Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein

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Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften - Edith  Stein


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geneckt), ging ich unverzüglich an die Doktorarbeit. Ich blieb dazu in Breslau, um jederzeit für eine Abberufung verfügungsbereit zu sein. Es war mir aber auch angenehm, ganz allein und unbeeinflußt zu arbeiten, ohne jede Unterbrechung durch unerwünschte Rechenschaftsberichte an den Meister. Die Beziehung zu ihm hatte durch die Entfernung nicht gelitten, sie war sogar noch wärmer und herzlicher geworden. Er, der seine beiden jungen Söhne in das Göttinger Freiwilligenregiment hatte gehen lassen, war auch voll Verständnis für meinen Entschluß zu pflegen. Er begleitete meine Tätigkeit mit der herzlichsten Teilnahme, schrieb mir lange Briefe in seiner schönen, feinen und sorgfältigen Handschrift und hatte die größte Freude an meinen Berichten. Es rührte ihn auch, daß ich in seinem Heimatland Mähren war. Gleich anfangs erkundigte er sich, ob ich von Weißkirchen aus den Altvater sehen könnte, der ihm von seinem Geburtsort Proßnitz her vertraut war. Natürlich war es für mich immer ein Fest, wenn ein Brief des Meisters kam. Ich war ganz betrübt, als ich einmal feststellen mußte, daß einer verlorengegangen war. Er war so lieb, sich nach einiger Zeit besorgt zu erkundigen, wie es mir ginge, da er keine Antwort bekommen hätte. Auch der Verkehr mit den Freunden im Feld ging weiter. Wie freute es mich, als Reinach schrieb: »Liebe Schwester Edith! Jetzt sind wir Kriegskameraden…«

      Die längsten Briefe kamen von Kaufmann. Für ihn war der Kriegsdienst am härtesten. Trotzdem er sicherlich alle Pflichten mit der größten Gewissenhaftigkeit erfüllte, brachte er es niemals weiter als bis zum Gefreiten, während Reinach ziemlich schnell vom einfachen Kanonier bis zum Leutnant aufstieg. Außerdem fühlte er sich außerhalb des geistigen Milieus wurzellos. Gerade weil er als Philosoph, und besonders als Phänomenologe, noch nicht sicher gewesen war, fürchtete er durch die lange Unterbrechung des Studiums, alles zu verlieren. Darum bot ihm die Verbindung mit mir einen Halt, für den er überaus dankbar war. Husserls großes Logik-Kolleg, das ich im ersten Kriegswinter hörte und das ihm noch unbekannt war, schrieb ich sorgfältig mit und ließ dann mein Kollegheft für ihn abtippen. Meine Schwester Frieda war zu solcher Arbeit stets bereit. Dieses Geschenk beglückte Kaufmann so, daß nicht nur er selbst mir dankte, sondern auch seine einzige Schwester Marta, die offenbar mit großer Liebe an ihrem ältesten Bruder hing. Sie hielt die briefliche Verbindung mit mir jahrelang aufrecht; gesehen haben wir uns nie, und nach ihrer Verheiratung schlief auch der Briefwechsel ein. Den äußersten Gegensatz zu Kaufmann bildete Hans Lipps. Ihm war die gewöhnliche bürgerliche Ordnung eine Zwangsjacke, die er mit Freuden abgeworfen hatte. Das Unberechenbare des Kriegslebens entsprach ihm so sehr, daß er einmal während eines Urlaubs sagte: »Was fang' ich nur an, wenn mal der Frieden ausbricht?« Sein Verhältnis zur Philosophie war ein so organisches, daß keine Umgebung und keine fremde Beschäftigung es stören konnte. Wie er es sich leisten konnte, Naturwissenschaften und Medizin zu studieren und zeitweise als Arzt tätig zu sein, ohne daß seine philosophische Entwicklung darunter litt, so konnte er im Unterstand ebenso gut arbeiten wie bei der Musik eines Cafés oder Tanzlokals in Göttingen oder Dresden. Seine Briefe enthielten meist nur wenige Sätze; in seiner großen Handschrift – für Unkundige nicht zu entziffern, aber jeder Buchstabe ein Ornament – gab das doch einen vollen Bogen. Husserl sagte, es stünde nichts darin. Tatsächlich war nichts über die Kriegslage daraus zu entnehmen. Aber mir bedeuteten die wenigen Worte viel: Sie gaben immer ein treues Bild seines Daseins. Bald erzählte er von einer Grille, die in der Nähe seines Unterstands wohnte und mit der er seine Pralinés teilte; bald von dem Käuzchen, das er sich in einer Kirche gefangen hatte; er nannte es Rebekka und behielt es lange Zeit bei sich. Es war ein Ersatz für den Steinkauz Caruso, den er bei seiner Mutter in Dresden zurückgelassen hatte. Frau Lipps fütterte ihn, wie es ihr aufgetragen war, mit Kanarienvögeln. Als sie keine mehr bekommen konnte, entschloß sie sich schweren Herzens, ihn auszusetzen. Sie fuhr in einer Taxe mit Caruso in die Dresdner Heide und ließ ihn dort zurück, besuchte ihn aber noch manchmal später. Mit einem Feldpostpäckchen konnte man Lipps glücklich machen. Er schrieb einmal: »Sie haben eine unerhörte Treffsicherheit im Herausfinden dessen, was ich gerade nötig habe.« Das waren sehr verschiedene Dinge: mal ein japanischer Holzschnitt, mal ein paar Abhandlungen über Relativitätstheorie, öfters nur gute Pralinés oder andere Süßigkeiten.

      Auch in Breslau fehlte es nicht an freundschaftlichem Verkehr. Rose und Metis hatten nun auch ihr Staatsexamen gemacht und traten beide sofort in den Schuldienst ein. Erna siedelte damals aus der Frauenklinik für einige Zeit in das Städtische Säuglingsheim über, um sich dort als Assistentin die nötige Erfahrung in Säuglingspflege anzueignen. Von Lilli habe ich nicht mehr genau in Erinnerung, ob sie noch in der Frauenklinik war oder schon im Jüdischen Krankenhaus. Dort war sie jahrelang tätig, zuletzt sogar als Oberarzt der Frauenabteilung; ihr späterer Gatte arbeitete als Assistent unter ihr. Ihre Tüchtigkeit und herzliche Liebenswürdigkeit verschafften ihr großes Ansehen in den wohlhabenden jüdischen Kreisen, und das war eine vorzügliche Grundlage für ihre spätere Privatpraxis im Süden der Stadt.

      Öfters führte mich auch der Weg, wie ich früher schon erzählte, in die Irrenanstalt in der Einbaumstraße, wo Dr. Moskiewicz als Oberarzt tätig war. In den ersten Kriegsjahren ging es noch ganz gut, aber allmählich wurde sein Zustand immer betrüblicher und darum auch der Verkehr mit mir immer quälender. Er wünschte die Zusammenkünfte, um von mir zu lernen, aber zugleich fürchtete er sie, weil sie ihm sein eigenes Unvermögen immer wieder klarmachten. Je länger ihn die ärztliche Tätigkeit von der philosophischen und psychologischen Arbeit fernhielt, desto weniger hoffte er, je dahin zurückzufinden. Der aufreibende Verkehr mit den Geisteskranken tat das Seine, um die Nervenzerrüttung immer mehr zu steigern. Sehr viel schrieb ich aber auch dem Verhältnis zu Rose zu, die er liebte und der er doch seine Hand nicht anzubieten wagte. Auch sie litt darunter: unter seinem Unglück und ihrer eigenen inneren Unklarheit und Unsicherheit. Sie glaubte ihn zu lieben, aber sie hatte nicht den Mut, dem Schwanken und Zögern von sich aus ein Ende zu machen. In den letzten Jahren nahm sie auch eine sehr nahe Freundschaft mit einem jungen Mathematiker innerlich stark in Anspruch.

      Sehr Trauriges erlebten wir mit unserer Freundin Toni Meyer. Sie entschloß sich, den Winter 1914/15 nach München zu gehen, da sie sich von Göttingen in Reinachs Abwesenheit nicht so viel für sich versprach. Seinen Vorlesungen hatte sie sehr viel besser folgen können als Husserls. Nun erhoffte sie von den Münchener Phänomenologen Pfänder und Geiger besondere Förderung. Beide zogen sie durch ihre Beschäftigung mit psychologischen Problemen an. Ihre Arbeiten in der Lipps-Festschrift und in Husserls Jahrbuch hatte sie gründlich gelesen und gut verstanden. Ihre Erwartungen wurden auch nicht enttäuscht, aber mitten im Semester kam ein Anfall ihrer alten Krankheit und zwang sie heimzukehren. Bei einem zweiten Versuch kam der Ausbruch noch schneller. Nun lernte ich ihre Krankheit näher kennen. Die Ärzte behandelten diese als manisch-depressives Irresein. In Erregungszuständen habe ich Toni damals noch nicht zu sehen bekommen, wohl aber in der Depression, die gewöhnlich darauf folgte. Sie lag dann meist im Bett, fühlte sich unfähig zu gehen oder etwas zu arbeiten, und während sie sonst voll herzlicher Anteilnahme war und keine größere Freude kannte, als sich bis ins Kleinste von meinen Angelegenheiten erzählen zu lassen, kreisten in solchen Zeiten ihre Gedanken nur um das eigene Ich.

      Wenn der tiefste Punkt überwunden war, konnte sie genaue Schilderungen ihrer krankhaften Zustände geben, ja sie hatte sogar mit Hilfe von Pfänders psychologischen Kategorien eine Analyse ihrer Depression geschrieben, die er für sehr wertvoll hielt. Zu mir hatte sie rückhaltloses Vertrauen, verlangte auch in den Zeiten der Krankheit immer nach mir, während sie ihre Angehörigen dann nicht sehen mochte; und so bekam ich allmählich ihre ganze Krankheitsgeschichte zu hören. Berichte ihrer Mutter ergänzten und bestätigten ihre eigenen. Der erste Ausbruch kam, als sie sechzehn Jahre alt war. Sie besuchte damals die Tanzstunde und gewann einen der Teilnehmer lieb. Nach ihrer Erzählung war es ein stiller und schüchterner Mensch, der ihre Neigung erwiderte, es aber nicht zu äußern wagte. Sie glaubte ihn einmal durch ein paar beleidigende Worte verletzt und dadurch ihr Lebensglück verscherzt zu haben. Von einer Besuchsreise zu Verwandten in Gleiwitz kam sie im Erregungszustand zurück, und seitdem wiederholten sich die Anfälle in kürzeren oder längeren Abständen. Der junge Mann hatte Jura studiert und war zu der Zeit, als ich die Geschichte hörte, Amtsrichter in Schlesien und noch unverheiratet, obgleich seit jenem Ereignis zwanzig Jahre vergangen waren. Toni glaubte, daß er seiner ersten Liebe treugeblieben sei. Aber etwas später wurde er nach Breslau versetzt und heiratete. In gesunden Zeiten sprach Toni nicht von ihm, und ihre


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