Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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möchte ich nicht sagen«, erwiderte sie lächelnd und wieder mit dem Ausdruck der Verschämtheit.

      Wir sprachen auf der Schwelle, an der geöffneten Tür. Nelly stand vor mir mit niedergeschlagenen Augen; mit der einen Hand hielt sie mich an der Schulter gefaßt, mit der andern zupfte sie am Ärmel meines Rockes.

      »Nun? Ist es ein Geheimnis?« fragte ich.

      »Nein … das nicht gerade … ich … ich habe, während Sie fort waren, angefangen, Ihr Buch zu lesen«, sagte sie halblaut; sie hob die Augen in die Höhe, richtete einen zärtlichen, fragenden Blick auf mich und errötete über das ganze Gesicht.

      »Ah, sieh mal an! Nun, gefällt es dir?«

      Ich empfand die Verlegenheit eines Autors, der ins Gesicht gelobt wird; aber ich hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn ich sie in diesem Augenblick hätte küssen können. Aber das war eben nicht möglich. Nelly schwieg einen Augenblick.

      »Warum, warum ist er gestorben?« fragte sie mit tieftraurigem Gesicht, indem sie mir einen hastigen Blick zuwarf und schnell wieder die Augen niederschlug.

      »Wer denn?«

      »Nun er, der junge Mann, an der Schwindsucht … in dem Buch?«

      »Was war zu machen? Es war notwendig, Nelly.«

      »Nein, es war durchaus nicht notwendig«, antwortete sie leise, fast flüsternd; aber sie stieß die Worte schroff, beinahe ärgerlich heraus, warf die Lippen auf und richtete die Augen noch hartnäckiger auf den Fußboden.

      So verging noch eine Minute.

      »Aber die beiden andern … das Mädchen und der alte Mann«, flüsterte sie, während sie immer stärker an meinem Ärmel herumzupfte, »werden die nun zusammenleben? Und werden sie nicht so arm bleiben?«

      »Nein, Nelly; sie zieht weit fort und heiratet einen Gutsbesitzer; er aber bleibt allein zurück«, antwortete ich mit größtem Bedauern; es tat mir wirklich leid, daß ich ihr nichts Tröstlicheres sagen konnte.

      »Ach, Herrgott … das ist ja schrecklich! Ach, wie Sie aber auch sind! … Nun will ich gar nicht weiterlesen!«

      Ärgerlich stieß sie meinen Arm von sich, wandte sich schnell von mir ab, ging zum Tisch und blieb dort stehen, mit dem Gesicht nach der Zimmerecke zu, die Augen auf den Boden geheftet. Sie war dunkelrot geworden und atmete ungleichmäßig, wie wenn jemand sie furchtbar gekränkt hätte. »Laß gut sein, Nelly; du bist ja ganz böse geworden!« begann ich, zu ihr tretend. »Das ist ja alles nicht wahr, was da geschrieben steht … nur ausgesonnen; na, was gibt es da böse zu sein! Was bist du für ein empfindsames Mädchen!«

      »Ich bin nicht böse«, sagte sie schüchtern und sah mit einem hellen, liebevollen Blick zu mir auf; dann ergriff sie plötzlich meine Hand, drückte ihr Gesicht an meine Brust und fing an zu weinen.

      Aber im selben Augenblick lachte sie auch auf: sie weinte und lachte, alles zugleich. Ich verspürte ebenfalls sowohl Lachlust als auch … ein Art von süßem Gefühl. Aber sie wollte um keinen Preis ihren Kopf zu mir in die Höhe heben, und als ich mich anschickte, ihr Gesichtchen von meiner Schulter loszulösen, schmiegte sie sich immer fester und fester daran an und lachte immer stärker.

      Endlich endete diese empfindsame Szene. Wir nahmen voneinander Abschied; ich eilte davon. Nelly, deren Gesicht ganz von roter Glut übergossen war und immer noch den Ausdruck der Verschämtheit trug und deren Augen wie Sterne leuchteten, lief mir bis auf die Treppe nach und bat mich, recht bald wieder nach Hause zu kommen. Ich versprach, jedenfalls zum Mittagessen zurück zu sein und, wenn es ginge, noch früher.

      Zuerst ging ich zu den beiden alten Leuten. Sie waren beide unpäßlich. Anna Andrejewna war geradezu krank; Nikolai Sergejewitsch befand sich in seinem Zimmer. Er hatte gehört, daß ich gekommen war; aber ich wußte, daß er nach seiner Gewohnheit, um uns Zeit zur Aussprache zu lassen, erst nach einer Viertelstunde zu uns hereinkommen werde. Ich wollte Anna Andrejewna nicht zu sehr aufregen und schwächte darum meinen Bericht über den gestrigen Abend nach Möglichkeit ab, sagte aber doch die Wahrheit; zu meiner Verwunderung nahm aber die alte Frau, wenn sie auch betrübt wurde, doch die Nachricht von einem möglichen Bruch ohne Erstaunen auf.

      »Na, lieber Freund, das hatte ich mir schon gedacht«, sagte sie. »Als du damals weggegangen warst, habe ich lange über die Sache nachgedacht und kam zu dem Resultat, daß nichts daraus werden kann. Wir haben es nicht verdient, daß uns Gott eine solche Wohltat erweist; und dann ist das auch ein so gemeiner Mensch; kann man etwa von dem etwas Gutes erwarten? Es ist kein Spaß, daß er uns zehntausend Rubel wegnimmt, die ihm nicht zukommen; er weiß, daß sie ihm nicht zukommen, und nimmt sie uns dennoch weg. Unser letztes Stück Brot raubt er uns; Ichmenewka wird verkauft. Natascha handelt nur gerecht und klug, daß sie ihm nicht getraut hat. Und noch eins, lieber Freund«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, »mein Mann, mein Mann! Er ist durchaus gegen diese Heirat. Er ließ so ein Wort fallen: ›Ich will es nicht‹, sagte er. Ich dachte anfangs, das wäre nur so eine Kaprice von ihm; aber nein, es ist ihm ganz Ernst damit. Was würde dann aus meinem Töchterchen werden? Er würde sie ja ganz und gar verfluchen. Na, und er, dieser Aljoscha, wie stellt er sich dazu?«

      Noch lange fragte sie mich aus und stöhnte und wehklagte nach ihrer Gewohnheit bei jeder meiner Antworten. Überhaupt hatte ich bemerkt, daß sie in der letzten Zeit ganz haltlos geworden war. Jede Nachricht erschütterte sie. Der Kummer um Natascha nagte ihr am Herzen und untergrub ihre Gesundheit.

      Der Alte kam herein, in Schlafrock und Pantoffeln; er klagte über Fieber, sah aber seine Frau zärtlich an, sorgte die ganze Zeit über, während ich bei ihnen war, wie eine Wärterin für sie, blickte ihr in die Augen und wurde sogar vor ihr verlegen. Eine große Zärtlichkeit lag in seinen Blicken. Er war in Angst über ihre Krankheit; er fühlte, daß er alles im Leben verlieren würde, wenn er sie verlöre.

      Ich saß bei ihnen ungefähr eine Stunde lang. Beim Abschied kam er mir bis ins Vorzimmer nach und begann von Nelly zu reden. Er dachte ernstlich daran, sie als Tochter zu sich ins Haus zu nehmen. Er wollte mich um Rat fragen, wie man Anna Andrejewna diesem Plan geneigt machen könne. Mit besonderem Interesse befragte er mich über Nelly, und ob ich über sie noch nichts Neues gehört hätte. Ich erzählte ihm in Kürze das Geschehene. Meine Erzählung machte auf ihn einen großen Eindruck.

      »Wir reden noch darüber«, sagte er in resolutem Ton; »inzwischen aber … übrigens werde ich selbst zu dir kommen, sobald sich nur meine Gesundheit ein bißchen gebessert haben wird. Dann wollen wir unsere Entscheidung treffen.«

      Punkt zwölf war ich bei Masslobojew. Die erste Person, die ich erblickte, als ich bei ihm eintrat, war zu meinem größten Erstaunen der Fürst. Er zog sich im Vorzimmer den Mantel an; Masslobojew half ihm geschäftig dabei und reichte ihm seinen Stock hin. Er hatte mir gegenüber schon seiner Bekanntschaft mit dem Fürsten Erwähnung getan; aber doch überraschte mich diese Begegnung außerordentlich.

      Der Fürst schien verlegen zu werden, als er mich erblickte.

      »Ah, Sie sind es!« rief er mit übertriebener Herzlichkeit. »Nun sehen Sie, was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Übrigens hatte ich soeben schon von Herrn Masslobojew erfahren, daß Sie mit ihm bekannt sind. Ich freue mich, freue mich außerordentlich, Sie getroffen zu haben; ich habe den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen, und gedenke, so bald wie möglich einmal zu Ihnen zu kommen; Sie erlauben es mir doch? Ich habe eine Bitte an Sie: helfen Sie mir; erklären Sie mir unsere jetzige Situation! Sie verstehen gewiß, daß ich von den gestrigen Vorgängen rede. Sie sind dort befreundet; Sie haben den ganzen Gang dieser Angelegenheit verfolgt; Sie haben Einfluß … Ich bedaure außerordentlich, daß ich mich nicht gleich jetzt mit Ihnen unterreden kann … Geschäfte! Aber in einigen Tagen, und vielleicht sogar schon früher, werde ich mir das Vergnügen machen, Sie zu besuchen. Jetzt aber …«

      Er drückte mir gar zu innig die Hand, wechselte mit Masslobojew einen Blick und ging hinaus.

      »Sage mir um Gottes willen …« begann ich, indem ich ins Zimmer trat.

      »Nichts, gar nichts werde ich dir sagen«, unterbrach mich Masslobojew, der eilig nach seiner Mütze griff und sich nach dem Vorzimmer zu wandte. »Bin geschäftlich


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