn erst einige Tage zuvor hier gehabt. Neulich hatte es sich um eine saubere Wunde gehandelt, und heute war am selben Bein ein großer Abszeß zu öffnen – das ging doch nicht mit rechten Dingen zu! Wenn ich nachher allein war, sah ich in das Operationsbuch, in das die Namen der Patienten und alle Eingriffe eingetragen wurden. Ich hatte mich nicht getäuscht. Solche Entdeckungen regten mich sehr auf. War es nicht empörend, daß die Leute von dem Ort, wo sie geheilt werden sollten, den Keim zu neuen Leiden mitnahmen? Und man konnte kaum etwas dagegen tun. Es war ja nicht nachzuweisen, daß der Abszeß durch eine Unsauberkeit des Operateurs entstanden war. Wir konnten nichts machen, als selbst so gut wie möglich für Asepsis zu sorgen.

      Ein einziger deutscher Arzt war bei uns tätig: Dr. Schärf, ein freundlicher Österreicher. Er arbeitete gut, und ich war immer froh, wenn ich ihm helfen durfte. Er sprach auch gern ein paar Worte mit mir, wenn die Arbeit erledigt war. Bald hatte er es heraus, was ich in »Zivil« sei. Ich hielt es durchaus nicht mehr geheim. Seit jenen Erfahrungen auf der Typhusstation hatte ich gemerkt, daß es wie ein Schutzwall war. Wenn ein Arzt mich dem andern als »Schwester Edith, in Zivil Philosophin« vorstellte, war ich von vornherein vor Zudringlichkeiten sicher. Dr. Schärf erkundigte sich, warum ich denn meine wissenschaftlichen Arbeiten unterbrochen hätte und hierhergekommen sei. (Darüber schienen sich alle zu wundern.) Ich erklärte ihm, meine Studiengefährten seien alle im Feld und ich sähe nicht ein, warum ich es besser haben sollte als sie. Das schien ihm Eindruck zu machen. Wenn ich ihm aber vorschlug, sich für den Frontdienst zu melden und dann auch mir Beschäftigung in einem Feldlazarett zu verschaffen, so konnte er sich dafür nicht begeistern. Trotzdem wurden mir diese kleinen Unterhaltungen lieb. Ich begann auf den täglichen Besuch zu warten und war betrübt, wenn er ausblieb.

      Zu meinen Bedauern nahm auch im kleinen Operationssaal die Arbeit bald ab. Das hatte einen bestimmten Grund. Als ich noch auf der Typhusstation war, brach eines Tages in der benachbarten Kleinen Reitschule ein großer Brand aus. Wir fürchteten schon, daß die Flammen zu uns herüberschlagen würden und daß wir unsere Kranken hinaustragen müßten. Aber der Wind ging in anderer Richtung. Die Kleine Reitschule war zum Glück Abtransport-Station: Die Leute waren alle gesund und konnten sich selbst in Sicherheit bringen, es war kein Menschenleben zu beklagen. Von dem Gebäude aber blieben nur die Außenmauern stehen. Die hohen Spiegel, in denen einst die Kavallerie-Kadetten ihre Haltung zu Pferd geprüft hatten, waren zersprungen, Dach und Innenwände eingestürzt, der Fußboden hoch mit Schutt und Trümmern bedeckt, als der Brand endlich gelöscht war. Außerdem war der anstoßende Flügel der Kadettenanstalt mitergriffen worden. Das war die chirurgische Station, die zu unserm Operationssaal gehörte. Mehrere Zimmer mußten geräumt werden, und so kamen weniger Patienten als sonst zum täglichen Verbandwechsel.

      Eines Morgens begegnete mir Schwester Alwine im Gang und rief mir zu, es sei ein Transport von 1000 Verwundeten gemeldet. Sie erfuhr das immer zuerst, weil sie das Bad unter sich hatte; dorthin wurden alle Ankömmlinge sofort gebracht. Und vom Bad kamen sie in den Operationssaal zum Verbinden. Ich tat einen Luftsprung vor Freude, daß wir Arbeit bekamen. Schwester Anni und ich setzten sofort unseren Sterilisierapparat in Bewegung und machten uns schlachtbereit. Um 10Uhr kamen die ersten Verwundeten; von da ab arbeiteten wir mit einer späten und sehr kurzen Mittagspause durch bis gegen 10Uhr abends, wenn ich mich recht erinnere. Außer den Ärzten, die täglich bei uns arbeiteten, kamen noch mehrere aus den Baracken zu Hilfe, die in Chirurgie gänzlich ungeübt waren. Schwester Anni sollte mit beim Verbinden helfen. Mir wurde das Instrumententischchen anvertraut; ich mußte allen zureichen, was sie brauchten. Es war keine kleine Aufgabe, für so viele Leute immer das Rechte bereitzuhalten. Ich durfte gar nicht abwarten, bis etwas verlangt wurde, sondern mußte beständig herumschauen, was für Wunden es gab, um für jede das Nötige vorzubereiten. Eine junge Ärztin, die noch gar nichts verstand, stellte sich in meine Nähe, um sich von mir die nötigen Weisungen geben zu lassen. Ich hatte in den Wochen, seit ich im Operationssaal arbeitete, die einfachen Mittel der Kriegschirurgie schon genügend kennengelernt. Der Landsturmmann Max und die Wärterin Helene waren meine Hilfstruppen: Wenn meine Vorräte an Tupfern, Pinseln, Jod, Wasserstoff usw. auszugehen drohten, dann rief ich ihnen ein bittendes Wort zu, und sie sorgten diensteifrig für Ersatz. Offenbar verdoppelte die Aufgabe unsere Kräfte, und ich fühlte mich bei dieser Höchstspannung so wohl, daß der Tag mir immer als der schönste aus meiner ganzen Lazarettzeit in Erinnerung geblieben ist. Als einmal eine kleine Pause eintrat, zündeten sich die Ärzte eine Zigarette an und plauderten ein wenig. Ich hörte, wie einer der Fremden fragte, was denn das für eine unermüdliche Schwester am Instrumententisch sei. Dr. Schärf erzählte bereitwillig, was er von mir wußte, und ich mußte im stillen lächeln, wie er wortgetreu wiederholte, was er mir abgefragt hatte.

      An diesem Tage änderte sich der Charakter des Lazaretts: Es waren nun weit mehr Verwundete als Seuchenkranke da. Die meisten Baracken wurden mit Leichtverwundeten belegt. Die schwersten Fälle kamen auf die I.chirurgische Station im Offiziersgebäude. Dort war auch der Große Operationssaal, wo sie täglich, oder so oft es nötig war, verbunden werden sollten. An den Tagen, an denen bei uns wenig zu tun war, gingen Schwester Anni und ich nun – auf Tagelohn, wie wir sagten – in den Großen Operationssaal zum Helfen. Da gab es immer alle Hände voll Arbeit, viele Ärzte waren am Operieren oder Verbinden und begrüßten uns freudig, wenn wir kamen. Als ich einmal gerade mit Dr. Andermann einen Verband anlegte, wurde ich zu Schwester Oberin ans Telephon gerufen. Im Saal horchte man auf. »Die Ober-Margarete? Was wird es denn da geben?« Offenbar war man immer auf einen »Rüffel« gefaßt, wenn man dorthin zitiert wurde. Aber ich geriet nicht aus der Fassung. Ich wußte ja, daß ich von Schwester Oberin keine Vorwürfe zu befürchten hatte. Sie bat mich, auf die I.chirurgische Station zu Schwester Margarete (eine Namensschwester der Oberin, nicht mit ihr selbst zu verwechseln!) zu gehen und dort für ein paar Stunden auszuhelfen. So lernte ich zum erstenmal die Station kennen, die später die letzte während meiner Lazarettzeit sein sollte. Ehe ich aber dorthin kam, machte ich noch einige andere Erfahrungen.

      Nicht lange nach jenem großen Transport wurde wieder einer gemeldet. Wir bekamen sie jetzt nicht mehr aus den Karpaten, sondern aus der Gegend von Warschau. Es war die Zeit des großen Vormarschs in Polen. Die Meldung kam ganz früh am Morgen, ehe wir noch aufgestanden waren. Alwine mußte sich schleunigst ankleiden und von Schwester Oberin den Schlüssel zum Bad holen. Auf ihre Veranlassung ging ich mit hinauf und bat um Erlaubnis, ihr beim Baden zu helfen. Wir mußten Schwester Margarete aus dem Schlaf wecken. Sie rieb sich die Augen und war noch halb benommen, als sie mir ihr Ja zunickte.

      Es waren zwei große Baderäume vorhanden, der eine mit mehreren Wannen, der andere mit Brausen. Die Ankommenden mußten sofort alles Zeug ablegen, das sie am Leibe hatten. Es wurde zur Entlausung weggeschafft. Wer gehen konnte, wurde unter die heißen Brausen geschickt und mußten sich da gehörig reinigen. Die Leute, die sich nicht selbst helfen konnten, mußten wir wie kleine Kinder in die Wannen setzen und abwaschen. Wer so schwer verwundet war, daß


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