Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein
Читать онлайн книгу.die Hoffnung, das verscherzte Glück doch noch einmal zu erobern. Die alte Frau Meyer trug seit so vielen Jahren das Leid dieser schrecklichen Krankheit ihres geliebten Kindes. Sie hatte alles versucht, was Hilfe versprach. In den verschiedensten Sanatorien, offenen und geschlossenen Anstalten, war sie schon gewesen. Die Mutter hatte auch probiert, sie zu Hause zu pflegen, hatte es aber als undurchführbar erkannt. Jetzt ließ sie sie immer sofort unter sichere Aufsicht bringen, sobald die Anzeichen der Krankheit kamen. Zu diesen Anzeichen rechnete es die alte Dame auch, wenn Toni »fromm wurde« und anfing, regelmäßig in die Synagoge zu gehen. Auch in den »guten Zeiten« war das Zusammenleben nicht leicht. Frau Meyer hielt zwei Mädchen, damit Toni alle Bequemlichkeiten haben könnte. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß die Mädchen Anstoß daran nahmen, einen der äußeren Erscheinung nach gesunden und kräftigen Menschen völlig untätig zu sehen. Die Mutter selbst suchte ihre Tochter immer wieder zu irgendwelcher Arbeit anzuregen. Nach Tonis Überzeugung war die alte Dame ihr Leben lang zu gesund gewesen, um für Kranke Verständnis zu haben. Sie war darum immer wieder überrascht, wie liebevoll meine Mutter auf ihre kleinen Eigenheiten einging, obgleich sie doch auch solche Leiden aus eigener Erfahrung gar nicht kannte. In unserem Hause fühlte sie sich überhaupt sehr wohl. Die einfache Lebensweise, der natürliche und ungezwungene Ton, die heranwachsenden Kinder – das alles zog sie an und ließ sie förmlich aufleben. Ihre Mutter war darum froh über diese Freundschaft und kam trotz ihres hohen Alters manchmal mit zu uns. Groß war ihre Freude, wenn meine Mutter diese Besuche bisweilen erwiderte. Die beiden klugen und lebenserfahrenen Frauen hatten einander viel zu sagen.
Den Verkehr mit den Dienstboten daheim erschwerte Tonis großes Mißtrauen, das sich in der Krankheit zu Verfolgungsideen steigerte. Auch mit der weiteren Familie gab es immer Schwierigkeiten. Ihren einzigen Bruder und seine Kinder liebte sie sehr, mit ihrer Schwägerin aber verstand sie sich nicht, war unglücklich über deren verfehlte Erziehungsmethoden und glaubte, immer wieder eingreifen zu müssen, damit die jungen Menschen nicht in eine verkehrte Bahn gedrängt würden. Sie glaubte – wohl nicht mit Unrecht –, daß man sie möglichst fernhielt und ihren Einfluß fürchtete. Da sie sehr klug war und einen scharfen Blick für Menschen hatte, auch mit eindringlicher Überzeugungskraft zu reden wußte, war es für mich sehr schwer zu unterscheiden, was an ihren Erzählungen auf Wahrheit beruhte und was Erzeugung einer krankhaft gesteigerten Einbildungskraft war. So war es auch später, wenn ich sie in Sanatorien oder Irrenanstalten besuchte. Dann bekam ich Schilderungen ihrer Umgebung, der Ärzte, Schwestern und Kranken. Meist wünschte sie, daß ich mit dem behandelnden Arzt reden sollte, um ihn in ihrem Sinn zu beeinflussen, gewöhnlich, um ihre Entlassung zu erreichen.
Sobald die Gewalt der Krankheit nachließ, raffte sie sich mit bewundernswertem Lebensmut wieder auf, zeigte die liebevollste Teilnahme für alle, die ihr nahestanden, und begann auch wieder zu arbeiten. Aber die Krankheitsperioden wurden im Lauf der Jahre immer länger und die Anfälle immer heftiger. Nach dem Tode ihrer Mutter brachten die Geschwister sie in dem Krankenstift Scheibe bei Glatz – bei Franziskanerinnen – unter. Sie hielten noch jahrelang ihre Wohnung in Breslau für sie bereit, bis sie schließlich die Hoffnung auf Rückkehr aufgeben mußten.
In der Zeit, in der ich mit meiner Doktorarbeit beschäftigt war, muß es ihr wieder recht gutgegangen sein. Sie las damals einem blinden Philosophiestudenten – Wilhelm Steinberg – regelmäßig vor und brachte auch eine phänomenologische Arbeitsgemeinschaft unter meiner Leitung zustande, an der außer ihr und dem Blinden Rose Guttmann und Dr. Grete Henschel teilnahmen. (Von dieser neuen Bekannten werde ich später noch zu erzählen haben.)
Nach meiner Rückkehr erwartete mich noch eine Nachricht, die mich im Augenblick vielleicht noch härter traf als die Leiden lieber Menschen, die ich eben geschildert habe. Ich war erst wenige Tage daheim, als Nelli Courant mich zu einem Spaziergang abholte. Es wurde ein sehr ausgedehnter Spaziergang, denn sie hatte mir viel zu sagen. Einleitend fragte sie mich, ob ich nicht ahnte, was sie auf dem Herzen hätte. Das würde ihr die Mitteilung sehr erleichtern. Zu meinem Bedauern ahnte ich gar nichts. Ich war wie aus den Wolken gefallen, als sie mir eröffnete, daß sie im Begriff sei, sich von Richard zu trennen. Es folgte nun eine lange Schilderung ihres Zusammenlebens. Schon in den Jahren der Freundschaft vor der Ehe, besonders in dem gemeinsamen Semester in Zürich, hätte es öfters Zusammenstöße gegeben. Als Ehemann sei Richard sehr rücksichtslos gewesen. Er hätte den Verkehr mit seinen Freunden fortgesetzt wie als Junggeselle. Manche von ihnen sagten ihr wenig zu, andererseits hatte ihr Mann meist keinen Gefallen an den Menschen, die sie gern bei sich hatte. Es sei ihm auch nicht recht gewesen, daß sie mich so oft zu Gesellschaften mit einlud. Er hätte gesagt, sie müßten elegante und amüsante Leute bei sich haben, und ich sei weder das eine noch das andere. Natürlich entsprachen auch die Reformkleider seiner Frau seinem Geschmack nicht. Um sie zu ärgern, hätte er manchmal in jüdischem Jargon gesprochen, was sie nicht ausstehen konnte. Er habe ihr die größte Sorge gemacht, indem er aufhörte, ernstlich zu arbeiten. Sie war allmählich zu der Überzeugung gekommen, daß er an seinen Mathematikerberuf nicht mehr glaube. Das Schlimmste aber war die Freundschaft mit einer jungen Mathematikstudentin, seiner Schülerin. Er habe sie oft zum Arbeiten mit nach Hause gebracht, und offenbar seien die Beziehungen sehr intim geworden. Ich kannte Luise Lange vom Sehen recht gut. Sie war ein bildhübsches Persönchen, frisch, lebhaft und sehr begabt. Als Vorsitzende des Studentinnenvereins spielte sie eine gewisse Rolle in der Studentenschaft.
Dieser letzte Punkt auf Nellis langer Anklageliste war der einzige, den ich als schwerwiegend ansehen konnte. Bei den andern war es mir unbegreiflich, daß eine Ehe daran scheitern sollte. Und obwohl es mir sehr wehtat, daß Richard in der Zeit, in der er sich so oft vertrauensvoll mit mir über seine Angelegenheiten beraten hatte, zu andern in unschöner Weise von mir sprach, wußte ich viel zu seiner Verteidigung vorzubringen. Daß er nach seiner ernsten Jugend und den Jahren dauernder Arbeit einmal eine Schonzeit brauchte und sich etwas jugendlichen Lebensgenuß gönnen wollte, schien mir sehr begreiflich. Und vieles, was sie vorbrachte, erschien mir wie die Ungezogenheit eines übermütigen Jungen. Er war ja erst 24 Jahre alt, als er heiratete, und das Übermaß an Arbeit hatte wohl dazu geführt, daß die menschliche Entwicklung mit der wissenschaftlichen nicht Schritt hielt. Nelli führte belastende Äußerungen an, die er selbst über sich getan hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Du darfst dich doch nicht an die Worte halten«, rief ich lebhaft. »Was die Menschen über sich selbst sagen, ist meist nicht maßgebend, und bei ihm ganz gewiß nicht.« »Gerade diese Unwahrhaftigkeit stößt mich ab.« Ich stand vor einer starren Mauer. Aber wenn ich auch ihren merkwürdigen Gedankengängen nicht folgen konnte – Nelli tat mir schrecklich leid. Bisher hatte sie ihrem Vater nichts gesagt. Um seinetwillen hatte sie an Richard ins Feld geschrieben. Ja, als er verwundet nach Essen ins Lazarett gebracht wurde, hatte sie ihn dort besucht. Aber gerade dabei sei es ihr klar geworden, daß sie das Zusammenleben nicht mehr auf sich nehmen könne. Nun müsse sie ihrem Vater anvertrauen, daß die Ehe, zu der er so lange seine Zustimmung verweigert hatte, gescheitert sei. Sie hätte ihm diesen Schmerz so gern erspart, aber nun war es nicht mehr zu verheimlichen.
Ich sah Justizrat Neumann bald, nachdem er alles gehört hatte. Es traf ihn sehr hart, und man merkte ihm die Empörung über den Mann an, der sein geliebtes einziges Kind unglücklich gemacht hatte. Sofort nahm er die Sache in die Hand und leitete den Scheidungsprozeß ein. Dabei zeigte sich aber seine gütige und vornehme Natur. Er legte mir seine Briefe an meinen Vetter vor, ehe er sie abschickte, damit nichts Kränkendes darin stehen bliebe. Ich kam in diesen Monaten öfters mit ihm und mit Nelli zusammen. Sie verkehrte weiter als Verwandte bei uns und erzählte ihre Geschichte auch meiner Mutter und unserer lieben Tante Mika – den beiden Menschen, die Richard am meisten aus der ganzen Familie schätzte. Wir wurden alle dadurch etwas gegen ihn eingenommen, wenn auch die Stimme des Herzens immer wieder für ihn sprach.
2.
In dieser Zeit, in der so viel Menschliches auf mich eindrang und mich im Innersten traf, nahm ich doch meine ganze Kraft zusammen, um die Arbeit ins Dasein zu fördern, die mir nun schon über zwei Jahre als schwere Last auf der Seele lag. Wenn ich in Weißkirchen in dem dicken Stoß von Auszügen und Entwürfen geblättert hatte, war mir immer recht bange geworden. Und der schreckliche Winter 1913/14 war noch unvergessen. Jetzt legte ich entschlossen alles beiseite, was aus Büchern stammte, und fing ganz von vorn an: eine sachliche