Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.und den Klassen, die ich übernommen hatte. Ich betrachtete mich auch durchaus nur als seine Stellvertreterin und bemühte mich, in seinem Sinn zu arbeiten. Ich gab ihm manchmal brieflich Bericht über den Stand der Dinge, legte ihm vor dem Abitur die Texte vor, die ich für die mündliche und schriftliche Prüfung ausgewählt hatte – wir durften für jedes Fach drei Prüfungsaufgaben vorschlagen; das Provinzial-Schulkollegium bestimmte dann eine davon –, und als er einmal für ein paar Tage von Schreiberhau nach Breslau kam, sprachen wir ausführlich miteinander. Dabei konnte ich feststellen, daß er durch Briefe der Kinder über die Ereignisse des Schullebens bis in alle Einzelheiten unterrichtet war. Die Kur, die er damals durchmachte, erlaubte ihm noch einmal, in die Schule zurückzukehren. Aber wenige Jahre später starb er.
Die andern Herren, so weit sie nicht im Felde standen, gehörten alle der älteren Generation an. Sie hielten sich während der Pausen und Freistunden in einem eigenen Zimmer neben dem der Lehrerinnen auf. Als Grund wurde angegeben, daß sie ungestört rauchen wollten. Nur zu den Konferenzen kamen sie zu uns herüber. Die rechte Hand des stellvertretenden Direktors war Professor Köhler, bei dem ich einst meinen ersten Chemieunterricht gehabt hatte. Damals hatte er den Spitznamen »Mariechen«, weil er bei seinen Versuchen in schönstem Sächsisch zu sagen pflegte: »Ma riechen schon's Chlor.« Sein naturwissenschaftlicher Unterricht war nicht schlecht, aber als Mathematiklehrer war er so wenig glücklich, daß die meisten Schülerinnen Nachhilfeunterricht brauchten. Das war in früheren Jahren eine Haupteinnahmequelle für meinen Vetter Richard gewesen. Erna hatte noch unter diesem mangelhaften Unterricht gelitten, später wurden die Mathematikstunden – wenigstens in den Oberklassen – in andere Hände gegeben.
Zu den »Heimkriegern«, die noch dem Kollegium angehörten, zählte Professor Gnerich. In meiner Schulzeit war er als junger Lehrer an die Schule gekommen und viel angeschwärmt worden; es machte auch den Eindruck, daß er darauf Wert legte. Von den Schülerinnen der oberen Gymnasialklassen wurde er durchaus abgelehnt. Auf einem Schulausflug hörte ich die seufzende Frage: »Wann kommt er denn endlich ins Feld?« Bei den Konferenzen hatte er viel über Respektlosigkeit zu klagen; gerade die begabtesten und eifrigsten Schülerinnen standen mit ihm auf Kriegsfuß. Begreiflicherweise ärgerte es ihn sehr, wenn dann Fräulein Zucker und ich erklärten, daß bei uns das Verhalten der Mädchen tadellos sei. Fräulein Zucker war eine sehr kluge und tüchtige Germanistin, einige Semester älter als ich, aber wir kannten uns noch von der Universität her. Auch sie war zur Aushilfe während des Krieges an die Schule gerufen worden. Früher hätten wir beide wegen unserer jüdischen Abstammung keine Aussicht auf Beschäftigung an der Anstalt gehabt, da die Viktoriaschule – wie Professor Lengert auf einer Konferenz einmal sagte – »immer als protestantisch gegolten hatte«.
Großer Beliebtheit erfreuten sich die beiden Studentinnen, Käthe Friedenthal und Lotte Stern, sehr hübsche und begabte Mädchen. In jeder Pause klopfte es mehrmals an die Tür des Lehrerinnenzimmers, und meist wurde dann eine der beiden hinausgerufen, weil die Kinder eine unaufschiebbare Frage hatten. Die älteren Lehrerinnen wechselten dann einen vielsagenden Blick.
Ich hatte meinen Platz zwischen Fräulein Sonke, einer tüchtigen älteren Sprachlehrerin, und Fräulein Heisler, die Turn- und Handarbeitsunterricht gab. Auch sie war schon seit Jahrzehnten im Schuldienst. Ihre etwas hysterisch gesteigerte Lebhaftigkeit und Heiterkeit war mir manchmal nicht ganz leicht zu ertragen. Sie ihrerseits hatte an mir auszusetzen, daß ich alle Pausen durch Hefte korrigierte und wenig zu sprechen war. Sonst hielten wir aber gute Nachbarschaft.
Professor Lengert hatte Wort gehalten und mir einen Stundenplan zurechtgemacht, der keine einzige Hohlstunde enthielt. Nach Ostern allerdings, als Professor Köhler den neuen Stundenplan für die ganze Schule machte, glückte es nicht mehr ganz. Ich benützte dann die freie Zeit zwischen meinen Unterrichtsstunden – ebenso wie die Pausen und sogar die Konferenzen, solange über fremde Klassen gesprochen wurde –, um Hefte zu korrigieren und mich vorzubereiten; so brauchte ich wenigstens keine Hefte mit nach Hause zu nehmen.
Bald nach meinem Eintritt in den Schuldienst mußte ich mich im Provinzialschulkollegium persönlich vorstellen. Ich machte den Besuch gemeinsam mit Rose Guttmann, die damals ihre Tätigkeit an der Augustaschule begann. Dezernent für die höheren Mädchenschulen war seit einiger Zeit Provinzialschulrat Jantzen, unser guter Dr. Hermann Jantzen, den wir als jungen Lehrer in der Viktoriaschule gehabt hatten. Von uns aus war er als Direktor nach Königsberg geschickt worden, nun aber in den Verwaltungsdienst seiner Heimatprovinz berufen. Die jugendliche Schlankheit hatte er eingebüßt, war breit und kräftig geworden; auch das Gesicht war viel voller als früher, hatte aber noch die bleiche Farbe. Die hellblonden Haare und der rote Bart waren unverändert – wir hatten ihn als Kinder »Donar« genannt, nachdem er uns von den Göttern der Germanen gesprochen hatte. Er hielt unsere Visitenkarten noch in der Hand, als er uns empfing. Ich fragte, ob er sich unserer noch erinnere. »Freilich kenne ich Sie noch«, sagte er. »Edith Stein – Sie sind ja bei mir in der IV.Klasse gewesen.« Er hatte uns auch in der V. und III.Klasse unterrichtet, aber in der IV. war er unser Klassenlehrer gewesen, und dieses Jahr war mir in besonders lieber Erinnerung. Als er hörte, daß ich schon vor über einem Jahr mein Staatsexamen gemacht und bisher die praktisch-pädagogische Ausbildung noch gar nicht begonnen hatte, riet er mir dringend, mich für Ostern zum Eintritt in das Seminarjahr zu melden. Ich hatte einige Bedenken, da ich nach Beendigung meiner Doktorarbeit nach Freiburg gehen wollte. Ich fragte, ob ich das Seminarjahr nicht dort durchmachen könnte. Er riet mir dringend davon ab. In einem fremden Bundesstaat hätte ich kaum Aussicht auf Anstellung. Ich folgte seinem Rat und trat Ostern offiziell in den öffentlichen Schuldienst ein. Der Kreisarzt, der mich für das erforderliche Gesundheitszeugnis untersuchte, fand mich zunächst etwas zart aussehend, stellte aber dann mit Befriedigung fest, daß ich »völlig gesund und tauglich zur dauernden Bekleidung eines öffentlichen Amtes« sei. Unsere Ausbildung bestand darin, daß Provinzialschulrat Jantzen uns wöchentlich eine Lehrkonferenz im Provinzialschulkollegium hielt, daß wir ihm manchmal eine schriftlich ausgearbeitete Lehrprobe abgeben mußten und daß er auch gelegentlich unseren Unterricht besuchte. Bei mir ist er nur einmal in einer Lateinstunde gewesen. Meine Lehrprobe schrieb ich auf, nachdem ich die entsprechende Stunde gehalten hatte. Es vorher zu tun, wie es Vorschrift war, brachte ich nicht fertig. Ich sagte, das käme mir vor, als ob man eine Liebeserklärung vorher aufsetzen würde. – Die Lehrkonferenzen sagten mir sehr viel weniger zu als einst die Schulstunden des jungen Lehrers. Ich war in vielem ganz anderer Ansicht als Dr. Jantzen. Es trat bei manchen seiner Äußerungen ein Nationalismus zutage, den ich nicht teilen konnte, obwohl ich sehr vaterländisch gesinnt war. Zu gelegentlichen abfälligen Äußerungen über das Alte Testament konnte ich nur den Kopf schütteln. Ich scheute mich nicht, meine abweichende Meinung sehr freimütig auszusprechen. Dr. Jantzen nahm das keineswegs übel, und unsere Beziehungen blieben ungetrübt.
Die Gefährtinnen im Seminar waren mir fast alle vom Studium oder von der Schule her bekannt, ich war wohl die Jüngste an Jahren und Semesterzahl. Rose trat mit mir zugleich ein, und auch Nelli. Sie hatte Doktor und Staatsexamen vor ihrer Verheiratung gemacht, da sie aber damals schon verlobt war, auf die praktische Ausbildung verzichtet. Nun wollte sie ihren Lehrberuf ausüben. Ihr Vater hatte gerade noch ihren Scheidungsprozeß zu Ende geführt. Bald darauf war er einem Herzleiden erlegen, das er seinem Kinde immer verschwiegen hatte. Nelli beklagte sich nach seinem Tode sehr darüber, daß er sie gar nicht darauf vorbereitet hatte. Sie hätte sonst die letzten Jahre des Zusammenlebens ganz anders ausgenützt. Nun stand sie plötzlich allein. Kurz nacheinander löste sie den Haushalt in Göttingen und den in Breslau auf. Auf meine Bitte öffnete meine Mutter ihr unser Haus. Sie nahm das Angebot dankbar an und siedelte mit ihrem ganzen Hausrat zu uns über.
Für meine liebe Mutter war mein Eintritt in den Schuldienst wohl eine ganz große Freude. Sie sagte kaum etwas darüber, aber es war ihr anzumerken, wie froh sie war. Ursprünglich war sie für den Lehrberuf gar nicht sehr begeistert, weil sie ihn für eine große Plackerei hielt. Aber nach den merkwürdigen Zickzacklinien meines bisherigen Lebensweges hatte sie nun den Eindruck, daß ich in einem sichern Hafen gelandet sei. Wenn die Tätigkeit an der Viktoriaschule auch vorläufig nur eine Aushilfe war, so konnte doch leicht daraus eine Lebensstellung werden – die angesehene Stellung einer »Oberlehrerin« (der gewichtige Titel »Studienrätin« wurde erst nach der Revolution von 1918 eingeführt). Meine Schwester Else hatte