Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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gerade einen Augenblick freie Zeit hatte, schon zu dir herfliegen, um dich in aller Eile zu küssen; aber auch da kam mir etwas dazwischen: Katja schickte zu mir, ich möchte in einer sehr wichtigen Angelegenheit unverzüglich zu ihr kommen. Das war noch vor der Zeit gewesen, als ich in der Droschke saß, Papa, und du mich sahst; damals fuhr ich schon zum zweitenmal, aus Anlaß eines zweiten Schreibens, zu Katja. Es laufen jetzt den ganzen Tag über zwischen uns Eilboten mit Briefchen von einem Haus zum andern. Iwan Petrowitsch, Ihr Billett habe ich erst gestern in der Nacht zu lesen bekommen, und Sie haben in allem, was Sie da geschrieben haben, vollkommen recht. Aber was war zu machen? Es war eben physisch unmöglich! Daher dachte ich: ›Morgen abend werde ich mich in allen Punkten rechtfertigen‹; denn heute abend mußte ich unter allen Umständen zu dir kommen, Natascha.«

      »Was war denn das für ein Billett?« fragte Natascha.

      »Er war bei mir, traf mich natürlich nicht zu Hause an und schalt mich in einem Billett, das er mir daließ, tüchtig dafür aus, daß ich nicht zu dir käme. Und er hat vollkommen recht. Das war gestern.«

      Natascha sah mich an.

      »Aber wenn du Zeit genug hattest, um vom Morgen bis zum Abend bei Katerina Fjodorowna zu sein…«, begann der Fürst.

      »Ich weiß, ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach ihn Aljoscha. »Du willst sagen: ›Wenn du bei Katja sein konntest, dann hattest du noch einmal soviel Grund, bei Natascha zu sein.‹ Ich stimme dir da vollständig bei und füge sogar von mir aus hinzu: nicht noch einmal soviel Grund, sondern tausendmal soviel Grund! Aber erstens gibt es seltsame, unerwartete Ereignisse im Leben, die alles in Verwirrung bringen und das Oberste zuunterst kehren. Nun, so etwas ist auch mir begegnet. Ich habe schon gesagt, daß ich mich in diesen Tagen vollständig verändert habe, vom Kopf bis zu den Füßen; es haben also wirklich wichtige Umstände vorgelegen!«

      »Ach mein Gott, was ist dir denn nun eigentlich begegnet? Bitte, martere mich nicht!« rief Natascha, über Aljoschas Eifer lächelnd.

      Er war tatsächlich ein bißchen komisch: er überhastete sich; die Worte fielen ihm schnell und ohne Ordnung aus dem Mund; sie polterten nur so heraus. Er wollte immerzu reden, reden, erzählen; aber während des Erzählens ließ er doch Nataschas Hand nicht los und führte sie unaufhörlich an die Lippen, wie wenn er sich gar nicht satt küssen könne.

      »Darum handelt es sich eben, was mir begegnet ist«, fuhr Aljoscha fort. »Ach, meine Freunde! Was habe ich alles gesehen, was habe ich alles getan, was für Leute habe ich kennengelernt! Erstens Katja: sie ist geradezu ein Ideal! Ich habe sie bisher gar nicht gekannt, aber auch gar nicht! Auch damals, am Dienstag, als ich mit dir von ihr sprach, Natascha (du erinnerst dich, ich redete noch von ihr mit solchem Entzücken), na, also auch damals kannte ich sie noch so gut wie gar nicht. Sie selbst suchte sich vor mir zu verbergen bis zur jetzigen Zeit. Aber jetzt haben wir einander vollständig kennengelernt. Wir duzen uns jetzt schon. Aber ich will von Anfang an erzählen: erstens, Natascha, wenn du nur hättest hören können, wie sie zu mir von dir gesprochen hat, als ich ihr am andern Tage, am Mittwoch, berichtete, was sich hier zwischen uns zugetragen hatte!… Apropos, da fällt mir ein, wie dumm ich mich gegen dich betragen habe, als ich damals, am Mittwochvormittag, zu dir kam! Du empfingst mich voll Entzücken und warst ganz erfüllt von unserer neuen Situation; du wolltest mit mir von all diesen Dingen reden; du warst traurig und scherztest und spaßtest dabei doch mit mir; ich aber wollte den ruhigen, gesetzten Mann spielen! O ich Dummkopf, ich Dummkopf! Ich wollte mich hervortun, damit prahlen, daß ich bald ein Ehemann, ein solider Mensch sein würde, und da mußte ich auch gerade auf dich verfallen, um dir diese Rolle vorzuspielen! Ach, wie hast du damals gewiß über mich gelacht, und wie sehr verdiente ich es, von dir ausgelacht zu werden!«

      Der Fürst saß schweigend da und blickte mit einer Art von triumphierendem, ironischem Lächeln Aljoscha an, gerade als freue er sich darüber, daß sein Sohn sich als ein so leichtsinniger, ja sogar komischer Mensch erwies. Diesen ganzen Abend beobachtete ich den Fürsten aufmerksam und gewann die feste Überzeugung, daß er seinen Sohn überhaupt nicht liebe, obgleich die Leute soviel von seiner warmen Vaterliebe sprachen.

      »Nach dem Besuch bei dir fuhr ich zu Katja«, fuhr Aljoscha in seiner Erzählung fort. »Ich habe schon gesagt, daß wir erst an diesem Morgen einander vollständig kennenlernten, und das ging in einer ganz merkwürdigen Weise zu… ich erinnere mich eigentlich gar nicht mehr, wie… Ein paar Worte voll warmen Gefühls, ein paar offen ausgesprochene Gedanken und Empfindungen, und wir waren uns fürs ganze Leben nahegetreten. Du mußt sie kennenlernen, Natascha, mußt sie unbedingt kennenlernen! Wie sie mir dein ganzes Wesen auseinandergesetzt und erläutert hat! Wie sie mir klargemacht hat, was für einen Schatz ich an dir besitze! Allmählich setzte sie mir alle ihre Ideen und ihre ganze Lebensanschauung auseinander; sie ist ein so ernstes, enthusiastisches Mädchen! Sie sprach von unserer Pflicht; von unserer Bestimmung, davon, daß wir alle der Menschheit dienen müßten, und da wir vollständig derselben Ansicht waren, wie sich in einem fünf-bis sechsstündigen Gespräch herausstellte, so endete es damit, daß wir uns geschworen haben, lebenslänglich Freunde zu sein und unser ganzes Leben lang zusammen zu wirken!«

      »Auf welchem Gebiet wollt ihr denn wirken?« fragte der Fürst verwundert.

      »Ich habe mich so verändert, Vater, daß dich dies alles natürlich in Erstaunen setzen muß; ich sehe sogar alle deine Einwände vorher«, antwortete Aljoscha triumphierend. »Ihr seid sämtlich Leute des praktischen Lebens; ihr habt eine Menge der Erfahrung entstammender ernster, strenger Grundsätze; auf alles Neue, Junge, Frische jedoch blickt ihr mißtrauisch, feindselig und spöttisch herab. Aber jetzt bin ich nicht mehr der, als den du mich noch vor wenigen Tagen gekannt hast. Ich bin ein anderer geworden! Ich blicke allem und allen in der Welt kühn in die Augen. Wenn ich weiß, daß meine Überzeugung die richtige ist, dann bleibe ich ihr treu bis zum Äußersten; und wenn ich nicht vom rechten Wege abirre, dann bin ich ein ehrenhafter Mensch. Das genügt mir. Dann mögt ihr andern reden, was ihr wollt, ich bin meiner Sache sicher.«

      »Oho!« sagte der Fürst spöttisch.

      Natascha blickte bald mich, bald den Fürsten beunruhigt an. Sie fürchtete für Aljoscha. Es begegnete ihm oft, daß er, sehr wenig zu seinem Vorteil, sich im Gespräch hinreißen ließ, und sie wußte das. Sie wollte nicht, daß Aljoscha sich vor uns, und namentlich vor seinem Vater, in einem komischen Licht zeige.

      »Was redest du nur, Aljoscha! Das ist ja schon sozusagen Philosophie«, sagte sie; »das hat dich gewiß jemand gelehrt. Du solltest lieber erzählen.«

      »Aber ich bin ja mitten im Erzählen!« rief Aljoscha. »Siehst du: Katja hat zwei entfernte Verwandte, eine Art von Vettern, Lew und Boris; der eine ist Student und der andere einfach ein junger Mann. Sie unterhält mit ihnen Beziehungen, und das sind geradezu hervorragende Geister! Bei der Gräfin lassen sie sich fast gar nicht blicken, aus Grundsatz. Als ich mit Katja von der Bestimmung des Menschen, von seiner Berufung und all dergleichen sprach, wies sie mich auf diese jungen Männer hin und gab mir sofort ein Empfehlungsschreiben an sie; ich eilte unverzüglich zu ihnen, um ihre Bekanntschaft zu machen. Gleich an demselben Abend wurden wir ein Herz und eine Seele. Es waren da ungefähr zwölf Personen von verschiedener Lebensstellung: Studenten, Offiziere, Künstler; auch ein Schriftsteller war dabei; sie kennen Sie, Iwan Petrowitsch, das heißt, sie haben Ihre Schriften gelesen, und erwarten in der Zukunft viel von Ihnen. Das haben sie mir selbst gesagt. Ich sagte ihnen, daß ich mit Ihnen bekannt sei, und versprach ihnen, Sie mit ihnen bekannt zu machen. Sie nahmen mich alle brüderlich mit offenen Armen auf. Ich sagte ihnen gleich von vornherein, daß ich mich bald verheiraten werde; und daher behandelten sie mich schon wie einen Ehemann. Sie wohnen meist im fünften Stock, unter dem Dach, und kommen möglichst oft zusammen, vorzugsweise mittwochs bei Lew und Boris. Es sind lauter frische, junge Menschen, sämtlich von glühender Liebe zur ganzen Menschheit erfüllt; wir sprachen alle von unserer Gegenwart, von unserer Zukunft, von den Wissenschaften, von der Literatur, und es wurde so schön, so offen und schlicht geredet! Auch ein Gymnasiast kommt hin. Wie hübsch sie miteinander verkehren, und was für eine edle, vornehme Denkweise sie haben! Ich habe solche Menschen noch nie kennengelernt! In welchen Kreisen habe ich denn auch bisher verkehrt? Was habe ich zu sehen bekommen? In welcher Umgebung bin ich aufgewachsen? Du, Natascha, bist die einzige, die mit mir von solchen Dingen gesprochen hat. Ach, Natascha, du mußt


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