Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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wegen eines Herzfehlers entlassen worden und nach Göttingen zurückgekehrt. Als einziger aus dem alten Göttinger Kreis hatte er den Meister nach Freiburg begleitet. Außer ihm war noch ein junger protestantischer Theologe, Rudolf Meyer, mitgekommen. Dazu kam als neue Anhängerin eine Russin, Frau Pluicke. Von diesen beiden wurde mir bei Husserl erzählt, daß sie »darauf brennten«, mich kennenzulernen. Darum wurde ich bald einmal mit ihnen zusammen eingeladen. Frau Pluicke war begeistert für die Phänomenologie, aber noch begeisterter für Rudolf Steiner. Unter ihrem Einfluß wandte sich auch der »kleine Meyer« der Anthroposophie zu. Beide verließen Freiburg nach einiger Zeit. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

      Als ich eines Tages von der Lorettostraße nach Günterstal hinausging, begleiteten mich Husserl und seine Frau. Unterwegs sagte er: »Fräulein Stein, meine Frau läßt mir keine Ruhe. Ich muß mir Zeit nehmen, Ihre Arbeit zu lesen. Ich habe noch nie eine Arbeit angenommen, ohne sie zu kennen. Aber diesmal will ich es tun. Gehen Sie zum Dekan und sehen Sie, daß Sie einen möglichst späten Termin für das Rigorosum bekommen, damit ich mich bis dahin hindurcharbeiten kann.« Natürlich unternahm ich sofort alles Nötige. Die Mappe mit den drei Bänden mußte ich Husserl nun fortnehmen, um sie der Fakultät einzureichen. Ich konnte ihm einen Durchschlag zur Verfügung stellen, damit keine Zeit verlorenging, bis ihm das andere Exemplar offiziell wieder zugestellt wurde.

      Gewöhnlich gehen Doktoranden zuerst zum Pedell der Universität und gaben ihm ein Trinkgeld, damit er ihnen zu der Prüfungskommission verhelfe, die sie wünschen. Dieses Hintertürchen verschmähte ich. Ich ging geradewegs zum Dekan der Philosophischen Fakultät. Das war damals Professor Körte, klassischer Philologe. Während des Krieges war er Hauptmann der Reserve, drillte Rekruten in Freiburg und erledigte in den dienstfreien Stunden seine Amtsgeschäfte als Dekan. So empfing er mich in feldgrauer Uniform. Es war ein sehr liebenswürdiger Herr, man bedurfte wirklich keines Vermittlers, um mit ihm einig zu werden. Die Arbeit konnte niemand anders als Husserl beurteilen. Er mußte also Referent werden. Als Nebenfächer gab ich neuere Geschichte und neuere Literatur an. Dafür kamen Professor Rachfahl und Professor Witkop als Examinatoren in Betracht. Ich erbat mir den 3.August {{1916}} als Examenstermin. Am 6. fing in Breslau die Schule an, ich mußte also am 5. abends zu Hause sein. Einen Tag wollte ich unterwegs in Göttingen bleiben, daher spätestens am 4. früh von Freiburg abreisen. Professor Körte sagte mir, ich müßte selbst die prüfenden Professoren bitten, so lange in Freiburg zu bleiben. Die Vorlesungen pflegten wegen der großen Hitze Ende Juli zu schließen, und dann ging man in die Sommerfrische. Unter diesem Vorbehalt wurde das examen rigorosum auf den 3.August nachmittags 6Uhr festgesetzt. Nun besuchte ich die beiden Herren und stellte mich ihnen vor. Es war ja etwas Ungewöhnliches, bei ganz Unbekannten die Prüfung zu machen, und ich mußte ein wenig feststellen, wes Geistes Kind sie waren. Rachfahls Bücher hatte ich gelesen. Vor allem war er mir bekannt durch seine Theorie über Friedrich WilhelmIV. und die Revolution des Jahres 1848 – eine Theorie, die von meinen Lehrern in der neueren Geschichte (Georg Kaufmann in Breslau und Max Lehmann in Göttingen) wie auch sonst ziemlich allgemein – entschieden abgelehnt wurde. Die Märzrevolution gehörte zu meinem Spezialgebiet, meine historische Staatsexamensarbeit hing damit zusammen. So mußte ich vorsichtig sein, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Professor Witkop war es, wie ich aus der Unterredung merkte, nicht um Zahlen und Daten, sondern um Ideen zu tun. Er erkundigte sich, ob ich die Bücher von Eugen Kühnemann gelesen hätte. Das sagte mir schon viel. Das Herder-Buch kannte ich noch nicht und holte es mir sofort von der Bibliothek. Mit dem Termin waren beide Herren einverstanden. Ich ging noch einigemal zu ihnen in die Vorlesung, um mich auf ihre Denkweise einzustellen. Ich glaube, nicht mehr als zwei- oder dreimal. Dann meinte ich, genügend im Bilde zu sein. Ich mußte ja auch daran denken, daß ich Ferien hatte und mich für ein neues Quartal stärken sollte. Ich ging jetzt gewöhnlich frühmorgens mit meinen Büchern von Günterstal aus auf einen der umliegenden Berge, legte mich auf eine Wiese und arbeitete da für die Prüfung.

      4.

      In diesen Tagen kam meine Freundin Erika Gothe von Göttingen. Auch für sie sollte es die Ferienerholung sein; zugleich wollte sie mir beistehen, daß ich nicht mutterseelenallein am Prüfungstage hier sei. Ich holte sie vom Bahnhof ab. Als wir dann in meinem kleinen Stübchen beisammensaßen, legte ich meine Schwarzwaldkarte vor sie hin und zeigte ihr: Hier ist der Feldberg. Da müssen wir einmal hin. Auch an den Bodensee müssen wir einmal. Erika strahlte vor Freude und umarmte mich. Reinachs hatten ihr dringend abgeraten, zu mir zu fahren. Ich würde jetzt doch nur fürs Examen arbeiten und für nichts anderes zu haben sein. Nun wurde sie für ihre Freundestreue belohnt. Wir mußten es aber schlau anstellen mit unseren Ausflügen. Es durfte kein Husserl-Kolleg geschwänzt werden. Für den Feldberg mußte die Zeit von einer Vorlesung zur andern reichen. Wir machten den Hinweg ganz zu Fuß, von Günterstal über den Schauinsland, übernachteten unterwegs und konnten nachmittags stolz nach der Vorlesung erzählen, daß wir früh auf dem Feldberg gewesen waren und beim Morgenkaffee die Alpen gesehen hatten. Mit der Fahrt zum Bodensee warteten wir bis zu den letzten Tagen vor der Prüfung. Dafür mußten wir etwas mehr Zeit haben und benützten den Samstag und Sonntag. Wir beschlossen, bei Husserls vorläufig nichts zu erzählen, weil es den Meister beunruhigen könnte, daß ich mir so etwas unmittelbar vor dem Examen gönnte.

      Als wir auf dem Wiehrebahnhof die Höllentalbahn erwarteten, bemerkten wir die ganze Familie auf dem Bahnsteig. Sie stiegen nicht weit von uns entfernt in denselben Zug und fuhren eine Strecke weit mit, ich glaube, bis Hinterzarten. Es kam uns vor, als wollten sie so wenig von uns gesehen werden wie wir von ihnen. Gerhart war bei ihnen; er war nur für wenige Tage auf Urlaub da, und wir nahmen an, daß die Eltern gern mit ihrem Sohn allein sein wollten. Wir fuhren durch das ganze Höllental durch bis nach Donaueschingen. Dort nahmen wir den Zug nach Singen hinunter. Als wir kürzlich vom Feldberg herab im Osten die Hegauer Berge wie Schaumkämme aufsteigen {{sahen}}, hatte ich beschlossen, daß wir den Hohentwiel besuchen wollten. Wir blieben über Nacht in Singen. Es war schön, am Abend auf den Berg hinaufzusteigen, in der alten Burg herumzuwandern, an Eckehart zu denken und an Schillers Jugendjahre, da so mancher Gefangene auf dieser Zwingburg schmachtete. Am Morgen ging es weiter an den See. Eine alte Frau fuhr uns von Radolfzell im Kahn beim Klang der Kirchenglocken hinüber nach der Insel Reichenau. Das Kloster hat mir damals keinen besonders tiefen Eindruck gemacht. Weingärten unter tiefblauem Himmel, in blendendem Sonnenlicht umspielt von den grünen Wellen des Sees – das ist es, was mir von diesem Tag geblieben ist.

      Neben fröhlichen Wanderfahrten gab es aber auch sehr ernste Eindrücke in diesen Tagen. Gleich in der ersten oder zweiten Nacht nach Erikas Ankunft wurden wir von einem Fliegerangriff geweckt. Ich war es schon gewöhnt und kümmerte mich nicht viel darum. Erika schlief in einem andern Zimmer, Wand an Wand mit dem alten Ehepaar. Plötzlich klopfte mir der Mann und sagte mir in seinem badischen Dialekt, mein »Kamerad« weine. Ich zog mich schnell an und lief zu ihr hinüber. Sie war in der Tat in Tränen aufgelöst, aber nicht aus Angst für sich selbst. Man hatte ihr erzählt, in Freiburg sei das Geschützfeuer aus den Vogesen zu hören, und drüben stand ihr Bruder Hans als Leutnant. Nun hörte sie das Krachen der Granaten und sagte: Wenn das hier schon so entsetzlich klingt, was muß es drüben für eine Hölle sein. Ich kniete vor ihrem Bett und beruhigte sie. Was wir hörten, seien die Abwehrgeschütze, die vom Schloßberg herab Sperrfeuer über die ganze Stadt legten. Von den Vogesen könne man nur ein dumpfes Dröhnen hören. Nun versiegten die Tränen sofort. Erika war völlig getröstet. Sie hatte sogar Augen für das Kleid, das ich schnell übergeworfen hatte. »Sie haben Ihren Stil gefunden«, sagte sie. Seit ich Lehrerin war, gab ich mir Mühe, tadellos gekleidet zu sein. Ich stand ja vor erwachsenen Mädchen aus den besten Familien auf dem Katheder und wußte, was für scharfe Augen sie für das Äußere hatten. Ich wollte so wenig durch Nachlässigkeit wie durch übertriebene Eleganz Anstoß geben, sondern möglichst unauffällig sein, um die Aufmerksamkeit möglichst wenig vom Unterricht auf meine Person abzulenken.

      Natürlich mußte ich meine Vorbereitung auf die mündliche Prüfung trotz Erikas Ferien fortsetzen. Wir hatten jetzt früh noch mehr auf die Berge hinaufzuschleppen. Während ich mit meinen Büchern beschäftigt war, studierte Erika meine Arbeit. Sie ging auch ganz getreu nachmittags mit in Husserls Vorlesung, und wir warteten nun nachher zu dritt auf ihn. Einmal sagte er beim Herauskommen zu mir: »Es ist gut, daß Sie jetzt nicht mit im Dozentenzimmer waren,


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