Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.Pech! Ich hatte gedacht, ich würde hier Geld kriegen!« rief der junge Mann.
»Natürlich müssen wir wieder abziehen. Aber warum hat sie mich denn herbestellt? Die alte Hexe hat mir diese Zeit selbst angegeben. Ich habe einen weiten Umweg deswegen gemacht. Und ich begreife gar nicht, wo sie sich herumtreibt, zum Teufel! Das ganze Jahr sitzt sie zu Hause, die Hexe, hockt auf einem Fleck, klagt, daß ihr die Beine weh tun, und nun auf einmal geht sie spazieren!«
»Ob wir mal den Hausknecht fragen?«
»Wonach?«
»Wo sie hingegangen ist und wann sie wiederkommt.«
»Hm! … Hol’s der Teufel! … Können ja mal fragen … Aber sie geht doch sonst nirgends hin …«, und er riß noch einmal an der Türklinke. »Zum Teufel, nichts zu machen! Gehen wir wieder!«
»Warten Sie mal!« rief der junge Mann plötzlich. »Sehen Sie nur einmal her! Sehen Sie wohl, wie die Tür ein bißchen aufgeht, wenn man zieht?«
»Na, und?«
»Also ist sie nicht zugeschlossen, sondern es ist innen der Riegel vorgelegt! Hören Sie wohl, wie der Riegel klappert?«
»Na, und?«
»Begreifen Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn beide ausgegangen wären, so wäre von außen zugeschlossen und nicht von innen der Riegel vorgelegt. Aber hier – hören Sie wohl, wie der Riegel klappert? Um von innen den Riegel vorzulegen, muß man doch zu Hause sein; ist Ihnen das klar? Also sitzen sie zu Hause und machen nicht auf.«
»Donnerwetter, das ist wahr!« rief Koch erstaunt. »Aber was machen die denn da nur?«
Er rüttelte wütend an der Tür.
»Warten Sie mal!« rief wieder der junge Mann. »Reißen Sie nicht an der Tür! Hier ist etwas nicht in Ordnung … Sie haben ja schon geklingelt und an der Tür gerüttelt, und es ist nicht geöffnet worden; also sind die beiden entweder ohnmächtig oder …«
»Oder was?«
»Wissen Sie was? Wir wollen den Hausknecht holen; mag der sie selbst aufwecken.«
»Gut, tun wir das!«
Sie schickten sich beide an, hinunterzugehen.
»Warten Sie einmal! Bleiben Sie lieber hier, und ich will hinunterlaufen und den Hausknecht holen.«
»Warum soll ich hierbleiben?«
»Man kann nicht wissen …«
»Meinetwegen.«
»Ich studiere ja Jura und will einmal Untersuchungsrichter werden. Hier ist offenbar, of-fen-bar etwas nicht in Ordnung!« sagte der junge Mann, vor Eifer brennend, und lief schnell die Treppe hinunter.
Koch blieb zurück und zog noch einmal ganz sachte an der Klingel; diese schlug nur mit einem einzigen Ton an. Dann begann er leise, als wenn er überlegte und untersuchte, die Türklinke zu bewegen, indem er damit die Tür zu sich heranzog und wieder zurückfahren ließ, um sich nochmals zu vergewissern, daß nur der Riegel vorgelegt sei. Dann bückte er sich keuchend und blickte durch das Schlüsselloch; aber in diesem steckte von innen der Schlüssel, und es war somit nichts zu sehen.
Raskolnikow stand da und preßte die Hand um den Beilstiel; es war ihm, als hätte er Fieber. Er bereitete sich sogar auf einen Kampf mit ihnen vor, wenn sie hereinkämen. Während sie an der Tür gerüttelt und sich miteinander besprochen hatten, war ihm einige Male der Gedanke gekommen, der ganzen Geschichte schnell ein Ende zu machen und sie durch die Tür anzurufen. Dann wieder hatte es ihn gelüstet, sie so lange auszuschimpfen und zu höhnen, bis sie die Tür würden aufbekommen haben. ›Wenn es nur bald soweit wäre!‹ dachte er einen Augenblick.
»Zum Teufel! Der kommt ja aber auch gar nicht wieder!«
Die Zeit verging, eine Minute nach der andern; niemand kam. Koch bewegte sich unruhig hin und her.
»Hol’s der Teufel!« rief er endlich ungeduldig, verließ seinen Posten und ging gleichfalls nach unten. Eilig polterten seine Stiefel auf der Treppe; dann verhallten seine Schritte.
›Mein Gott, was soll ich tun?‹
Raskolnikow löste den Riegel und öffnete die Tür ein wenig; es war nichts zu hören. Ohne etwas dabei zu denken, trat er hinaus, drückte die Tür hinter sich möglichst fest heran und stieg die Treppe hinunter.
Er war bereits auf der Treppe vom zweiten zum ersten Stockwerk, als plötzlich unten ein gewaltiger Lärm entstand. Wo sollte er nun bleiben? Verstecken konnte er sich nirgends; er wollte schon wieder zurück, in die Wohnung der Alten.
»Warte, du Kanaille, du Schuft! Halt ihn auf!«
Mit diesem Geschrei stürzte jemand weiter unten aus einer Wohnung heraus und lief, oder richtiger: fiel die Treppe hinunter, wobei er fortwährend aus vollem Halse schrie:
»Mitjka, Mitjka, Mitjka, Mitjka, Mitjka! Der Teufel soll dich holen!«
Das Geschrei endete mit einem wilden Gekreische; die letzten Töne kamen schon vom Hofe her; dann war alles still. Aber in demselben Augenblicke begannen mehrere Menschen, die laut und eifrig miteinander sprachen, geräuschvoll die Treppe heraufzusteigen; es mochten ihrer drei oder vier sein. Raskolnikow unterschied die wohlklingende Stimme des jungen Mannes. ›Das sind sie!‹
In heller Verzweiflung ging er ihnen geradezu entgegen: mochte werden, was da wollte! Wenn sie ihn anhielten, so war alles verloren, ließen sie ihn vorbei, so war auch alles verloren, da zu erwarten war, daß sie ihn später wiedererkennen würden. Sie waren einander bereits ziemlich nahegekommen; zwischen ihnen war nur noch eine Treppe – da auf einmal zeigte sich die Möglichkeit einer Rettung. Nur wenige Stufen von ihm entfernt auf der rechten Seite, stand die Tür zu einer leerstehenden Wohnung weit offen, zu eben der Wohnung im ersten Stockwerk, in der die Maler gearbeitet hatten und die sie durch ein seltsames Zusammentreffen der Umstände gerade jetzt verlassen hatten. Das waren offenbar die Leute gewesen, die soeben mit solchem Geschrei davongerannt waren. Die Dielen waren frisch gestrichen; mitten im Zimmer stand ein kleiner Eimer und ein Schälchen mit Farbe und einem Pinsel. In einem Nu schlüpfte er durch die offene Tür hinein und verbarg sich hinter der Wand; es war die höchste Zeit gewesen: sie standen schon auf dem Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach der weiter hinaufführenden Treppe und gingen in lautem Gespräche vorüber, nach dem dritten Stockwerke hinauf. Er wartete das ab, ging auf den Zehen hinaus und lief die Treppe hinunter.
Auf der Treppe war niemand; auch im Torwege nicht. Schnell ging er hindurch und bog links in die Straße ein. Er wußte sehr wohl, daß sie in diesem Augenblicke bereits in der Wohnung waren, daß sie sich höchlichst wunderten, sie offen zu finden, während sie doch eben noch zugesperrt gewesen war, daß sie schon die Leichen betrachteten und daß sie in weniger als einer Minute erraten und kombiniert haben würden, daß der Mörder noch soeben dagewesen sei und eine Möglichkeit gefunden habe, sich irgendwo zu verstecken, an ihnen vorbeizuschlüpfen und zu entfliehen; sie mochten auch vielleicht erraten, daß er in der leerstehenden Wohnung gesteckt hatte, während sie daran vorbei hinaufgingen. Aber trotzdem durfte er unter keiner Bedingung wagen, sein Tempo stark zu beschleunigen, obgleich er bis zur nächsten Straßenecke noch gegen hundert Schritte hatte. ›Ob ich wohl in einen Torweg hineinschlüpfe und auf einer fremden Treppe warte? Nein, das ist zu gefährlich! Ob ich das Beil von mir werfe? Ob ich eine Droschke nehme? Zu gefährlich, zu gefährlich!‹
Endlich kam die Querstraße; er bog in sie ein, mehr tot als lebendig. Hier war er schon zur Hälfte gerettet, und er war sich dessen bewußt. Hier war der Verdacht geringer, und außerdem herrschte hier ein starker Verkehr, und er verschwand darin wie ein Sandkorn. Aber alle diese Qualen hatten seine Kraft derart erschöpft, daß er sich kaum mehr rühren konnte. Der Schweiß rann ihm in dicken Tropfen herunter; der Hals war ihm davon ganz feucht. »Na, du hast dich aber gehörig vollgesoffen!« rief ihm einer zu, als er an den Kanal gelangte.
Er konnte seine Gedanken kaum noch zusammenhalten; je weiter er ging, um so schlimmer wurde es. Er erinnerte sich aber später, daß er einen großen Schreck bekommen hatte, als er zum Kanal kam, weil hier weniger Menschen waren und er somit leichter auffallen konnte, und daß er nahe daran gewesen war, wieder