Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.bat sie, mich zu rufen, sobald sie meine Hilfe für notwendig hielt.
Das letzte Ereignis meiner Pflegezeit war der Tod des Rittmeisters. Es kam ein prachtvoller Kranz von seinen Geschwistern. Dann wurde er fortgeholt. Ich brachte noch das Zimmer in Ordnung. Danach war es Zeit zum Abschiednehmen. Ich konnte alle meine Leute reichlich mit Zigaretten beschenken, die Suse mir von daheim mitgebracht hatte. Die Ungarn und Slawen küßten mir dankbar die Hand. Auch die Mädchen nahmen mit Handkuß und ein paar Tränchen Abschied. Schwester Margarete und Emmi versprachen mir schriftliche Berichte über unsere Kranken. Frau Dr. Schärf, eine Cousine des Chirurgen, die seit einiger Zeit bei uns arbeitete, drückte mir kräftig die Hand und sagte: »Leben Sie wohl, Frau Collega von der andern Fakultät.«
Die beiden Helferinnen, mit denen ich gekommen war, fuhren gleichzeitig auf Urlaub (ich glaube, schon zum zweitenmal). Am Abend vor meiner Abreise stand an der großen Wandtafel im Speisesaal zu lesen: »Es gehen morgen Schwestern nach Deutschland. Wer Briefe mitzugeben hat, möge sie abliefern.« Jede von uns bekam einen dicken Stoß. Ich steckte sie sorglos in meine Handtasche und dachte nicht mehr daran. In Oderberg mußten wir zur Zollrevision. Während die Beamten mit meinen Koffern beschäftigt waren, kam ein deutscher Soldat an uns heran und fragte: »Haben Sie etwa einige Liebesbriefe bei sich?« Ich reichte ihm die Handtasche hin; er nahm das ganze Paket heraus und beschlagnahmte es. Ebenso erging es den beiden andern. Ich blieb völlig ruhig. Meine Ermüdung war so groß, daß ich mich gar nicht über die Sache aufregen konnte. Ich erzählte auch nichts davon, als ich nach Hause kam. Aber nach einigen Wochen erhielt ich die Nachricht, daß ich vor dem Kriegsgericht wegen Umgehung der Zensur angeklagt sei. Darauf stand Gefängnisstrafe. Die ganze Familie war in heller Aufregung. Eine erste Vernehmung fand in dem Breslauer Amtsgericht statt. Die zweite sollte vor dem Kriegsgericht in Ratibor sein. Ich wollte hinfahren und wahrheitsgetreu angeben, daß mir die Bestimmung nicht unbekannt gewesen sei, daß ich aber gar nicht daran gedacht hätte, weil das Hin- und Herbesorgen der Post ganz üblich war. Um keinen Preis wollte ich sagen, daß ich von dem Verbot nichts gewußt hätte: lieber ins Gefängnis gehen als lügen. Jemand kam auf den Gedanken, ich sollte an unsern alten Bekannten von Grunwald her, den Bürgermeister Weskam in Ratibor, schreiben und um seine Hilfe bitten. Er antwortete freundlich: er habe mit dem Kriegsgerichtsrat gesprochen, der die Sache zu behandeln habe; der wolle die Verhandlung verschieben, bis ein Gesetz im Reichstag durchgebracht sei, das für solche Fälle Geldstrafe vorsähe. Gleichzeitig machte das Breslauer Rote Kreuz für mich und meine Gefährtinnen eine Eingabe um Freisprechung. Eines Tages kam wieder ein amtliches Schreiben mit der angenehmen Mitteilung, der Prozeß sei niedergeschlagen. Die Familie atmete auf. Damit war auch dieses Nachspiel meiner Schwesternzeit beendet.
5.
Ich hatte meinen Abschied von Weißkirchen keineswegs als einen endgültigen betrachtet, sondern wartete ernstlich auf eine Rückberufung. Meine Urlaubszeit benützte ich zunächst, um das Hilfsschwesternexamen zu machen, zu dem man nach halbjähriger praktischer Tätigkeit als Helferin zugelassen wurde. Sodann begann ich jetzt mit Volldampf Griechisch zu arbeiten, um nun endlich das Graecum zu machen. Suse hatte mir dringend empfohlen, mir dabei von ihren Geschwistern helfen zu lassen. Ihr Schwager Julius Stenzel war am Johanneum, einem humanistischen Gymnasium, als Lehrer der alten Sprachen tätig, zugleich arbeitete er privat eifrig als Platoforscher, und Bertha, seine Frau, war seine treue und verständnisvolle Mitarbeiterin. An einem Sonntagvormittag suchte ich sie auf. Das Ehepaar war gerade damit beschäftigt, gemeinsam Platos »Staat« zu lesen. Bertha hörte mein Anliegen an und erklärte sich bereit, einigemal in der Woche mit mir zu arbeiten. Sie ließ mich auch gleich probeweise ein paar Zeilen Plato übersetzen, und da sie fand, daß es gar nicht übel ging, forderte sie mich auf, an ihrer Sonntagslektüre teilzunehmen. Nun versuchte ich mich einige Wochen lang ganz in Plato und Homer; zweimal wöchentlich, wenn ich mich recht erinnere, ging ich zu Frau Stenzel. Sie war damals schon Mutter von drei Kindern (später kam noch ein viertes hinzu), und das jüngste, der kleine Jochen, erst wenige Monate alt, schlief meist in seinem Wagen in dem Zimmer, in dem wir arbeiteten. Manchmal wurde bei schwierigen Stellen auch der Herr des Hauses zu Hilfe gerufen. Auf seinen Rat gab ich in der erneuten Meldung zur Prüfung Plato als Spezialgebiet an und bat, mich dem Johannes-Gymnasium zu überweisen. Geheimrat Thalheim, mein alter Freund mit dem strengen Ton und dem gütigen Herzen, erklärte mir, das Provinzial-Schulkollegium brauche solche persönlichen Wünsche nicht zu berücksichtigen.
Ich bekam aber dann doch die Nachricht, daß ich mich im JohannesGymnasium zur Prüfung einzufinden hätte. Der Termin war schon im Oktober: nach meinem alten Rezept, solche Dinge so schnell wie möglich zu erledigen. Ich wußte von Dr. Stenzel, daß ich keine Aussicht hatte, von ihm geprüft zu werden. Sein Chef besorgte dieses Geschäft selbst, aber in dessen Eigenheiten wurde ich gründlich eingeweiht. Z.B. mußte man die Überschriften der einzelnen homerischen Gesänge wissen. Und wenn der alte Herr auf Plato zu sprechen kam, pflegte er sich nach »Phaidon« zu erkundigen und dann die Frage zu stellen, warum Sokrates so lange auf die Vollstreckung des Todesurteils warten mußte: eine echte Philologenfrage, auf die ein Philosoph nie verfallen würde. Es wird im Anfang des Dialogs erwähnt, daß man auf die Rückkehr des Schiffes wartete, das von Athen nach Delos entsandt war. Diese Fahrt nach Delos war eine staatlich-liturgische Handlung; während ihrer Dauer durfte keine Hinrichtung stattfinden. Es war natürlich sehr angenehm, daß ich mich auf diese Dinge vorbereiten konnte. Im übrigen war Herr Geheimrat Laudien das Muster eines Gymnasialdirektors aus der alten Zeit, würdevoll und gütig zugleich, schon in seiner äußeren Erscheinung ehrfurchtgebietend mit seinem stattlichen Wuchs und dem langen, in der Mitte geteilten, schneeweißen Bart. Die schriftliche Arbeit ließ er mich in seinem Amtszimmer schreiben. Davor war mir etwas bange. Ich hatte nämlich fast nur mündlich gearbeitet und war ganz ungeübt, nach Diktat Griechisch zu schreiben; vor allem fürchtete ich, daß ich viele Accentfehler machen würde. Beruhigend war mir während des Diktats, daß ich den Text (nicht Plato, sondern aus einer berühmten Lysias-Rede) sofort verstand; es war also keine Gefahr, daß mir die Übersetzung Schwierigkeiten machen würde. Und dann kam eine sehr angenehme Überraschung: Geheimrat Laudien reichte mir seinen Zettel, damit ich vergleichen könnte, ob ich beim Diktieren etwas ausgelassen hätte. Voller Freude griff ich danach und prüfte alle meine Accente nach. Bei der mündlichen Prüfung ging es etwas feierlicher zu, weil auch Geheimrat Thalheim zugegen war. In einem großen Raum saß ich an einem langen grünen Tisch ganz allein den beiden alten Herren gegenüber. Ich bekam auch jetzt nicht Plato vorgelegt, sondern Isocrates – es war ein besonderer Wunsch Wilhelms II., daß im Gymnasialunterricht die berühmten Redner ausgiebig behandelt werden sollten, und das geschah auf Kosten der Philosophen –, aber die Frage nach dem Phädon kam und auch die nach den homerischen Gesängen; wenn ich mich recht erinnere, mußte ich auch ein Stück aus der Ilias lesen und übersetzen. Dann hatte ich wieder einmal eine Prüfung bestanden. Ich bekam in mein Reifezeugnis den Vermerk hinzugeschrieben, daß ich mir durch die Ergänzungsprüfung im Griechischen die Reife eines humanistischen Gymnasiums erworben hätte. Die beiden Herren erkundigten sich noch, zu welchem Zweck ich die Prüfung gemacht hätte. Es kam in Breslau sehr selten vor, weil man dort auch mit Realgymnasialabitur zur Promotion in allen Fakultäten zugelassen wurde. Ich berichtete ihnen von der abweichenden Bestimmung in Göttingen. Nun wollten sie noch wissen, was ich für eine Doktorarbeit machte. Als ich vom Problem der Einfühlung sprach, stellten sie keine Frage mehr. Am nächsten Morgen bat Herr Geheimrat Laudien Dr. Stenzel um Auskunft darüber, was »Einfühlung« sei.
Eine Rückberufung nach Weißkirchen hatte ich noch nicht bekommen. Statt dessen traf – wohl auch noch im Oktober – Suse Mugdan ein und brachte die Nachricht, das Lazarett sei aufgelöst worden. Seit Galizien von der Russen befreit war, gehörte Weißkirchen nicht mehr zum Etappengebiet, und die Kadettenanstalt sollte wieder ihrem alten Zweck dienen. Suse und ich stellten uns aufs neue dem Roten Kreuz zur Verfügung, um an anderer Stelle wieder eingesetzt zu werden, aber wir bekamen nie mehr eine Einberufung.
IX. Von Begegnungen und inneren Entscheidungen
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