Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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Hause, aber wir begegneten uns nicht.

      Als die Gäste bei Reinachs vollzählig waren, ging es an den Kaffeetisch. Reinach und ich saßen uns an den Schmalseiten gegenüber. An einer Längsseite saß Husserl zwischen Frau Staiger und Frau Reinach, auf der andern Courant zwischen Frau Husserl und Pauline. Richard führte das große Wort. Er machte einen Witz nach dem andern. Als er eine geringschätzige Bemerkung über das Eiserne Kreuz machte, wechselten Reinach und ich über den Tisch hinweg einen Blick. Dann sagte Reinach leise, aber sehr fest: »Mir hat es sehr viel bedeutet.« Darauf schwieg Richard. Übrigens sah er mitten im Reden manchmal nervös auf die Uhr. Pauline und ich wußten, daß an diesem Nachmittag sein Prozeß vor dem Gericht verhandelt wurde. Plötzlich winkte er mir und sagte: »Ich muß jetzt gehen.« Ich stand sofort auf und verabschiedete mich mit ihm zugleich. Wir gingen zusammen hinaus. Unten sagte er mir, daß er heute die Entscheidung erwarte und bald nach der Verhandlung seinen Rechtsanwalt sprechen wolle. Wir gingen am Gericht vorbei, aber es war noch zu früh. Er wollte nun in der Stadt Weihnachtsgeschenke einkaufen – für alle Mitglieder der Familie Runge –, und ich sollte ihm aussuchen helfen. Wir gingen die Weenderstr. entlang aus einer Buchhandlung in die andere, und unterwegs sprachen wir von seiner Angelegenheit. Ich konnte mir gar nicht denken, daß heute die Scheidung ausgesprochen würde. Das Eherecht war damals ja noch viel strenger als heute, und es war eigentlich kein gültiger Scheidungsgrund vorhanden. Richard war etwas betreten, als ich das aussprach. Obgleich er von sich aus nicht im mindesten an eine Trennung gedacht hatte und von dem Prozeß ganz überrascht wurde, wünschte er doch jetzt sehr, zum Abschluß zu kommen. Am ärgsten war es ihm, daß Luise Langes Namen in die Verhandlungen hineingezogen war; um seine Beziehungen zu ihr nach Möglichkeit auszuschalten und ihren Ruf zu schonen, hatte er selbst etwas anderes für ihn Belastendes angegeben. Ich hatte keinen Zweifel, daß es eine vorgeschobene Sache sei, und daß keine wirkliche Schuld vorliege. Der Schachzug glückte aber, und der Prozeß kam tatsächlich an diesem Tage zum Abschluß. Als wir uns verabschiedeten, war ich wie gerädert. Wir besprachen uns zu einem gemeinsamen Spaziergang, um die Erörterung fortzusetzen. Richard holte mich dazu ab. Ich weiß nicht mehr, ob es schon am nächsten Tage war. Auf einsamen Park- und Waldwegen ließ es sich besser sprechen als im Straßengewühl bei den Weihnachtseinkäufen. Aber quälend war es auch jetzt. Offenbar ging es Richard sehr nahe, daß Nelli durch ihre Erzählungen meine Mutter, Tante Mika und mich gegen ihn beeinflußt hatte. Es lag ihm daran, die Tatsachen klarzustellen, und doch war es ihm sehr peinlich, sich vor mir zu rechtfertigen, und mir war es nicht minder peinlich, diese Rechtfertigung anzuhören und darauf zu erwidern. Es war ihm aber in diesen Gesprächen noch um etwas anderes zu tun. »Sag mal, hast du diese Ehe eigentlich für etwas Mögliches gehalten?«, fragte er. Offenbar war er mit dem Geschehenen innerlich noch nicht fertig und suchte nach Klarheit. Ich mußte gestehen, daß ich beim Verkehr in ihrem Hause durchaus nicht den Eindruck einer unglücklichen Ehe gehabt hatte. Und bei Nellis Erzählungen war es mir so erschienen, als ob sie durch das beständige nachträgliche Grübeln und Zergliedern Kleinigkeiten so gesteigert hatte, bis sie zu unüberwindlichen Schwierigkeiten wurden. So hatte auch Richard die Sache ursprünglich angesehen. Aber es stiegen doch jetzt tiefere Fragen auf. War Nelli überhaupt ein Mensch, der mit andern zusammenleben konnte? Als Hausfrau war sie ja bestimmt unmöglich. Wenn er an einem kalten Wintertag einen Gast aus der Universität mitbrachte und um etwas heißen Tee bat, fragte sie freundlich: »Ist das jetzt wirklich nötig? Ich bin gerade so schön am Arbeiten.« So ging alles nach umständlichen rationalen Erwägungen, und über dem Prüfen des Guten und Besseren wurde der rechte Augenblick verpaßt. »Eigentlich habe ich nur Eines bei ihr erlebt, was etwas wirklich Elementares war«, sagte Richard. »Das waren die Wutausbrüche über ihre Großmutter.« Diese Behauptung schien mir etwas zu weitgehend. »Die Liebe zu ihrem Vater ist sicher auch etwas Elementares.« Das konnte er nicht leugnen. Übrigens war es Richard sehr darum zu tun, wie es Nelli ginge. Es tat ihm auch sichtlich leid, daß dem »Vater Neumann« die Sache so nahegegangen war. Auch bei späteren Zusammenkünften versäumte er niemals, sich eingehend nach Nelli zu erkundigen, während sie seinen Namen nie mehr erwähnte. Als er von selbst auch auf Luise Lange zu sprechen kam, wagte ich eine vorsichtige Frage über die Art der Beziehungen zu ihr. »Es war etwas, was mit einer ganz idealen Ehe vielleicht nicht vereinbar ist«, sagte er.

      Nach diesem Spaziergang sahen wir uns nicht wieder; Richard reiste bald darauf nach Berlin. Er hatte drei nicht sehr schwere Verwundungen aus dem Felde mitgebracht, wurde aber nicht wieder hinausgeschickt. Er hatte draußen eine wichtige »Erfindung« gemacht: ein Verfahren, die Schützengräben durch drahtlose Telegraphie zu verbinden, weil die Drahtleitungen natürlich sehr oft zerstört wurden. An dem Frontabschnitt, wo er als Leutnant tätig war, hatte er seinen Plan ins Werk setzen dürfen. Nun erhielt er den Auftrag, von Berlin aus die drahtlose Verbindung an allen Fronten durchführen zu lassen. In diesem Amt blieb er bis zum Ende des Krieges.

      Unsere Gespräche gingen mir noch lange nach, und wie es meine Art war, drängte es mich, ihm manches, was ich ihm nicht hatte sagen können, noch nachträglich zu schreiben. Ich sprach ihm gegenüber ganz offen dasselbe aus, was ich schon Nelli gesagt hatte: es sei mein Eindruck, daß er sich in seiner Ehe benommen hätte wie ein »grüner Junge«. Aber an eine schwere Schuld, die eine Scheidung rechtfertigen konnte, glaubte ich nicht. Eine Antwort bekam ich auf diesen Brief nicht. Aber es bestand von da an ein Vertrauensverhältnis zwischen uns, das nie wieder gestört wurde. Daß Nelli mir die kleinen Bosheiten wiedererzählt hatte, die er über mich ihr und andern gegenüber geäußert hatte, das habe ich ihn nie merken lassen. Sie schienen mir belanglos im Verhältnis zu dem Vertrauen, das er mir in unsern Gesprächen bewiesen hatte.

      Sehr bald nach meiner Ankunft hatte ich mich natürlich auch mit meinem Manuskript unter dem Arm zum Hohen Weg begeben. Der Meister ließ sich große Stücke vorlesen, war recht befriedigt und gab mir Anregungen zu mancherlei kleinen Ergänzungen. Bei Reinachs mußte ich über diese Besuche genau berichten und erregte großes Erstaunen, da es sonst gar nicht Husserls Art war, jemandem lange zuzuhören. Jedesmal wurde ich gefragt: »Ist es immer noch schön bei Husserl?«

      Am Heiligen Abend war nur Pauline bei Reinachs. Ich konnte es gut verstehen, daß sie den Abend ganz still für sich sein wollten. Mich hatte Liane Weigelt zusammen mit einem älteren Studenten eingeladen, mit dem sie damals befreundet war. Sie hatte ihr behagliches Stübchen schön geschmückt und tat, was sie konnte, um es uns drei nestlosen Vögeln recht weihnachtlich zu gestalten. Wir beide allein hätten uns sicher noch heimischer gefühlt. Bei Herrn Schäfer spürte ich aber eine starre innere Kruste, an der ihre Bemühungen abprallten. Tatsächlich bereitete er ihr bald darauf eine große Enttäuschung. Liane schlug vor, zur Mitternachtsmesse in die katholische Kirche zu gehen. Sie hatte das wohl in München öfters getan. Mir war es noch ganz fremd, aber ich ging freudig darauf ein. Wir gingen durch die dunkle Winternacht zur Kurzen Straße. Aber es war weit und breit niemand zu sehen, und die Kirchtüre war fest verrammelt. Die Christmette war wohl erst am Morgen. So mußten wir enttäuscht heimkehren.

      Am zweiten Weihnachtstage war ich mit Reinachs zusammen bei Husserls zum Nachtessen eingeladen. Das war eine große Freundlichkeit von Frau Malvine, und ich freute mich sehr auf den Abend; aber es war natürlich ganz anders als ein Abend bei Reinachs. Außer uns waren noch andere Gäste da: Professor Jensen (Mediziner) mit seiner Frau und eine Schweizer Studentin. Jensens waren mit Husserls sehr nahe befreundet, mir aber ganz fremd. Es wurde viel politisiert und in einer Weise, die uns wenig zusagte; auch die junge Schweizerin schien darunter zu leiden. Bei Tisch kam das Gespräch darauf, wo die Sitte des Weihnachtsbaumes herstamme. Professor Jensen holte den Band»W« des Konversationslexikons herbei und las den Artikel »Weihnachtsbaum« daraus vor. Frau Husserl forderte uns mit großer Wichtigkeit auf festzustellen, was besser schmeckte: die Leckerli, die sie selbst gebacken hatte, oder die echten Basler von Fräulein Stählin. Als wir dann auf dem Heimweg waren, blieb Reinach plötzlich auf der Straße stehen und fragte: »So, nun sagt einmal ehrlich: Was hat besser geschmeckt – die falschen Basler Leckerli oder die echten? Ich fand, die echten waren viel besser. Aber ich hab mich gehütet, es Frau Husserl zu sagen.« Dabei lachte er spitzbübisch, und wir alle waren frei von der Beklommenheit, die wir mitgebracht hatten.

      Ich habe nicht mehr in Erinnerung, wann Reinach und wann ich selbst abreiste. Für meine Arbeit waren die Besprechungen mit Husserl sehr ermutigend gewesen, und es ging nun flott weiter. Aber


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