Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
Читать онлайн книгу.werden kann? Sie hat noch lange auf der Welt zu leben; da bedarf sie eines guten Namens.«
»›Was schere ich mich um die Meinung der Welt!‹ so muß sie denken! Sie muß sich bewußt sein, daß die größte Schande für sie in dieser Ehe besteht, gerade in der Verbindung mit diesen gemeinen Menschen, mit dieser jämmerlichen sogenannten vornehmen Welt. Edler Stolz, das muß die Antwort sein, die sie dieser Welt gibt. Dann werde auch ich mich vielleicht bereit finden lassen, ihr meine Hand zu reichen, und dann wollen wir einmal sehen, wer es wagen wird, mein Kind zu beschimpfen!«
Dieser sinnlose Idealismus setzte mich in Erstaunen. Aber ich merkte sofort, daß der alte Mann nicht ganz zurechnungsfähig war, sondern in fieberhafter Erregung sprach.
»Das ist zu ideal gedacht«, antwortete ich ihm, »und infolgedessen grausam. Sie verlangen von ihr eine Kraft, die Sie ihr vielleicht bei der Geburt nicht mitgegeben haben. Und willigt sie denn in diese Ehe etwa deswegen ein, weil sie Fürstin werden möchte? Sie liebt ja; das ist eine Leidenschaft, das ist ein Verhängnis. Und endlich: Sie fordern von ihr, sie solle die Meinung der Welt verachten; aber Sie selbst beugen sich vor dieser Meinung. Der Fürst hat Sie beleidigt, Sie öffentlich verdächtigt, als ob Sie niedrigerweise danach strebten, durch List mit seinem fürstlichen Haus verwandt zu werden, und da spekulieren Sie nun so: wenn Natascha selbst dem Fürsten und seinem Sohn nach deren förmlichem Antrag eine abschlägige Antwort erteilt, so wird das selbstverständlich die vollständigste, deutlichste Widerlegung der früheren Verleumdung sein. Das ist es, was Sie erreichen wollen; Sie beugen sich vor der Meinung des Fürsten selbst; Sie wollen es erreichen, daß er sich seines Irrtums bewußt werde. Es reizt Sie, ihn zu verhöhnen, sich an ihm zu rächen, und diesem Zweck bringen Sie das Glück Ihrer Tochter zum Opfer. Ist das etwa nicht Egoismus?«
Der Alte saß mürrisch und finster da und antwortete lange keine Silbe.
»Du bist ungerecht gegen mich, Wanja«, sagte er endlich, und eine Träne glänzte an seinen Wimpern. »Ich versichere dich, du bist ungerecht; aber lassen wir das! Ich kann nicht mein ganzes Herz vor dir ausschütten«, fuhr er fort, indem er sich erhob und nach seinem Hut griff; »ich will nur eins sagen: du sprachst soeben von dem Glück meiner Tochter. Ich glaube mit aller Entschiedenheit nicht an dieses Glück, ganz abgesehen davon, daß diese Ehe auch ohne mein Eingreifen niemals zustande kommen wird.«
»Wieso! Warum glauben Sie das? Wissen Sie vielleicht irgend etwas?« rief ich gespannt.
»Nein, ich weiß nichts Besonderes. Aber daß dieser verdammte Fuchs sich wirklich dazu sollte entschlossen haben, ist unmöglich. Das sind nur Redensarten, hinterlistige Ränke. Davon bin ich überzeugt; erinnere dich daran, daß ich es vorhergesagt habe! Zweitens, selbst wenn diese Ehe zustande käme (was nur möglich ist, wenn dieser Schurke dabei seine besondere, geheime, niemandem bekannte Spekulation hat und von dieser Ehe für sich einen Nutzen erhofft, eine Spekulation, die ich absolut nicht verstehe), dann überlege selbst und frage dein eigenes Herz: wird sie in dieser Ehe glücklich sein? Sie wird Vorwürfe und Demütigungen zu ertragen haben als Lebensgefährtin eines Jungen, der sich schon jetzt durch ihre Liebe belästigt fühlt und nach der Verheiratung sogleich anfangen wird, sie geringschätzig zu behandeln, sie zu kränken, sie zu erniedrigen; die Leidenschaft wird gleichzeitig auf ihrer Seite in demselben Maß an Kraft zunehmen, in welchem er selbst kühler werden wird; dann folgen Eifersucht, Qualen, ein Höllendasein, Scheidung, vielleicht kommt es sogar zum Verbrechen… Nein, Wanja, wenn ihr das ins Werk setzt und du dazu mithilfst, dann sage ich dir vorher: du wirst dich vor Gott deswegen zu verantworten haben; aber dann wird es zu spät sein! Leb wohl!«
Ich hielt ihn zurück.
»Hören Sie, Nikolai Sergejewitsch«, sagte ich, »machen wir es so: warten wir noch ein Weilchen! Seien Sie überzeugt, daß ich diese Sache nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen verfolge; und vielleicht wird sie auf die beste Art ganz von selbst ihre Lösung finden, ohne gewaltsame künstliche Mittel, wie zum Beispiel dieses Duell eins sein würde. Am besten überläßt man solche Entscheidungen der Zeit! Gestatten Sie mir aber zuletzt noch die Bemerkung, daß Ihr ganzes Projekt völlig unausführbar ist. Haben Sie denn wirklich auch nur einen Augenblick lang denken können, daß der Fürst Ihre Forderung annehmen wird?«
»Warum soll er sie nicht annehmen? Was redest du da? Komm zu dir!«
»Ich versichere Sie, er wird sie nicht annehmen; seien Sie überzeugt, er wird einen völlig ausreichenden Grund zur Ablehnung finden; er wird die Sache mit pedantischem Ernst behandeln, und Sie werden dabei Hohn und Spott ernten.«
»Aber ich bitte dich, lieber Freund, ich bitte dich! Du versetzt mich durch deine Bemerkung in das äußerste Erstaunen! Wie soll er denn die Forderung ablehnen? Nein, Wanja, du bist eben ein Dichter, ein richtiger Dichter! Was ist denn nach deiner Meinung dabei unpassend, wenn er sich mit mir schlägt? Ich bin nicht schlechter als er. Ich bin ein alter Mann, ein beleidigter Vater, du ein russischer Schriftsteller und daher ebenfalls eine achtbare Persönlichkeit und kannst Sekundant sein und… und… Ich verstehe nicht, was du noch mehr verlangst…«
»Nun, Sie werden ja sehen. Er wird solche Gründe vorbringen, daß Sie selbst der erste sein werden, der einen Zweikampf zwischen ihm und Ihnen für absolut unmöglich hält.«
»Hm!… Nun gut, lieber Freund; machen wir es, wie du gesagt hast! Ich werde warten, natürlich nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Wir wollen sehen, welche Wirkung die Zeit ausüben wird. Aber höre, mein Freund: gib mir dein Ehrenwort, daß du weder dort noch zu Anna Andrejewna etwas von unserem Gespräch sagen wirst!«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
»Zweitens, Wanja, tu mir den Gefallen und fang nie mehr mit mir von dieser Sache zu reden an!« »Gut, ich gebe mein Wort.«
»Und endlich noch eine Bitte: ich weiß, mein Lieber, es ist dir vielleicht bei uns langweilig; aber komm recht oft zu uns, wenn du irgend kannst! Meine arme Anna Andrejewna hat dich so gern, und … und … sie langweilt sich so ohne dich … du verstehst, Wanja?«
Ich drückte ihm kräftig die Hand. Ich versprach es ihm von ganzem Herzen.
»Und jetzt noch eine letzte, delikate Angelegenheit, Wanja: hast du Geld?«
»Geld?« wiederholte ich erstaunt. »Ja.« (Der alte Mann errötete und schlug die Augen nieder.) »Ich sehe so deine Wohnung, lieber Freund … und deine Verhältnisse … und da ich glaube, daß du vielleicht noch andere, besondere Ausgaben haben wirst (und gerade jetzt kann das vorkommen), so … hier, lieber Freund, sind hundertfünfzig Rubel für den ersten Bedarf…«
»Hundertfünfzig Rubel, und noch dazu für den ersten Bedarf, wo Sie doch selbst Ihren Prozeß verloren haben!«
»Wanja, wie ich sehe, verstehst du mich gar nicht! Du wirst vielleicht besondere Ausgaben haben; versteh das doch! In manchen Fällen verhilft Geld zu unabhängiger Lage und ermöglicht unabhängige Entschlüsse. Vielleicht brauchst du es augenblicklich nicht; aber kannst du wissen, ob du es nicht in Zukunft brauchen wirst? Jedenfalls möchte ich dir das Geld hierlassen. Es ist alles, was ich habe zusammenbringen können. Wenn du es nicht ausgibst, kannst du es mir ja nachher zurückgeben. Jetzt aber adieu! Mein Gott, wie blaß du aussiehst! Du bist ja ganz krank …«
Ich machte keine Einwendungen und nahm das Geld hin. Es war sehr klar, wozu er es mir übergab.
»Ich kann mich kaum auf den Beinen halten«, antwortete ich ihm.
»Vernachlässige deine Krankheit nicht, Wanjuscha, vernachlässige sie nicht! Geh heute nicht aus! Ich werde meiner Frau sagen, in welchem Zustand du dich befindest. Hast du nicht einen Arzt nötig? Morgen werde ich dich wieder besuchen; wenigstens werde ich mich aus allen Kräften bemühen, es zu tun, wenn ich nur selbst meine Beine schleppen kann. Aber jetzt solltest du dich hinlegen … Nun, adieu! Adieu, Kleine! Sie hat sich weggewendet! Hör mal, lieber Freund: da sind noch fünf Rubel; die sind für das kleine Mädchen. Sag ihr aber nicht, daß ich das gegeben habe, sondern verwende es so stillschweigend für sie, na, zu Schuhen, zu Wäsche … was braucht so ein Kind nicht alles! Adieu, mein Freund …« Ich begleitete ihn bis zur Haustür. Ich mußte den Hausknecht bitten, Essen zu holen. Jelena hatte noch nichts zu Mittag gegessen.
Elftes