Anne in Ingleside. Lucy Maud Montgomery

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Anne in Ingleside - Lucy Maud Montgomery


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doch nur bedeuten, daß Mama tot war!

      Er stolperte den Weg hinauf bis zur Eingangstür. Sie war verschlossen. Er klopfte kaum hörbar an – der Türklopfer war zu hoch für ihn. Es kam keine Antwort. Er lauschte… nicht ein Lebenszeichen drang aus dem Haus. Nun wußte er, daß Mama tot war und alle fortgegangen waren.

      Doch er war zu durchgefroren und zu erschöpft, um noch weinen zu können; er kroch in die Scheune und kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf. Die Angst war vorbei: er wollte sich nur noch hinlegen, bis zum nächsten Morgen. Vielleicht würde ja jemand zurückkommen.

      Eine kleine Tigerkatze kam schnurrend herbei, und Walter drückte sie freudig an sich. Sie war so warm und lebendig. Aber als sie auf dem Boden Mäuse herumtrappeln hörte, sprang sie weg. Der Mond schaute durch das Fenster und durch die Spinngewebe auf ihn herab, aber er war so weit weg, so kalt und so unfreundlich. Das Licht, das Walter irgendwo in einem der Häuser brennen sah, kam ihm dagegen wie ein guter Freund vor. Solange dieses Licht brannte, konnte er durchhalten.

      Aber schlafen konnte er nicht. Sein Knie schmerzte zu sehr, und er fror… dazu dieses komische Gefühl im Bauch. Vielleicht mußte er sterben. Hoffentlich mußte er sterben, wo doch auch die anderen tot oder fortgegangen waren. Ging denn die Nacht nie zu Ende? Bis jetzt war doch noch jede Nacht zu Ende gegangen!

      Dann ging auch das Licht in der Ferne aus. Aber als Walter vor Verzweiflung losschreien wollte, stellte er fest, daß es Tag war.

      Kapitel 10

      Steifbeinig kletterte Walter die Leiter hinunter und verließ die Scheune. Ingleside lag eingehüllt in das Licht der frühen Morgendämmerung, und am Horizont zeichnete sich ein schwacher, rosaroter Schein ab. Ihm fiel mit einemmal ein, daß vielleicht die Seitentür nicht abgeschlossen war, Susan ließ sie manchmal offen für Papa.

      Die Tür war tatsächlich offen, und er schlüpfte erleichtert in den Flur. Lautlos schlich er die ersten Stufen der Treppe hinauf. Er wollte nur noch in sein Bett. In seiner Müdigkeit gab er nicht acht und trat plötzlich fest auf etwas Weiches. Es war Krabbe, der auf der Treppe schlief. Sein lautes Schmerzensgeheul durchdrang das ganze Haus.

      Sofort schreckte Susan, die gerade dabei gewesen war einzuschlafen, hoch. Erschöpft von dem anstrengenden Tag war sie erst um zwölf Uhr ins Bett gegangen, aber um drei plötzlich aufgewacht, weil sie dachte, es hätte jemand nach ihr gerufen. Sie war aufgestanden und zu Annes Zimmer geschlichen. Aber dort war alles ruhig, sie konnte Annes ruhige, gleichmäßige Atemzüge hören. Susan machte daraufhin eine Runde durchs Haus und ging dann wieder ins Bett. Sie hatte wohl nur schlecht geträumt.

      Doch dann glaubte Susan plötzlich, Walter zu hören, und stand noch einmal auf. In Ingleside schien es in dieser Nacht wirklich zu spuken. Susan hatte nur ein Nachthemd an, in dem sie äußerst merkwürdig aussah, weil es beim Waschen schon mehrmals eingelaufen war. Aber der armen, zitternden Gestalt, die plötzlich vor ihr auf dem Treppenabsatz stand und sie erschrocken anstarrte, erschien sie wie ein Geschenk des Himmels.

      „Walter Blythe!“

      Susan eilte auf ihn zu und nahm ihn fest in die Arme.

      „Susan, ist… ist Mama tot?“ fragte Walter verzweifelt.

      Und plötzlich sah die Welt wieder ganz anders aus. Ehe er sich’s versah, hatte Susan ein Feuer entfacht, ihm heiße Milch, Toast und einen ganzen Teller voll mit seinen Lieblingsplätzchen zubereitet und ihn dann mit einer Wärmflasche ins Bett gesteckt. Was für ein wunderbares Gefühl, so umsorgt und geliebt zu werden!

      „Und du bist ganz sicher, Susan, daß Mama nicht tot ist?“

      „Deine Mutter schläft, und sie ist ganz gesund und glücklich, mein Lämmchen.“

      „War sie denn überhaupt nicht krank? Opal hat gesagt…“

      „Es stimmt, daß sie sich gestern nicht besonders wohl gefühlt hat, aber das ist jetzt vorbei. In Lebensgefahr war sie jedenfalls nicht. Schlaf du nur erst, dann wirst du sie sehen – sie und noch was anderes. Na warte, wenn ich diese kleinen Satansbraten zwischen die Finger kriege! Kaum zu glauben, daß du den ganzen Weg von Lowbridge bis hierher gelaufen bist. Sechs Meilen! Und das in dieser kalten Nacht!“

      „Schlimmste Seelenqualen hab ich erduldet, Susan“, verkündete Walter mit ernster Stimme. Aber jetzt war alles vorbei; er war wohlauf und glücklich; er war zu Hause… er war…

      Er war eingeschlafen.

      Als er aufwachte, war es fast Mittag. Die Sonne schien hell herein, und er ging gleich ins Zimmer seiner Mutter. Jetzt kam es ihm dumm vor, daß er von Lowbridge weggelaufen war, und Mama war deswegen vielleicht böse mit ihm. Aber sie legte statt dessen den Arm um seine Schulter und drückte ihn fest an sich. Sie hatte alles von Susan erfahren.

      „O Mami, du darfst nicht sterben … und du hast mich doch noch lieb, ja?“ fragte Walter und hielt sie fest umarmt.

      „Ich habe nicht vor zu sterben, mein Schatz, und ich hab dich ganz schrecklich lieb. Wenn ich daran denke, daß du die ganze Nacht durchgelaufen bist!“ Anne schüttelte den Kopf.

      „Ganz schön mutig, unser kleines Kerlchen“, lachte Papa, der gerade mit Shirley auf der Schulter hereinkam. Er streichelte Walters Kopf und drückte seine Hand fest an sich. So einen Papa gab es bestimmt nicht noch mal auf der Welt! Aber was für Ängste Walter ausgestanden hatte, das brauchte niemand zu wissen.

      „Mami, ich brauche nie wieder von zu Hause fortzugehen, nicht wahr?“ fragte er inständig.

      „Nein, es sei denn, du willst es selbst“, versprach Anne.

      „Das werde ich nie..“ Walter hielt mitten im Satz inne. Wenn er es sich recht überlegte, hätte er nichts dagegen gehabt, Alice wiederzusehen.

      „Schau mal her, mein Schatz“, sagte Susan und führte eine junge Dame mit weißer Schürze und weißer Haube herein, die ein Körbchen trug.

      Walter sperrte die Augen auf. Ein Baby! Ein knuddeliges kleines Baby mit seidigen Löckchen und den allerliebsten winzigen Händchen. Er konnte nur staunen.

      „Ist es nicht hübsch?“ fragte Susan stolz. „Sieh doch mal diese Wimpern. Ich hab noch nie ein Baby mit so langen Wimpern gesehen. Und seine hübschen kleinen Ohren! Auf die Ohren achte ich immer als erstes.“ Sie strahlte.

      Walter zögerte. „Es ist süß, Susan…“, sagte er dann stockend. „Sieh mal, was es für winzige runde Zehen hat! Aber… ist es nicht ein bißchen sehr klein?“

      Susan lachte nur. „Na, immerhin wiegt es acht Pfund. Und es guckt schon richtig um sich. Es war noch nicht mal eine Stunde auf der Welt, da hat es schon den Kopf gehoben und seinen Papa richtig angesehen. So was hab ich noch nie zuvor erlebt.“

      „Es wird wohl rote Haare kriegen“, sagte Gilbert zufrieden. „Schöne rotgoldene Haare wie seine Mutter.“ Er gab Anne einen Kuß.

      „Und braune Augen wie sein Vater“, fügte Anne freudestrahlend hinzu.

      „Schade, daß keiner von uns gelbe Haare hat“, meinte Walter träumerisch und dachte dabei an Alice.

      „Es sieht so niedlich aus, wenn es schläft“, schwärmte auch die Krankenschwester. „Noch nie habe ich ein Baby gesehen, das die Augen beim Einschlafen so niedlich zusammenkneift.“

      „Ja, es ist wie ein kleines Wunder. Alle unsere Babys waren süß, Gilbert, aber das hier ist das süßeste von allen“, sagte Anne glücklich.

      „Du lieber Gott, Annie“, bemerkte Tante Mary Maria naserümpfend, die eben eintrat, „es gibt schließlich noch mehr Babys auf der Welt.“

      „Aber keins ist wie unser Baby, Tante Mary Maria“ sagte Walter stolz. „Susan, darf ich ihm ein Küßchen geben, nur ein einziges, bitte?“ Er beugte sich über den Rand des Körbchens.

      „Jaja, das darfst du“, sagte Susan, während sie Tante Mary Maria im Auge behielt, die sich gerade zurückzog. „So, und jetzt backe ich erst mal einen ordentlichen Kirschkuchen. Gestern hat sich Mary Maria Blythe daran versucht, den sollten Sie mal sehen, liebe Frau Doktor. Der sieht aus wie irgend so ein Dingsbums, das die


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