Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.Wichtigkeit gewonnen! …
Im Korridor trafen sie mit Lushin zusammen: er war pünktlich um acht Uhr gekommen und suchte nun die Zimmernummer, so daß sie alle drei gleichzeitig eintraten, aber ohne einander anzusehen und zu begrüßen. Die beiden jungen Männer gingen voran; Pjotr Petrowitsch dagegen, der immer den Anstand wahrte, verweilte noch einen Augenblick im Vorzimmer und legte dort seinen Überzieher ab. Pulcheria Alexandrowna ging sogleich hinaus, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.
Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen sehr artig, aber mit ganz besonders gemessenem Wesen. Es machte den Eindruck, als ob er einigermaßen überrascht wäre und sich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls verlegen schien, forderte eilfertig alle auf, an dem runden Tische, auf dem der Samowar summte, Platz zu nehmen. Dunja und Lushin setzten sich einander gegenüber; Rasumichin und Raskolnikow kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu sitzen, und zwar Rasumichin näher an Lushin, Raskolnikow neben seiner Schwester.
Einen Augenblick schwiegen alle. Pjotr Petrowitsch zog langsam sein batistenes, parfümiertes Taschentuch heraus und benutzte es mit der Miene eines edlen, tugendhaften Menschen, der sich in seiner Würde etwas gekränkt fühlt und fest entschlossen ist, eine Erklärung zu verlangen. Als er noch im Vorzimmer war, war ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht das beste sei, den Überzieher gar nicht auszuziehen, sondern wieder fortzugehen und dadurch die beiden Damen in strenger, nachdrücklicher Weise zu bestrafen, damit sie gleich mit einem Male seinen ganzen Unwillen zu fühlen bekämen. Aber er hatte sich doch nicht dazu entschließen können. Außerdem war er kein Freund unklarer Situationen, und hier mußte etwas klargestellt werden: wenn sein Befehl so offenkundig mißachtet worden war, so steckte gewiß etwas Besonderes dahinter; mithin war es das beste, dies zunächst in Erfahrung zu bringen; zur Bestrafung würde immer noch Zeit sein; das hatte er ja in der Hand.
»Ich hoffe, Ihre Reise ist glücklich vonstatten gegangen?« wandte er sich in förmlichem Tone an Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«
»Das freut mich sehr. Und Sie sind auch nicht zu sehr davon angegriffen, Awdotja Romanowna?«
»Ich bin jung und kräftig; mich greift so etwas nicht an; aber meiner Mama ist es recht schwer geworden«, antwortete Dunja.
»Was ist da zu machen? Die Entfernungen bei uns zulande sind eben gar zu groß. Groß ist unser sogenanntes Mütterchen Rußland. Ich konnte es beim besten Willen gestern leider nicht ermöglichen, Sie auf dem Bahnhofe zu empfangen. Ich hoffe indes, daß sich alles ohne besondre Schwierigkeiten erledigt hat?«
»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr mutlos«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna mit besondrer Betonung zu erwidern, »und wenn uns nicht Gott selbst, möchte ich meinen, in Dmitrij Prokofjitsch einen Helfer gesandt hätte, so wären wir ganz verloren gewesen. Hier: Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin«, stellte sie ihn Herrn Lushin vor.
»Jawohl, ich hatte bereits das Vergnügen, … schon gestern«, murmelte Lushin, indem er jenem einen schrägen, feindseligen Blick zuwarf; dann machte er ein finsteres Gesicht und schwieg.
Überhaupt gehörte Pjotr Petrowitsch allem Anscheine nach zu den Leuten, die sich in Gesellschaft äußerst liebenswürdig benehmen und auch als sehr liebenswürdig anerkannt zu werden beanspruchen, die aber, sobald nur etwas nicht nach ihrem Wunsche ist, sogleich alle ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten verlieren und dann eher Mehlsäcken gleichen als gewandten Kavalieren, die eine Gesellschaft zu beleben verstehen. Alle waren wieder stumm: Raskolnikow schwieg hartnäckig; auch Dunja wollte nicht vor der Zeit das Schweigen brechen; Rasumichin hatte keinen Anlaß zu sprechen; so wurde denn Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig.
»Marfa Petrowna ist gestorben; haben Sie davon gehört?« begann sie, indem sie wieder zu ihrem besten Gesprächsthema ihre Zuflucht nahm.
»Gewiß habe ich es erfahren. Ich wurde sofort davon benachrichtigt und bin sogar jetzt hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow unmittelbar nach der Beerdigung seiner Gemahlin eiligst nach Petersburg gereist ist. Wenigstens besagen das die sehr genauen Nachrichten, die ich erhalten habe.«
»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja beunruhigt und wechselte einen Blick mit ihrer Mutter.
»Ganz richtig, und selbstverständlich nicht ohne besondre Absichten, wie man sich das leicht denken kann, wenn man die Eilfertigkeit seiner Abreise und überhaupt die vorangegangenen Umstände in Erwägung zieht.«
»Mein Gott! Will er denn Dunjetschka nicht einmal hier in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna.
»Mir scheint, zu besondrer Beunruhigung ist kein Anlaß, weder für Sie noch für Awdotja Romanowna, vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht selbst mit ihm in irgendwelche Beziehungen zu treten wünschen. Was mich anbetrifft, so werde ich ihn beobachten und jetzt zunächst ausfindig zu machen suchen, wo er Quartier genommen hat.«
»Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie glauben gar nicht, wie Sie mich durch diese Nachricht erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir entsetzlich, geradezu entsetzlich! Ich bin überzeugt, daß er die Schuld an dem Tode der seligen Marfa Petrowna trägt.«
»Zu einem abschließenden Urteile kann man darüber nicht kommen, obwohl ich recht genaue Nachrichten habe. Ich bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge durch die sozusagen seelische Wirkung der Beleidigung beschleunigt hat; was aber das Betragen dieses Mannes und überhaupt seinen sittlichen Charakter betrifft, so stimme ich Ihnen durchaus bei. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und wieviel ihm Marfa Petrowna eigentlich hinterlassen hat; darüber werde ich in kürzester Frist orientiert sein; aber wenn er nur einigermaßen über Geldmittel verfügt, so wird er sicher hier in Petersburg sofort wieder sein altes Leben anfangen. Er ist das verkommenste, lasterhafteste Subjekt unter dieser ganzen Menschenklasse! Ich habe schwerwiegende Gründe zu der Annahme, daß Marfa Petrowna, die vor acht Jahren das Unglück hatte, sich heftig in ihn zu verlieben, und ihn vom Schuldgefängnis loskaufte, ihm auch in andrer Hinsicht einen großen Dienst geleistet hat: es wurde nämlich einzig und allein infolge ihrer Bemühungen und der von ihr gebrachten Opfer ein Kriminalprozeß in seinen ersten Anfängen unterdrückt, bei welchem es sich um einen bestialischen und sozusagen exzentrischen Mord handelte, für den er recht wohl hätte nach Sibirien spazieren können. So ein Mensch ist das, wenn es Sie interessiert.«
»Ach Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.
Raskolnikow hatte aufmerksam zugehört.
»Ist das auch wahr, daß Sie darüber zuverlässige Nachrichten haben?« fragte Dunja streng und nachdrücklich.
»Ich erzähle nur wieder, was ich selbst unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese Sache vom juristischen Standpunkte aus recht dunkel ist. Hier lebte und lebt auch wohl noch eine gewisse Frau Rößlich, eine Ausländerin, die in kleinem Maßstabe Wuchergeschäfte macht und sich auch mit andern Sachen befaßt. Mit dieser Frau Rößlich stand Herr Swidrigailow seit langer Zeit in sehr nahen, geheimnisvollen Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte, wenn ich mich recht besinne, eine Nichte, ein taubstummes Mädchen von fünfzehn oder auch nur vierzehn Jahren, auf die diese Frau Rößlich einen grenzenlosen Haß hatte; sie gönnte ihr keinen Bissen Brot und schlug sie sogar in unmenschlicher Weise. Eines Tages fand man dieses Mädchen auf dem Boden erhängt. Nach Ansicht der Gerichtskommission lag Selbstmord vor, und man hielt nach Erledigung der üblichen Formalitäten die Sache für abgetan. Aber später tauchte eine Denunziation auf, das Kind sei von Swidrigailow in grausamer Weise … entehrt worden. Allerdings war das alles sehr dunkel; die Denunziation rührte von einer andern Deutschen her, einem übel beleumundeten, wenig glaubwürdigen Frauenzimmer. Schließlich stellte sich dank den Bemühungen und Geldopfern Marfa Petrownas heraus, daß in Wirklichkeit gar keine Denunziation vorlag; es beschränkte sich alles auf ein Gerücht. Aber freilich war dieses Gerücht recht vielsagend. Sie, Awdotja Romanowna, haben gewiß in dem Swidrigailowschen Hause auch von der Geschichte mit dem Diener Filipp gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge der erlittenen Mißhandlungen starb.«
»Ich habe im Gegenteil