Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.hinter mir hatte. Ich stellte fest, daß für die Lehrer die Ferien noch viel, viel schöner sind als für die Kinder. (Meine Freundin Erika Gothe erklärte später: »Ferien zur Erholung von der Schule sind schön. Aber Ferien ohne Schule sind noch schöner.«)
Eine erste große Freude erwartete mich in Dresden. Hans Lipps war dort bei seiner Mutter; mein erster Ferientag war sein letzter Urlaubstag, wir konnten uns gerade noch in Dresden treffen und zusammen bis Leipzig fahren. Er erwartete mich am Bahnhof. Auch er war im Kriege stärker geworden und sah in seiner feldgrauen Uniform mit den braunen Ledergamaschen sehr stattlich aus. Wir hatten nicht genügend Zeit, um noch seine Mutter aufzusuchen. So warteten wir auf die Abfahrt unseres Zuges in einem Café in der Nähe des Bahnhofs. Wir tauschten Nachrichten über unsern Kreis aus. Dabei fragte er: »Gehören Sie auch zu diesem Klub in München, der alle Tage in die Messe geht?« Ich mußte über seine drollige Ausdrucksweise lachen, obgleich ich den Mangel an Ehrfurcht lebhaft empfand. Er meinte Dietrich von Hildebrand und Siegfried Hamburger, die konvertiert hatten und nun einen großen Eifer zeigten. Nein, ich gehörte nicht dazu. Fast hätte ich gesagt: »Leider nein.« »Was ist das eigentlich, Fräulein Stein? Ich verstehe gar nichts davon.« Ich verstand ein wenig, aber ich konnte nicht viel darüber sagen.
Dann saßen wir in einem Abteil II.Klasse einander gegenüber, die meiste Zeit allein. Lipps hatte auf der Herfahrt den Meister in Freiburg besucht. »Haben Sie gehört, ob er schon etwas von meiner Arbeit gelesen hat?« »O, keine Spur! Gezeigt hat er sie mir. Er bindet manchmal die Mappe auf, nimmt die Hefte heraus, wägt sie in der Hand und sagt wohlgefällig: Sehen Sie nur, was für eine große Arbeit mir Fräulein Stein geschickt hat! Dann legt er sie schön in die Mappe zurück und bindet wieder zu.« »Das sind ja gute Aussichten«, sagte ich lachend.
Ich erzählte von unserm Schulbetrieb und von meinen Lateinstunden. Plötzlich unterbrach mich Lipps: »Ach, Fräulein Stein, Sie wissen gar nicht, wie inferior ich mir Ihnen gegenüber vorkomme!« Ich schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich, da Sie doch diese Dinge selbst für durchaus inferior halten?« »Diese Dinge – ja…« Aber der Eindruck war da. Er beruhte übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit. Schon früher war mir in seinen knappen Äußerungen eine Tiefe der Einsicht entgegengetreten, neben der mir alle meine Arbeit als Stümperei erschien. Und so ging es mir auch jetzt.
Echt, 7.I.39
2.
Vorbemerkung
Im Mai 1935, kurz nach meiner 1.hl. Profeß, mußte ich diese Aufzeichnungen abbrechen, da meine Vorgesetzten mir die Vollendung eines großen philosophischen Werkes auftrugen. Erst heute ist es mir nach mancherlei wunderbaren Fügungen möglich, mit der Fortsetzung zu beginnen.
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Das Letzte, wovon ich berichtete, war meine Reise von Breslau nach Freiburg im Juli 1916. In Leipzig trennte ich mich von Hans Lipps und fuhr die Nacht hindurch bis Heidelberg. Ich hatte während meiner Gymnasialjahre immer den Traum, in Heidelberg zu studieren. Daraus war nichts geworden. Nun wollte ich es wenigstens kennenlernen, und so unterbrach ich für einen Tag die Fahrt. Übrigens bin ich nicht sicher, ob das auf dieser Reise war oder einige Monate später, als ich wiederum nach Freiburg fuhr. Ebenso weiß ich nicht mehr recht, auf welcher dieser beiden Fahrten ich mich in Frankfurt mit Pauline Reinach traf. Wir hatten uns viel zu sagen, während wir durch die Altstadt schlenderten, die mir aus Goethes »Gedanken und Erinnerungen« so vertraut war. Es machten aber andere Dinge mehr Eindruck auf mich als der Römerberg und der Hirschgraben. Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können. Pauline führte mich später am Main entlang in das Liebieg'sche Institut, wo Myrons Athena steht. Aber ehe wir zu ihr gelangten, kamen wir in einen Raum, wo von einer Flämischen Grablegung aus dem 16.Jh. vier Figuren aufgestellt waren: die Mutter Gottes und Johannes in der Mitte, Magdalena und Nikodemus an den Seiten. Das corpus Christi war nicht mehr vorhanden. Diese Figuren waren von so überwältigendem Ausdruck, daß wir uns lange nicht davon losreißen konnten. Und als wir von dort zur Athena kamen, fand ich sie nur überaus anmutig, aber sie ließ mich kalt. Erst viele Jahre später habe ich bei einem erneuten Besuch den Zugang zu ihr gefunden.
In Heidelberg hatte ich auch eine gute Führerin: Elisabeth Staiger, die Tochter des Göttinger Mathematikers Felix Klein. Wahrscheinlich habe ich schon von ihr erzählt, denn ich lernte sie Weihnachten 1915 bei Reinachs kennen. Sie war nach dem Tode ihres Mannes wieder in den Schuldienst gegangen und nun hier an einer Bubenschule tätig. Es machte ihr die größte Freude, mit mir Schulerfahrungen auszutauschen. Ich habe das Heidelberger Schloß, den Neckar und die schönen Minnesängerhandschriften in der Universitätsbibliothek gesehen. Und doch hat sich wieder etwas anderes tiefer eingeprägt als diese Weltwunder: eine Simultankirche, die in der Mitte durch eine Wand geteilt ist und diesseits für den protestantischen, jenseits den katholischen Gottesdienst benützt wird.
3.
Am nächsten Mittag um 12 war ich in Freiburg. Meine Freundin Suse Mugdan hatte mir dringend empfohlen, in Günterstal zu wohnen, damit ich auch etwas Ferienerholung hätte. Ein freundlicher Mann führte mich vom Bahnhof zur Haltestelle der Straßenbahn, die nach Günterstal geht. Es ist ein eingemeindetes Dorf im Süden der Stadt, aus der Ebene in die Schwarzwaldberge hineingebaut. Vor dem Eingang zum Dorf liegt am Waldrand, etwas erhöht, ein großes Haus im reinsten italienischen Stil. Der fremdartige Anblick fällt jedem sofort in die Augen. Die Straßenbahnschaffner sagten einem, es sei die Wohlgemut'sche Villa. So oft man vorbeikam, wünschte man sich, in dies verschlossene Paradies einmal eintreten zu dürfen. Es sollte mir später lieb und vertraut werden, als es in den Besitz der Liobaschwestern übergegangen war.
Diesmal fuhr ich daran vorbei durch das kleine alte Tor bis zur Endstation der Straßenbahn. Ganz in der Nähe fand ich in einem saubern Bauernhaus ein nettes Stübchen zu ebener Erde bei einer freundlichen jungen Frau. Ihr Mann war im Felde; sie hatte die alten Schwiegereltern bei sich. Schrägüber in dem ländlichen Gasthaus zum Kybfelsen gab es für wenig Geld gut und reichlich zu essen, bei schönem Wetter im großen Wirtsgarten.
Sobald ich mein Quartier hatte, machte ich mich auf den Weg zu Husserls. Sie wohnten in der Lorettostraße, halbwegs zwischen Günterstal und der Stadtmitte, am Fuß des Lorettoberges; nicht im eigenen Hause wie in Göttingen, sondern in einer geräumigen Mietswohnung. Als ich in die Diele geführt wurde, sah ich schon den lieben Meister durch eine große Glastür in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzen. Das tat mir leid. In Göttingen hatte er ganz weltabgeschieden im Oberstock arbeiten können. Er kam in Zeiten, in denen er mit Hochdruck arbeitete, nicht einmal zum Abendessen herunter. Und nun saß er wie in einem Glashaus. Ich wurde sofort zu ihm geführt. Er kam mir entgegen und rief scherzend: »Exekution kommt!« Nein, er hatte meine Arbeit noch nicht ansehen können. Das erste Semester an der neuen Universität – er arbeitete sein Kolleg ganz neu aus und brauchte alle Zeit dafür. Übrigens würde mich dieses Kolleg sehr interessieren: die Philosophie der Neuzeit, von unserm Standpunkt aus gesehen, so daß die Hörer dadurch zugleich in die Phänomenologie eingeführt würden. Unter diesen Umständen würde es für mich kaum angehen, jetzt zu promovieren. Frau Husserl war ganz außer sich. »Fräulein Stein hat eigens die weite Reise von Breslau nach Freiburg gemacht, und nun soll es umsonst sein!« Der Meister ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Fräulein Stein freut sich, Freiburg kennenzulernen und zu sehen, wie ich mich hier einrichte. Sie wird auch viel von meinem Kolleg haben. Den Doktor kann sie das nächstemal machen.« Ich war auch durchaus nicht fassungslos, dachte aber im stillen, daß dies wohl noch nicht das letzte Wort in der Angelegenheit sei. Es war klar, daß ich dies Kolleg hören mußte. Viermal in der Woche von 5–6 h nachmittags, nur Mittwoch und Samstag frei. Frau Husserl ging auch regelmäßig hin. Nachher warteten wir vor der Universität, bis der Meister aus dem Dozentenzimmer kam. Dann gingen wir zu Fuß den Weg nach der Lorettostraße. In der ersten Vorlesung sah ich auch einen alten Göttinger